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Achtes Kapitel

 

1

Die neue Ära, in der eine christliche Nation der Welt zeigen sollte, wie jämmerlich sie das ihr anvertraute Gut verwaltet hatte, begann hier in der Stadt damit, daß vier junge Männer mit dem Revolver in der Hand in eins der städtischen Krankenhäuser eindrangen und sich Zugang zu zwei Zimmern verschafften, wo vier von der englischen Gendarmerie zurückgelassene Leute mit dem Tode rangen. Die Helden feuerten ihre Trommeln leer, und als sie flüchteten, lagen die Männer vollkommen ausgeblutet in ihren Betten, und das Bild, das die beiden Zimmer boten, ließ sich nur mit dem eines Schlachthauses vergleichen.

Bei dieser Tat war Barney dabei, und das bekam ihm übel.

 

2

Dieser Mord, von keiner irdischen Gerechtigkeit je gesühnt, geschah am achtzehnten März, dem Tage nach dem St.-Patricks-Tag, an dem die Ankunft des Volksapostels in Irland gefeiert wird. Die Tat war sorgsam unter Feststellung der Zimmerlage, der ungehinderten Zugangsmöglichkeit, der Gewohnheiten des Personals und alles sonst Nötigen vorbereitet worden; und nachdem man über diese Dinge einmal Bescheid wußte, brauchte man nichts andres mehr zu tun, als hineinzuspazieren und die Revolver abzudrücken.

Der Plan war schon eine Woche zuvor, also um die Zeit kurz vor dem Abmarsch der britischen Streitkräfte, gefaßt worden, und die einzige Entschuldigung für Barney – mag sie auch noch so dürftig sein – bedeutete es, daß er mit seiner Beteiligung nicht ganz einverstanden war. Die Idee dazu mußte dem nicht grade zartfühlenden Roddie gekommen sein, dessen Tatkraft ihm nicht erlaubte, mehrere Tage hintereinander untätig zu sein. Er hatte Barney ausführlich erklärt, wie heilsam es wäre, diesen Leuten jetzt eine Lehre zu geben, wo von ihren Kameraden keine Rache mehr zu befürchten war. Was Barney schließlich zum Mitgehen bestimmte, war die Tatsache, daß zwei von diesen Leuten seinerzeit mit dabei gewesen waren, als die Engländer das Haus seiner Mutter geplündert und ihn und seinen Bruder auf die nächtliche Fahrt mitgenommen hatten. Zwar kam Peadar Phelans Tod und der Auftritt zwischen Peadar und Roddie dem Plan in die Quere, aber es gehörte nicht zu den Gewohnheiten Jung-Irlands, irgendwas aus sentimentalen Gründen zu verschieben, wenn sonst nichts im Wege stand. So erschien denn Roddie, wie vereinbart, und holte Barney nebst zwei Dutzend Bündeln Treibhausrhabarber um die Dämmerstunde ab, die am achtzehnten März ja nicht mehr so sehr früh einfällt. Der Rhabarber wurde gehörigen Ortes abgeliefert, und statt dessen versah man sich in Roddies Wohnung mit ein paar Revolvern und begab sich unverweilt zum Krankenhaus, wo zwei Genossen schon warteten. Mit weißen Larven vorm Gesicht und Revolvern in der Hand rannten sie zur offenen Tür hinein, und Roddie und einer von den beiden Mitverschworenen betraten dann den mit der Zimmernummer siebzehn versehenen Raum. Der andere von den beiden Helfern stand am Haupteingang Wache und Barney vor Nummer siebzehn.

Was eigentlich vorging, wurde Barney erst richtig klar, als er aus dem Krankenzimmer Stimmen vernahm. Wer die Methoden der «Meergrünen» halbwegs kannte, für den konnte es nicht zweifelhaft sein, daß Roddie und sein Kamerad jetzt das Lokal durchsuchten – unter den Betten, hinter den Kopfkissen …

Die erste Stimme, die auf den Flur herausdrang, gehörte Roddie. «Halts Maul!» sagte er.

(«Was man unter vier Augen zugibt, kann man ja unter sechs wieder leugnen!» sagte er später zu Barney. «Und du hältst jedenfalls das Maul! Es lebe die Republik!» Und später einmal meinte er: «Ein Mann kann nicht den Kopf zugleich voll Hühnern und voll Revolution haben!» In Roddies Hühnerhirn hatte nur die Revolution Platz.)

«Halts Maul!» sagte er. «Raus mit den Pfoten unterm Federbett!»

Barney hatte ein Gefühl, als klammerten die Zimmer sich krampfhaft an den Flur.

«Wer von euch ist Sergeant Peter Flaherty?»

Eine verschwommene Stimme antwortete nach einer Weile: «Ich!»

Darauf fragte Roddie weiter: «Und wer ist Sergeant Matthew Flood?»

«Hier!»

«Sehr schön!» sagte Roddie.

Und dann kam ein Schrei wie aus den Flammen der Hölle. «Du wirst doch nicht …!» Im gleichen Augenblick krachte der erste Schuß. In den nächsten aber mischte sich schon der Knall des zweiten Revolvers, und was man sonst noch hörte, war, wenn auch nicht unbeschreibbar, so doch für die Beschreibung nicht geeignet.

Roddie und sein Kamerad stürzten aus dem Zimmer und in das anstoßende hinein. Weiterhin im Gebäude war es noch verhältnismäßig ruhig. Nur allerhand verworrene Laute drangen an Barneys Ohr. Durch das alles aber klang schneidend der höhnische Ruf Roddies: «O du mein himmlischer Affenschwanz! Es lebe die Republik!»

Die zweite Salve krachte noch schrecklicher als die erste, und die vier Polizisten waren auf der Stelle tot. Die Ärzte waren aber überzeugt, daß sie auch sonst auf keinen Fall die Woche überlebt hätten.

 

3

Wenn robuste Leute das als Entschuldigung gelten lassen wollen, so ließe sich sagen, daß diese Tat nur eine unter vielen hundert ähnlichen war; und das trifft ohne Zweifel zu. Barney freilich vermochte sie nicht ganz als alltägliches Ereignis hinzunehmen. Roddie aber war aus einem ganz andern Stoff gemacht. So geschah es einen Monat später, daß seine Kameraden ein Kind ums Leben brachten, irrtümlich, was in ihren Augen ja stets eine glänzende Entschuldigung war. Infolgedessen erscheint heute noch jährlich am 26. April in der örtlichen Zeitung folgende Anzeige:

 

Zum ewigen Gedächtnis an unser geliebtes Kind
Bridget Murphy,
grausam ermordet am 28. April 1922.
Widmet ihr ein Gebet in Liebe
und eine Träne stummer Trauer!

 

Eine Kugel war in der falschen Richtung geflogen, und Roddie sagte mit der gewohnten Gleichgültigkeit der «Meergrünen»: «Verflucht bedauerlich das!»

Barney konnte das nicht so gleichgültig nehmen. Als sie vom Tatort flüchteten und in einem wohlüberlegten Bogen um die Stadt herumfuhren, saß er schweigend und wie versteinert in einer Ecke des Wagens. Als sie vor Roddies Haus hielten, um sich der Revolver zu entledigen, schwieg er immer noch. Und als sie vor Onkel Toms Hütte vorfuhren, hatte er noch kein Wort gesagt.

Als sie dann hinter dem Glase saßen, fragte er: «Was wird die Kirche dazu sagen?»

«Es verurteilen … und beklagen!» entgegnete Roddie. «Und wir, wir schwätzen nicht aus der Schule!»

Das taten sie denn auch nicht.

Als Barney heimkam, verfiel er sofort in den Schlaf, der der Überlieferung nach dem Gerechten zuteil wird, in Wirklichkeit aber allen gesunden Burschen hold zu sein scheint.

 

4

Obwohl die Stadt allerhand gewohnt war, erklärte man den Mord an den Sergeanten doch für ein starkes Stück. Und ganz unschuldigerweise bekam Kitty Scherereien deswegen. Herr Holden drehte sich auf seinem Kontorstuhl nach ihr um und sagte: «Jetzt geht das aber schon etwas zu weit! Da kommt ja unsere Stadt in einen reizenden Ruf rings im Land … und draußen auch! Weißt du, wer von euren Burschen das getan hat?»

Kitty stemmte die eine Hand in die Seite, die andre focht mit ihrem Füllfederhalter wie mit einem Zeigestab in der Luft herum. «Du wirst wohl nicht sagen wollen, daß ich rumgeh und die Leute niederknall?!»

«Nein, aber es müßte doch merkwürdig zugehn, wenn du keine Ahnung hättest!»

«Du verlangst doch wohl nicht, daß ich meine Ahnungen mit dir teile!» entgegnete sie gekränkt. «Besorg dir deine eignen Ahnungen!»

«Aber ihr ruiniert ja das ganze Geschäft. Die Frühjahrssaison ist bald rum, und wieviel haben wir verkauft? Alles tot, und höchste Zeit, daß wieder bißchen Leben in die Bude kommt.»

«Was soll das heißen: wir ruinieren das Geschäft? Kann man's verhindern, daß einer oder der andere Amok läuft?»

Fräulein Quinn, ein schon älteres Mädchen unter den Führerinnen des Frauenbundes, meinte ganz harmlos: «Kitty könnte uns sicher einiges darüber erzählen, wer mit dabei war – oder nicht, Kitty?»

«Hör auf damit!» entgegnete Kitty. «Ich weiß nicht mehr davon als du. Das soll nur der Stadtkommandant rausbringen!»

Fräulein Quinn war in den letzten paar Jahren sehr irisch geworden. Ihre Briefe begann sie mit « A Chara» und schloß sie mit « Mise», und diese Ausdrücke standen vorn und hinten wie zwei Schildwachen und bürgten dafür, daß sich kein Satz einschleichen konnte, der nicht von Republikanismus und Haß gegen England förmlich durchglüht war.

«Der Stadtkommandant?» sagte sie achselzuckend. «Den wickeln die ja ein, daß er nicht mehr die Hand vor Augen sieht. Er ist ja auch gar nicht scharf drauf, sich mit den Meergrünen zu überwerfen. Er wäre ja so zufrieden, wenn er genau wüßte, wie lange er noch im Amt bleibt.»

«Na ja!» sagte Kitty erleichtert. «Ich bin nicht Polizeichef, noch sonst was Polizeiliches. Im übrigen weiß man bald überhaupt nicht mehr, an wen man sich hierzuland halten soll. Und was die Sergeanten betrifft, so wären die ja keinesfalls am Leben geblieben …»

«Dann ist ja das Ganze gar nicht so schlimm …»

«Sinnlos, überhaupt soviel Aufhebens davon zu machen!»

«Na, das weiß ich nun nicht!»

«Genau so sinnlos, wie wenn die Amerikaner per Flugzeug ärztliche Spezialisten ranholen, um das Leben von zum Tode Verurteilten zu retten.»

«Das finden wir!» bemerkte Fräulein Quinn und zündete sich eine Zigarette an.

Kitty hatte aus manchen Gründen keine Lust zu einer ausgedehnten Debatte gehabt. Erstens litt sie an einer lästigen Heiserkeit, derentwegen sie etwas spät, nämlich erst im Februar, droben bei den Franziskanern in der Adam- und Evakirche zu Dublin gewesen war, um St. Blasii Halssegen mit zu empfangen. Aber das hatte nichts geholfen, und so kümmerte sie sich nicht mehr darum. Ein andrer Grund für ihre Zurückhaltung war der leise Verdacht, daß am Ende Barney und Roddie im Krankenhaus mit dabei gewesen sein könnten. Bei Peadar Phelans Begräbnis war keine Gelegenheit gewesen, sich zu erkundigen, und bei Licht besehen konnte es einem schließlich nur angenehm sein, wenn man nichts mit der Sache zu tun hatte. Am Tag nach der Beerdigung aber waren Barney und Roddie nach Dublin gefahren, wo letzterer sich selber ein Urteil darüber bilden wollte, ob die Zeit schon reif für eine Umwälzung in der Leitung der örtlichen Garnisonen sei. Barney fuhr mit, weil es ihm bei seinem letzten Besuch in der Stadt so gewesen war, als ob die Polizisten ihn forschend musterten; aber schließlich waren es doch seine alten Kameraden, und da hätte es schon ganz toll zugehen müssen, ehe die mit ihren Andeutungen derber wurden.

 

5

Geladen mit Eindrücken kehrten sie zurück, und obwohl sie sich darüber im klaren waren, daß der Aufschub nur eine Frage von Stunden sein konnte, wurde erst einige Tage später etwas Revolutionäres unternommen. Als Barney Kitty traf, wußte er eine Menge von den Häusern in der Grafton- und O'Connelstraße zu berichten, von wunderbaren Läden und von einer Messe, der er im Dom beigewohnt hatte. Es ist ja bekannt, daß die Liverpooler (wenn sie nicht Irländer sind, wie viele von ihnen) «Altes dreckiges Dublin» übers Wasser hinüberrufen, worauf die Dubliner freundlich mit einem «Lausiges Liverpool» erwidern. Aber einerlei, wieviel diesen Anwürfen in Wahrheit zugrunde liegt – jeder Irländer ist doch sehr stolz auf seine Landeshauptstadt, stolzer als die meisten Nationen auf die ihre. Erzähl ihm nicht von Slums und andern unangenehmen Dingen, sondern frag ihn lieber, ob er Sam X.s Wirtshaus in der Trinitystraße kennt oder das von Ned Y. am Stephansanger. Ohne weitere Einladung wird er dir ausführlich von seinen Erlebnissen dort berichten, unter reichlicher Einflechtung von Pferdenamen, deren Träger ihm in jenen Lokalen als aussichtsreich verraten worden sind.

Erst nachdem man seine zahlreichen Eindrücke von Dublin ausgetauscht hatte, sagte Kitty so obenhin: «Die Krankenhausaffäre haben sie jetzt ja glücklich eingepökelt.»

Er widerstand der Versuchung, zu fragen: Welche? Denn gewisse Dinge sind am besten in Mittelgröße. Heilbutt zum Beispiel. Und Unschuld. Unschuld, die nur so tut, als ob, auf jeden Fall. Darum antwortete er: «War wohl zu erwarten, nicht?»

«Zu hoffen», verbesserte sie.

«Gestorben wären sie auch so!» bemerkte er. «Dann hätte man ohnehin einen Strich drunter machen können. Bis in alle Ewigkeit Rache nehmen, ist auch nicht das Richtige!»

«Hätten sich die Leute, die die Sache gemacht haben, das nur früher gesagt!»

«Ich glaub, das Ganze war unüberlegt. Vielleicht hatten sie noch persönlich ein Hühnchen mit ihnen zu pflücken.»

«Bloß einer davon!» sagte sie. «Aber geht man denn hin und schießt auf Leute, die im Sterben liegen?»

«Öfter tu ich so was auch nicht!» sagte er fest.

«Paß auf, daß du nicht einen bösen Geist an deiner Seite hast, eh du es ahnst!»

«Was ich tu, kann ich selber verantworten!» gab er abweisend zurück. «Und ich hab ja immer einen guten Geist an meiner Seite!» Er schlug mit der Hand nach ihr.

«Ich fürcht nur, die beiden letzten Jahre haben mich fürs Geisterfach etwas zu anrüchig gemacht!» entgegnete sie. «Aber sag mir ehrlich: habt ihr ihnen Zeit zu einem Gebet gelassen, bevor ihr sie abknalltet?»

Er versicherte ihr das mit großer Wärme.

«Eine von den Krankenschwestern sagt: Nein.»

«Da weiß sie doch gar nichts davon.»

«Schön! Ich möchte nämlich hier nicht großartig als Moralprediger auftreten … Ich hab euch ja auch nie aufgefordert, schonend gegen sie vorzugehen. Aber ich bin auch nicht so verroht, daß es mir gleichgültig wäre, ob die Kirche zwischen uns steht, wenn wir Freunde werden wollen.»

«Und das wollen wir doch!?»

«Hängt ganz von dir ab, mein Junge! Gehst du mit den Meergrünen oder mit den Regulären?»

«Schwer, da eine Entscheidung zu treffen. Manchmal muß ich an Bombays Behauptung denken, daß de Valera die Republik gar nicht ausrufen ließe, selbst wenn er morgen an die Macht käme. Sollen wir da hingehen und Irländer totschlagen, nur damit sein Ehrgeiz zufriedengestellt wird?»

Sie gab ihm die Hand auf die ungekünstelte Art, wie sie bei gutem kameradschaftlichen Verkehr zwischen den Geschlechtern der Brauch ist, und sagte: «Wart jedenfalls damit, noch mehr Leute kaltzumachen, bis wir uns ganz klar darüber sind, ob die Politik des Spaniers so viel besser ist als die von Collins, daß es das Blutvergießen verlohnt!»


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