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Wenn das Frühjahr herankommt, beginnt ein großes Sterben unter den Alten, den Müden, die ihres Lebens überdrüssig sind und sich doch nicht so leicht davon trennen. Wogegen der Herbst vergebens Sturm lief und was der Winter entkräftet hat, das wendet sich noch einmal der Sonne zu und zerbricht dann, von den starken Armen des Lichtes und der Frühjahrslüfte umfangen. Keiner aber wünscht sich das anders, und niemand trauert lange darum, daß nun der Stuhl des alten Peadar Phelan leer steht, niemand macht sich unnütz Gedanken darüber, wie man das Unabwendbare abwenden könnte.
Und in Irland! Im Frühjahr, als Schwärme von schwarzen Vögeln mit schrillen und dumpfen Schreien unter den Sternen ihre Bahn zogen, «schwimmend auf den weißen Fluten, die alles tragen», wurden junge Männer – oft noch Knaben an der Schwelle des Lebens –, weiß wie die Blumen in der Frühjahrsnacht, auf die Bahre gelegt, die ihr letztes Lager sein sollte, und Haus um Haus konnte einstimmen in den trüben Sang von den «Schritten, die niemals wiederkehren». Tausende aber baten tagtäglich die Männer, die die Verantwortung dafür trugen, inständig um Erbarmen mit dem mißhandelten Volk. Bekamen sie aber einmal eine Antwort darauf, dann wurde ihnen nüchtern gesagt, man müßte die Spreu vom Weizen sondern, solange der Wind ginge, oder es wurde ihnen – aus dem Munde Meaghers – die Versicherung zuteil, daß der Nebel, der aus den Wiesen steigt, die Sonne wohl verhüllen, nie aber verschlingen könnte. Solche und andre Worte, deren Leben längst ausgebrannt war, wurden wieder hervorgeholt und schön geschminkt vor sie hingestellt.
Den Hungernden im Volke aber sagte man: «Euch bei Lebzeiten Brot geben können wir nicht, aber eine Gewehrsalve über euerm Grab sollt ihr jedes Jahr haben, genau wie Wolfe Tone und die andern.» Aber immer wieder gab es kleine, ärmliche Seelen, die lieber Brot wollten. Das ärgerte Fräulein Quinn. Fräulein Quinn, die Führerin des örtlichen Frauenkorps, war herrlich – keine Spur von schön mit ihren sechsundvierzig Jahren und ihrer Brille auf der Nase, eine Dame mit einem Baß, einer schön kohlschwarzen Stimme, die an das surrende Brummen im Telephon gemahnte. Sie schleppte Kitty in eine der paar empfehlenswerten Gaststätten der Stadt mit und hielt ihr eine Predigt, während sie ihr Brot in die Suppe brockte, dann den Löffel am äußersten Stielende faßte und zu essen begann.
«Der Weg zur Höhe ist nie asphaltiert!» bemerkte sie und lächelte. «Bacon hat zwar ganz richtig gesagt, daß Wissen Macht ist, aber Flinten sind auch Macht, und zu bestimmten Zeiten sind sie die stärkste Macht. Ich persönlich hatte ja gehofft, das würde sich vermeiden lassen, aber nun hat meine Hoffnung auf eigene Faust eine wohlgelungene Abmagerungskur angefangen. Und so müssen wir jetzt von unserm Einfluß Gebrauch machen, soviel wie nur möglich!»
«Du hast es leicht!» meinte Kitty. «Du kannst einem Esel ein Hinterbein wegreden!»
«Ihr habt das, was mehr wert ist!» entgegnete Fräulein Quinn und nickte bedeutungsvoll mit dem Kopf. «Wenn jede von euch nur einen Jungen in Feuer halten kann, steht es nicht schlecht! Denn wenn wir auch nicht in der Mehrzahl sind, weder heute noch morgen, sind wir gegenüber den irischen Verrätern doch stärker, als wir es gegenüber den Engländern waren.» Und dabei schoß ihr die Zunge aus dem Mund wie eine Eidechse aus ihrem Loch, und sie blickte Kitty erwartungsvoll an.
Die sah aber nicht grade begeistert aus und machte aus ihrer Meinung auch kein Hehl. «In meinen Augen erinnern die Meergrünen an eine Biene, die ins Freie möchte und wie verrückt an einer Fensterscheibe auf und nieder fährt, während daneben das Fenster sperrangelweit offen steht. Paß mal auf, Quinn: die meisten von uns glaubten bis vor kurzem, daß wir nun endlich aus dem Dickicht raus in den Klee kommen würden, aber jetzt sieht es ganz so aus, als ob wir was andres zu sehn kriegen sollten …»
«Das ist auch nur eine Frage der Zeit! Das kommt so sicher, wie morgen die Sonne aufgeht! Jetzt geht's um die Zukunft Irlands. Jetzt oder nie!»
«Das glaub ich nicht. Im Gegenteil: die Milch muß sich setzen, bevor wir sie abrahmen können. Ich hab mit vielen darüber gesprochen, und sie alle haben es gründlich satt, daß alle Möglichkeiten ihrer Jugend kaputt geschlagen werden …»
«Um so schlimmer für sie!» bemerkte Fräulein Quinn. «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns! Das kannst du auch deinem Freund Barney mit einem Gruß von mir sagen. Unsere Helden haben nicht jahrhundertelang ihr Leben geopfert, damit uns die Vorsichtsmeier jetzt vor dem Enderfolg alles verpfuschen. Denk mal drüber nach, mein Püppchen!»
Aber Kitty runzelte die Stirn, denn sie wußte, was es hieß, wenn die Märtyrer erst einmal vor den Propagandawagen gespannt waren. Die mußten die steilsten Hänge nehmen, ihr Blut war das beste Benzin. Aber sich nun selbst in Gegensatz zu den Helden ihres Volkes gestellt zu sehen, das brannte doch schlimmer in ihrer irischen Seele als brennender Siegellack auf dem Fingernagel, und obwohl sie wußte, daß der Vorwurf ungerecht war, fand sie im Augenblick nicht die richtige Antwort. Ohne sich im einzelnen Rechenschaft darüber geben zu können, war sie überzeugt, daß das Ganze nur noch eine Sache der Straße war und die letzte Entscheidung bei den Gewehren lag, daß sie aus dem erhitzten Blick der Quinn die Augen aller unwissenden Fanatiker ansahen, und daß der mit so viel unzweckmäßiger Nahrung vollgestopfte Straußenmagen der jungen Leute nun unter Verdauungsbeschwerden zu leiden begann. Und was Barney betraf, so wußte sie jedenfalls, daß er kaum mittun würde. «Sag mal, Quinn», unterbrach sie nach einer Weile ihr Schweigen, «hast du jemals Enten mit der Angel gefangen?»
«Gott bewahr mich! Was fällt dir denn ein!»
«Ja, mir kommt's fast so vor, als ob du das tun willst!» sagte Kitty.
Wenn Kitty dem Holländer vor diesem Gespräch statt nachher begegnet wäre, hätte sie Fräulein Quinn anders antworten können. Der Holländer sagte ihr nämlich mit der blasierten Geduld, die ihn auszeichnete: «Hör zu, liebes Kind! Setzen wir mal den Fall, Irland soll ein Hühnchen sein, nicht? Nun hast du vielleicht einmal von dem Herzen eines toten Hühnchens gelesen, das man seit dem Jahre 1913 irgendwo künstlich am Leben erhält. Das ist das Experiment, das eure Meergrünen jetzt nachmachen wollen. Es ist ja sehr schön, die See-heele seines Landes zu lie-hieben, nur darf man darüber den Leib nicht vergessen. Verlaß dich drauf! Und erzähl das nur Fräulein Quinn! Sie wird zwar antworten, daß das meinem hartgesottenen Pessimismus ganz ähnlich sieht, aber ich würde – als Irländer – lieber auf meine alten Tage mit Brillen hausieren gehn, als daß ich mit diesem neuen Blutbad etwas zu tun haben möchte. Aber natürlich: wenn ihr durchaus für die amour propre andrer Leute bezahlen wollt, ist das eure Sache!» Daß der Holländer hie und da ein französisches Wort in seine Rede flocht, hatte seinen Grund darin, daß er Belgier war. Die andre Nationalität hatte man ihm in der Dubliner Gesellschaft angehängt, wo man in der Geographie nicht grade beschlagen ist und alle kleineren Nationen gern durcheinanderwirft.
«Meine Frau findet das auch!» fügte er hinzu, als die Genannte, eine lebhafte kleine Dame mit einer riesigen Zigarre im Munde, ins Zimmer trat.
«Jawohl, ich finde, ihr solltet alle Schrecken einer Bartholomäusnacht einer noch ein oder zwei Jahre dauernden Ungewißheit darüber vorziehen, wie das eigentlich enden soll!» sagte sie. «Im Augenblick haben wir hier zweierlei Militär in der Stadt. Und was wird nun das Nächste sein?» Es war richtig: ein Drittel der Garnison hatte sich durch einen Putsch in den Besitz des Polizeipräsidiums und eines großen Teils der Waffen und der Munition gesetzt, und es herrschte eine scharf bewaffnete Neutralität. Das war kein behaglicher Zustand! «Soll ich dir nicht eine Omelette machen?» fragte sie weiter, ohne auf eine Antwort zu warten; denn dies bot sie gewohnheitsmäßig jedem an.
Kitty aber dankte und empfahl sich. Sie wollte Barney suchen, der ihrer Überzeugung nach in der Stadt sein mußte.
«Die sind ineinander verliebt wie ein Spiegelei in eine Scheibe Speck!» sagte Kitty mit Bezug auf das sonderbare Paar zu dem Metzger im Nebenhaus, der grade zum Schutze des Fleisches im Schaufenster das Rouleau herunterließ.
Der Metzger war ein Mann, dessen Würde von anatomischer Herkunft war, sie entsprang nämlich seinem Fett. «Sie verstehn was von Fleisch!» sagte er diplomatisch. Dann bat er Kitty, wenn sie Lust hätte, ihm doch ein paar Stiefmütterchen zu pflücken. Und all die Stiefmütterchen standen da und kehrten ihre Katzengesichter der Sonne zu. Allem Unglück zum Trotz war es ein friedlicher Tag, und Kitty fühlte sich im Bund mit allen guten und lebenbejahenden Kräften. Mitten in dem hellen Sonnenlicht umfingen sie unsichtbare Fäden und machten sie eins mit der ewig fruchtbaren und ewig nach Sättigung verlangenden Natur. Manche nennen dies Gefühl Glück. Die Glücklichen aber geben ihm meist keinen Namen, sie haben es einfach. Wenige Augenblicke vorher war ihr noch zumute gewesen, als wäre ihr «eine Fliege ins Bier gefallen», doch war das nun vorbei, und wenn ihr selbst so etwas geschehen wäre, hätte das keinen Eindruck auf sie gemacht. Plötzlich erschien ihr Fräulein Quinn als eine Erzspießerin. Als sie nun weiterging, lächelte sie dem Metzger zu, und der lächelte so lebhaft zurück, daß man seinen rechten Weisheitszahn sehen konnte. Auch der kleinen Metzgertochter May, die so leicht wie ein gefiederter Löwenzahnsamen über die Straße flog, lächelte sie zu, und den drei Kindern des Holländers, Salz, Pfeffer und Senf genannt; und dem Zimt-Pete, dem Esel des Metzgers, kraute sie die Stirn an der Stelle, wo ihm eine kleine Narbe saß; auch dem verabschiedeten Pfarrer, der sich grade mit dem Kutscher einer gebrechlichen Umzugsfuhre unterhielt, schickte sie ein strahlendes Lächeln hinüber, dem armen Pfarrer, der damit zu prahlen pflegte, er wäre einer der wenigen Menschen, die bei diesen Zeiten das Delirium tremens gehabt hatten, und zwar ein echtes, mit Aufklauben von nicht vorhandenen Geldstücken – vom Boden, und Fangen von winzigen Fischchen – aus der Luft. In dieser Stimmung nun fiel es ihr plötzlich ein, daß Barney vielleicht in Onkel Toms Hütte wäre, was sich denn auch als richtig erwies.
Als sie jetzt in dem für die Frauen bestimmten Glasverschlag des Wirtshauses stand, fiel ihr erst ein, daß ihr Wunsch, Barney zu sehen, aus dem Gespräch mit Fräulein Quinn entsprungen war, aber sie hatte im Augenblick gar keine Lust, über diese Dinge zu sprechen. Da die Irländer es auch in der heutigen Zeit noch für unstatthaft halten, wenn Frauen in der eigentlichen Gaststube mit dem Schanktisch etwas zu sich nehmen, so machte Kitty von dem Umstand, daß Barney sie nicht hatte kommen sehen, Gebrauch und sah sich zuerst etwas um. Die Wände hingen voll von ermunternden Anpreisungen und Ermahnungen, unter denen ein riesiges Plakat mit den Worten: «Es wird gebeten, nicht zu fluchen!» besonders auffiel. Gleich daneben hing ein andres: «Den besten Whisky der Welt fabriziert Irland!» Und unmittelbar darunter stand: «Den besten Whisky in ganz Irland gibt es hier!» Auch einiges Unübersetzbare las man dort, wie etwa: « Don't take a cold – take a baby J. J.», und auf einem großen bunten Bilde erblickte man einen vollbärtigen Neger, der dasaß und Erdbeeren futterte. Er hatte eine Rose im Knopfloch, und da Kitty nun Barney hereingerufen hatte, bestätigte er ihre Annahme, daß dieser Neger den Onkel Tom vorstellen sollte.
Dies war eins von den Wirtshäusern, wie man sie in Irland massenhaft findet, wo auch bei Tag Licht gebrannt wird und man sich die Lungen mit kräftigem Porter- und Whiskydunst füllt. Kitty schien dies nicht der geeignete Ort, um überhaupt irgend etwas zu sagen. Und als sie schließlich auf der Straße waren, sagte sie auch dort nichts davon, was sie ursprünglich hatte sagen wollen, sondern fragte munter lächelnd: «Weißt du noch, was wir am Aschermittwoch verabredet haben?»
Aber daran hatte Barney auch nicht mehr die entfernteste Erinnerung, er wußte nur noch, daß sie wie alle andern Frauen mit einem großen schwarzen Fleck auf der Stirn aus dem Dom gekommen war, und daß sie dann ein paar Minuten miteinander gesprochen hatten.
«Du bist ein Esel!» sagte sie. «Du hast mir doch versprochen, mich einmal auf eine Zelttour in die Morgenrotschlucht mitzunehmen!»
Ganz überwältigt sah er sie an und lächelte. In dieser Gegend halten nämlich die jungen Leute noch heute an dem alten Brauch fest, einen Ausflug in die Schlucht zu unternehmen und dort die Nacht zu verbringen. Er fragte leise: «Ist das dein Ernst?» Und während es ihm nun flüchtig durch den Kopf ging, daß Roddie einmal, anläßlich der Netzweihe, geäußert hatte, sie sei so eine, bei der es ohne Pfarrersegen nix gibt, bewegte sie langsam und ohne zu lächeln die eine Augenbraue, während die andere sich nicht rührte, was bekanntlich von achtzehn Menschen immer nur einer zustande bringt.
Und so geschah es bald darauf an einem Samstagabend, daß sie sich im Schweiße ihres Angesichts damit abplagten, das etwas zu schwere Zelt aufzuschlagen, das der alte Esel Nelly die ganzen dreißig Kilometer von Rotkreuz her hinter ihnen hergezogen hatte.
Wenn es eine gute Gelegenheit gibt, alles mögliche in Ruhe durchzusprechen, so bietet ein Zeltausflug mit Esel und Kochgeschirr sie ganz gewiß, und so hatte das Paar, als Barney mit dem Wagen von der Landstraße abbog, um auf dem beschwerlichen Talweg in die Schlucht hinunterzufahren, Muße genug gehabt, die Dinge von jeder nur denkbaren Seite aus zu beleuchten.
«Nun bekommen wir das Land sozusagen frei und ledig, und unser erstes ist, uns durch einen Bürgerkrieg in Schulden zu stürzen!» sagte Kitty. Diese Weisheit hatte sie von der kleinen Frau des Holländers, die selber eine so schlechte Wirtin war, daß sie auf ihrem Nachmittagsweg durch die Hauptstraße aus lauter Freundlichkeit drei-, viermal die gleiche Zeitungsnummer kaufte, andrerseits aber in London ihren volkswirtschaftlichen Doktor gemacht hatte, als es für sie einmal grade nichts andres zu tun gab. Weiter hatte sie noch gesagt: «Denk doch nur: ihr habt nicht mal Kriegsschulden wie wir andern … Ihr hättet wahrhaftig Grund, glücklich zu sein. Fragt sich nur, ob ihr es seid!»
«Das zu entscheiden ist nicht meine Sache!» hatte Barney geantwortet. «Wer kann sagen, ob ein Land Mittel für irgendwas hat oder nicht … Wenn die vereinigten Königreiche sich eine Getränkerechnung von vierhundertsiebzig Millionen Pfund jährlich zu leisten vermögen, so sind das fünfzehn Pfund auf den Kopf jedes über einundzwanzig Jahre alten Bewohners. Das ist mehr, als was Heer, Flotte und Verwaltung zusammen kosten. Das weiß ich vom Kommandanten.»
«Das ist ja lieblich!» entgegnete Kitty.
«Das kann man ruhig sagen! … Was heißt das also: man hat keine Mittel für irgendwas? – Hat man Mittel für Hunderttausende von Autos, bevor die Selbständigkeit eines Landes gesichert ist? – Andrerseits geb ich ja gern zu, daß das mit den Schulden nicht ganz ohne Bedeutung ist. Hab ich doch kürzlich in einem Blatt gelesen, daß jedes Kind, das in Hull auf die Welt kommt, mit einer Schuld in Höhe von dreißig Pfund geboren wird. Heißt das vielleicht, gegen das Kind richtig handeln? Mit all den Gütern prahlen, die man ihm hinterläßt, dabei aber keinen Ton davon sagen, daß sie gar nicht bezahlt sind! – Genau das gleiche wollen wir jetzt hier machen. Aber schließlich ist das nicht das Entscheidende!»
Was er als das Entscheidende ansah: daß man das kostbare Leben nicht vergeuden dürfe, darüber hatte Barney schon vorher gesprochen. Und zwar hatte er mit einem so ernsten Gesicht wie ein junger Hund und in Ausdrücken gesprochen, die zum Teil von Jimmy Malone entlehnt waren. Er hatte von allen den Tausenden geredet, die dasäßen und darauf warteten, den andern, oder doch einigen von ihnen, die Hand reichen zu können. Das Neue aber, das mit der Abstempelung von Collins und Griffith als Verräter seinen Anfang genommen hätte, wäre bestenfalls ein Vorstoß ins Dunkel. – Mit zwanzig Jahren liefe man nicht herum und liebte die Menschheit – man könnte von Glück sagen, wenn man's später täte. – Kitty aber hörte Barney zu, während silberweiße Möwen in der Sonne glänzten und ihre heiseren Schreie in die herbe Frühlingsluft stießen, und vergaß ganz, daß sie es eigentlich im Sinn gehabt hatte, sich Fräulein Quinns Meinung zu eigen zu machen. Woran sie jetzt am lebhaftesten dachte, war ein Spruch aus der Schule: Lasset die Menschen sich zuerst ein Haus bauen, einen Weinberg pflanzen und ein Weib ehelichen. War es doch die Bestimmung des Menschen, es den Erdbeerpflanzen gleichzutun, die ihre Schößlinge aussenden, damit sie Wurzeln schlagen und sich von der Mutterpflanze lösen, wie sich ein Kind von der Mutter löst. Aber wie hätten sie unter diesen Verhältnissen ein Heim gründen und sich frei machen sollen! Innerlich nahestehen muß einem der Mensch, mit dem man Probleme erörtert.
Auch ein bißchen gestritten hatten sie sich auf dem Wege. Das fing damit an, daß Barney über einen seiner Lieblingsgedanken sprach: daß das Werkzeug dem gehören müsse, der es zu brauchen verstehe. Dabei sah er den alten Peadar Phelan vor sich, als er das zum letztenmal gesagt hatte. Nach alter Bauernsitte hatte er sich dabei gebückt, um ein weggeworfenes Stück Brot aufzuheben und zu küssen.
«Der Holländer nennt so was Kommunismus!» hatte Kitty eingewendet. «Das bedeutet einfach, daß ihr den Boden enteignen wollt!»
«Jawohl, wenn er nicht ordentlich bestellt wird! Das ist ein Hauptpunkt unseres Programms!» hatte Barney geantwortet und hinzugefügt, er sei weit davon entfernt, den Holländer zu bewundern. Erstens hätte er hier im Land nichts zu suchen, und zweitens sei er unerträglich anmaßend. Hätte er doch von einigen der führenden Männer gesagt, sie wären nichts andres als kandierte Veilchen mit ihren jederzeit gebrauchsfertigen Gefühlen im Eisschrank und ihrer Rechtschaffenheit in der Konservenbüchse!
Darüber hatte Kitty gelacht.
Des weiteren hätte der Holländer gesagt, es wäre sicher eine fabelhafte Belebung des Marktes, wenn Irland für jeden seiner verlorenen Söhne ein Mastkalb schlachten würde.
Wieder hatte Kitty gelacht.
Außerdem war der Holländer in gewisser Hinsicht ungemein kindlich und hatte einen kleinen Beitrag zur Unterhaltung der Stadt geliefert, als er anonym ein Inserat in die Zeitung setzen ließ: «Fünfhundert lebende Ratten zu kaufen gesucht.»
Darüber hatten sie alle beide gelacht, obwohl es da eigentlich nichts zu lachen gab, und hiermit war der kleine Zwist zu Ende gewesen.
In Irland gibt es keine Kraniche, nur Reiher, und es stand denn auch eine Schar Reiher am Rande des Baches unten in der Schlucht, als Barney und Kitty mit ihrem Wagen langsam den schmalen Weg herunterkamen. Der Fels ist hier meist von rötlicher Farbe, mitunter spielt sie auch ins Gelbliche hinüber, hie und da aber an den senkrechten Wänden wird sie zu reinem Purpur. An Bäumen findet man auch hier die in Irland häufigsten Arten, und der Lorbeer erwächst zu der gleichen Riesengröße wie der Weißdorn und ist von armdickem Efeu umschlungen, der höher hinaufreicht, als ihm das Auge zu folgen vermag.
Auf dem ins Tal führenden Wege standen die Steine weit hervor, denn es hatte vor kurzem geregnet, und die vom Wasser aufgeweichte Erde war in den tosenden Strom hinuntergeschwemmt worden. Eine Schar von Hunden und Katzen sah den Dahinfahrenden neugierig nach, eine Ziegenherde drehte dem saftigen Grase verächtlich den Rücken zu und suchte mit langgestrecktem Hals die frischen Weißdorntriebe zu erreichen. Ihr gesellte sich der Esel bei, nachdem er ausgespannt war.
Hier schlugen sie das Zelt an einer Stelle auf, die ihnen der kleine Schenkkellner in Onkel Toms Hütte genau beschrieben hatte – unter einem Baum, zwischen dessen Wurzeln schon zahlreiche Vorgänger ihre Lagerfeuer angezündet hatten. Außerdem ließ sich der Platz an einer Tüte Malzzucker erkennen, die der kleine Schenkkellner in einer von ihm genau bezeichneten, gegen Regen geschützten Erdspalte vergessen und liegengelassen hatte. Gleich nach Sonnenuntergang schlug das Wetter um, und bevor sie noch ihren Tee getrunken hatten, war die Innenseite der Zeltbahn dicht mit Mücken besetzt.
Zwischen den Bäumen standen Blumen, so bleich wie Menschengesichter, und Barney wurde gefühlvoll und sagte: «Was ist das Leben ohne eine Frau!» – «Und ein Haushalt ohne Büchsenöffner!» entgegnete Kitty, denn sie hatten dies nützliche Werkzeug vergessen; und bei dem Versuch, sich anders zu helfen, war Barneys feststehendes Messer abgebrochen.
Das Feuer knisterte gemächlich weiter, hie und da kam ein kühler Windstoß … Und Barney fragte auf einmal: «Ja, ist denn das alles wirklich wahr?»
Keine Antwort.
Vielleicht war es nicht wahr. Vielleicht ging die Wahrheit auf Stelzen. Jedenfalls gab es nicht Friedlosigkeit, nicht Mord noch Haß in der Schlucht. Und lange bevor die Sonne die Wolken im Osten mit einem ersten zarten Schimmer färbte, sang die Grasmücke schon ihr Morgenlied, und die beiden hörten es nicht. Kurz darauf setzte die Amsel ein, gefolgt von Zaunkönig und Rotkehlchen, und erst als Kohlmeise und Spatz schon munter waren, rührte sich Barney leise im Schlaf; doch mußte sich erst die Lerche in die Luft schwingen, bevor er richtig wach wurde und sah, daß die Sonne wirklich wie eine Kugel aus der Schlucht hervorgeschossen war. Und da lachte er hell auf.
Erst am nächsten Morgen kehrten sie heim, zu der Zeit, als sich das Dorf Rotkreuz eben den Schlaf aus den Augen rieb. Nur aus einzelnen Häusern stieg Rauch empor, aber auf der Straße vor der Schmiede pickte sich schon ein Huhn sein Frühstück aus dem hervor, was die Pferde hatten fallen lassen.
Drinnen in der Stube auf Peadar Phelans Platz saß eine Fliege und putzte sich die Vorderbeine, drehte sich dann einmal rund um sich selbst, zickzackte hierauf nach Fliegenart über Seite vierunddreißig des Gebetbuches mit dem Titel «Schlüssel zum Himmelreich», machte dann einen Schwung zu einem Spiel Karten hinüber, das auf dem Kaminsims lag, änderte aber ihren Entschluß und setzte sich Maggie Phelan auf die Nase. Im gleichen Augenblick vernahm die alte Frau draußen auf dem Wege den Laut bekannter Stimmen. Schnell warf sie sich einen Rock über und eilte ans Fenster. Ja, sie waren es wirklich! Zu dieser Stunde! Und anscheinend in recht vergnügter Stimmung.
Als sie dann in die Küche hinauskam, war dort schon Feuer gemacht und Teewasser zugesetzt. Das ärgerte sie.
«Du fühlst dich hier ja schon ganz zu Hause!» sagte sie zu Kitty.
«Wir hatten so einen Teedurst!» entgegnete diese.
«Warum soll sie sich denn nicht zu Hause fühlen?» fragte Barney und runzelte die Brauen.
Weitere Worte wurden nicht gewechselt, und kurz vor acht nahm Kitty ihr Rad und sauste in einem Zug hügelabwärts zur Stadt. «Hol der Teufel die Alte!» sagte sie zu sich selbst.