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Der siebzehnte März ist der geographische Knotenpunkt in diesem Bericht. Wie auf eine Stadt zu, laufen ein Dutzend Schicksale diesem Datum entgegen, ohne zu ahnen, daß es aus einem andern Stoff als alle andern Daten gemacht ist. Von da an wandern sie ein Stück Weges gemeinsam, bis sie sich abermals trennen müssen. Wenn die Menschen das Muster auf dem Boden der Schicksalsschale sehen könnten! – Ja, wenn … wenn!!
Hätte man aber der Vorsehung für sonst nichts zu danken, so sollte man ihr vierundzwanzig Stunden täglich dafür dankbar sein, daß man die Dinge nicht voraussehen kann …
Am siebzehnten März erwachen viele Leute und merken, daß sie Irländer sind – etwas, was sie ganz vergessen hatten. In der irischen Kirche von Soho versammelt man sich schon am Abend zuvor, und die kleinen Kleeblattsträuße, das Hauptsymbol der irischen Nation, werden eingesegnet und unter die Leute verteilt. Der siebzehnte März ist für die Irländer, was der vierte Juli für die Amerikaner, und etwa das, was der siebzehnte Mai für die Norweger ist. Für jedes Menschenwesen, gleichviel, wie es ihm sonst geht, ist dies ein Tag über allen andern Tagen. Ja, er ist so bedeutungsvoll, daß er einer von den drei Tagen im Jahr ist, wo die Wirtshäuser geschlossen bleiben und die Kellnerinnen einen ganzen Feiertag haben.
Auch für die zahlreichen Zigeuner des Landes ist es der Tag, an dem sie ihre jährliche Zusammenkunft abhalten. Von allen Ecken des Landes kommen sie gezogen und besprechen ihre Angelegenheiten. Auch Rotkreuz hatte schon mehrere ihrer Wagen durchfahren sehen, als eine Woche vor dem Fest einer erschien, der in das Leben auf Peadar Phelans Hof ein wenig eingreifen sollte.
Man war an das wandernde Volk gewöhnt – sogar etwas zu sehr, schien es oft, und man sah daher ein bißchen scheel auf Sir Henry, einen armen Gutsbesitzer, der ein paar Kilometer vor dem Dorf hauste und unter andrem durch den Besitz einer Hundekoppel seinen Wappenschild blank zu halten suchte. Er war zugleich Vorsitzender des örtlichen Tierschutzvereins, und es traf sich glücklich, daß er seine zwiefache Liebe zu den Tieren im allgemeinen und zur Fuchsjagd im besonderen ständig Früchte treiben sehen konnte in Form von Aufkäufen abhanden gekommener und verwahrloster Esel und Ponys, die dann geschlachtet wurden und so buchstäblich vor die Hunde gingen. Der Preis für einen Esel überstieg selten ein Dutzend Schillinge, und doch genügte dies den Zigeunern und ihren zahlreicheren Freiluftgenossen, den Pfannenflickern, um mit Sir Henry als einer sicheren Einnahmequelle unter allen den unsicheren zu rechnen.
Pat Nevins Karawane bestand aus zwei kleinen Wagen, aus Pats Frau, seinem großen Jungen und einem Trupp Esel und Ponys, die zusammen mit zwei Windhunden hinterdreinliefen. Den ersten Wagen führte Pat selber und der Junge den zweiten, während die Frau in einem besonderen Verschlag saß und unter ihrem Schal einen Korb am Arm hängen hatte, worin sich ihr Laden befand. Unter einem der Wagen baumelte ein vergitterter Kasten mit fünf im Amte Donegal gefangenen Hasen, die zum Teil in einem bei dem Treffen am siebzehnten März stattfindenden Hunderennen laufen, zum andern Teil nachher gebraten werden sollten. Als sie bis auf einen Pfeilschuß an Peadar Phelans Hof herangekommen waren, machten sie vor einer Zauntür halt, an der nicht nur ein deutlich sichtbares Schild mit der Aufschrift: «Durchfahrt verboten. Übertretung wird bestraft» angebracht, sondern die auch mit Schlössern und Ketten reichlich versehen war. Unmittelbar daneben befand sich in der Hecke ein großes Loch, durch das Pat seine Esel und Ponys hineinjagte, worauf er den beiden Karren ihren Platz gab und mit Hilfe der Frau und des Jungen das Zelt aufschlug. Es war ein armseliges Zelt, nur als Schlafraum gedacht, und der Rest der Einrichtung paßte dazu. Das alles war aber nicht etwa auf Armut zurückzuführen, sondern auf eine altmodische Einstellung gegenüber den Erscheinungen des Lebens. Als Pat so weit fertig war, schickte er seine Frau zu Peadar auf den Hof, um sich dort etwas Speck und Tee zu erbetteln. Sie wußten, daß sie das auf alle Fälle bekommen würden, es würde aber viel davon abhängen, wie Maggie aufgelegt war, denn Peadar war den Zigeunern ohnehin nicht grün. Allgemein konnte er ihre Sprache nicht leiden, die sie Shelta nennen, und die sich vielleicht bis auf die Druidensprache zurückführen läßt, im besondern aber traute er ihnen wegen ihrer vielfältigen Spitzbubenstreiche nicht über den Weg. Nachweisbar hatte einmal einer von Pat Nevins Jungen ihm auf dem Markt seine eigne Ziege verkauft. Obwohl Zigeuner dort, wo sie Herberge finden, in der Regel nichts klauen, genau wie ein Fuchs nicht grade die Hühner des Forstwarts stiehlt, so sieht man es doch meistens lieber, wenn sie ihre Zelte im Nachbarort aufschlagen. Ann Nevin aber kam so munter wie eine Forelle auf den Hof und fand Peadar auf der Bank unter der großen Ulme sitzend, deren blühende Zweige in einer Wolke von Blütenstaub standen – einem Staub von eigentümlicher Farbe, den ein kaum merkbarer Windhauch zu dem weinroten Wipfel empor- und gegen die Hauswand mit ihren langen, grünen Klematisranken und dem Netzwerk von Kletterrosen hinüberblies …
Die Bühne hat vor dem Buch das eine voraus, daß sie die Worte färben, füllen, elektrisieren, hohl oder farblos machen, synkopieren, aufeinandertürmen und mit Begeisterung erfüllen kann – etwas, was allerdings in der Regel um untergeordneter Dinge willen versäumt wird. Ann Nevins Rede aber wäre ein Haufe von toten Buchstaben, selbst wenn die Möglichkeit bestünde, sie auf einem Stück Papier Rast finden zu lassen. In Wirklichkeit war nämlich nur ihr Sprechtempo so schwindelerregend, daß sie damit ein Haus hätte abdecken können. War doch Ann ein kecker Windstoß ohne Erziehung noch sonstige Hemmungen, und Peadar Phelan, der sowohl ihresgleichen als auch sie selbst kannte, nahm ihre Verzückung über sein junges und frisches Aussehen wie ihren Wasserfall von Segenswünschen mit großer Fassung entgegen. Fand er zwischendurch einen geeigneten Augenblick zu einem Einwurf, so bat er sie mit der größten Ruhe, sich zum Teufel zu scheren, was sie mit derselben freundlichen Nachsicht anhörte, wie man ganz alte Hunde bellen läßt. Ihr Gesicht war so hager und trocken, als hätte man es durch die Wringmaschine gezogen und zwischen zwei Gewitterschauern an der Sonne getrocknet; es war hell teefarben, ausgenommen zwei hellrote Flecke auf den Backen unmittelbar unter den Augen. Da ihr Volk sich niemals verblüffen läßt, tat auch sie es nicht. Sicherlich hat das Sprichwort recht, das da lautet: Spuck einem Zigeuner ins Gesicht, und er wird sagen: es regnet! Also ließ auch Ann nicht davon ab, Peadar weiter zuzusetzen, bis er ihr den Rücken kehrte und in den Garten ging, um nach den Bienenstöcken zu sehen.
Bei Maggie in der Küche wäre wahrscheinlich alles ganz gut gegangen, hätte sich Ann nur an ihre Verproviantierung gehalten. Aber sie begann auch allerhand von ihren prophetischen Gaben zu erzählen. Wirklich gute Wahrsagerinnen sind so selten wie reiche Schuster; aber wenn nur die Hälfte davon wahr gewesen wäre, was Ann berichtete, hätte sie unbedingt zu dieser Auslese gehört. So erzählte sie von einem Fall neuesten Datums aus dem hiesigen Bezirk: sie hätte vor acht Monaten einer jungen Bäuerin geweissagt, ihr erstes Kind werde «ganz etwas für sich» sein. Und was hatte sich ereignet? Vor drei Wochen war sie mit einem Mädchen niedergekommen, einem gesunden und in jeder Beziehung wohlgestalten Kind, bis auf die einzige Ausnahme, daß es einen zwei Zoll langen Schwanz hatte!
«Herrgott!» sagte Maggie, «der kleine Dreck! Man muß nur hoffen, daß sie ihn ihr mit der Zeit abrupfen. Jetzt macht das ja wohl noch nicht so viel wie später!»
Hierauf griff die Zigeunerin ohne weiteres nach Maggies Hand und schaute sie an – zuerst aus geschäftlichem Interesse, dann aber mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Beunruhigt fragte Maggie, was denn los sei, aber Ann gab keine Antwort, sondern bewegte nur die Lippen und stieß plötzlich die Hand mit den Worten von sich: «Nein … nein!»
Das ärgerte Maggie, und sie rief: «Pack dich, verfluchte Zigeunervettel! Raus mit dir, Gaunerin!»
Ihren Korb am Arm, machte sich die andre davon und sagte nur noch: «Froh darfst du sein, wenn man dich nach einem halben Jahr bloß Gaunerin nennt!» Dann lachte sie wild und konnte gar nicht aufhören damit, und als Maggie ihr nachrief: «Wenn du dir heute was brichst, hoff ich, es ist der Hals!» entgegnete sie, immer noch wild lachend: «Das geschieht, eh du es weißt.»
Die meisten Männer aus dem fahrenden Volk sind Leute, die keinen Marienkäfer mit Absicht totschlagen würden, und doch verbreiten sie auf ihren Fahrten durch das Land mehr oder weniger Grauen und Schrecken um sich.
Pat Nevin war ein ebenso geschickter Bursch wie je einer, der sein Leben lang ein bescheidenes Einkommen und eine unbescheidene Familie gehabt hat; und er war ein religiöser Mann, wenn er auch seinen Pflichten in dieser Hinsicht mitunter etwas verspätet nachkam und zum Beispiel erst nach Ostern fastete statt vorher. Während nun ein dichter Nebel vom Atlantik flußaufwärts gezogen kam, hängte er an jeden seiner Wagen ein schützendes Muttergottesbild und sah dabei verstohlen seine Frau an, die breitbeinig und struppig am Feuer saß, ohne ein Wort zu sagen und ohne die geringsten Anstalten für die Teebereitung zu treffen. Seit sie, eine geborene Boßwell, seine Frau war, hatte sie stets ein ziemlich unberechenbares Temperament gezeigt, aber er hatte ihr doch im allgemeinen nicht die Kandare straffziehen müssen; und die Fertigkeit, mit der sie ihre Meinung äußern konnte, hatte ihr weit und breit bei ihren Stammesgenossen Respekt verschafft. Jetzt aber saß sie da, rauchte ihre Pfeife und starrte so stumpfsinnig ins Feuer, daß sie nicht einmal daran dachte, die Zeltschnüre zu lockern, die vom dichter und dichter werdenden Nebel straff wie Cellosaiten wurden. Ein paarmal stieß sie Laute hervor, die am ehesten an das erinnerten, was man einen Friedhofshusten nennt, doch schien es Pat ziemlich sicher, daß ihr nichts weiter fehlte, und so ersuchte er sie barsch, sich mit dem Brotrösten zum Tee etwas zu beeilen, was sie denn auch wie eine Schlafwandlerin tat. Kurz darauf kam ihr Junge Larry und machte sich daran, in einem Eimer Futter für die beiden Zugponys zu kochen.
«Hast du von Maggie keinen Speck gekriegt?» fragte der Junge barsch.
«Ich verhungere lieber, als daß ich Speck von der nehme!» antwortete sie.
Larry hatte seine Mutter gern, wenn er auch nach der Art seines Stammes manchmal recht unsanft mit ihr umgehen konnte, so neulich einmal, als sie aus Versehen über den «Teetisch» stolperte und alles umgoß. Da hatte ihr Larry – aus voller Kraft – einen Stoß ins Genick versetzt und die Tassen kurz und klein geschlagen. Jetzt aber sah er seine Mutter forschend an und fragte auf sheltaisch: «Ist sie frech gegen dich gewesen, die …?» Das letzte Wort gibt es ebensogut in allen andern Sprachen. Es drückte seine Mißbilligung kräftig aus.
«Sie hat das Zeichen auf der Stirn und im Herzen!» sagte Ann und starrte ins Feuer, statt auf das Brot, das sie rösten sollte, achtzugeben.
«So! Also das ist es!» sagten der Junge und Pat wie aus einem Mund.
In jeder Stadt und jedem Dorf gärte es ununterbrochen, und so dröhnte nun ein Militärauto vorüber mit jenem Überfluß an Lärm, auf den beim Militär oft so viel Wert gelegt wird. Das Zelt und die Wagen standen auf dem Bankett unmittelbar an der Straße, und als nun das nächste Auto in dem rauchschwarzen Nebel heranprasselte, raste es, durch die Feuerstelle irregemacht, mitten in die Gruppe hinein, schleuderte Larry und Pat unter die Wagen und fuhr die Frau tot. Die Offiziere sprangen sofort ab, traten auf die wütenden Zigeuner zu und versuchten, ihnen die Sache zu erklären. Als sie erkannten, daß dies hoffnungslos war, liefen sie spornstreichs nach dem Arzt und dem Pfarrer. Als sie wiederkamen, hatten Larry und Pat die Laternen des Autos zertrümmert und drohten, die unglücklichen Soldaten zu erschießen, zu rädern und zu rösten.
Nach zehn Tagen zog Pat weiter, der Junge aber blieb in der Gegend und erschreckte Maggie ernstlich, als sie das erstemal seine gelbliche Gesichtshaut, das rötliche Weiß seiner Augäpfel und seine krumme Nase über der Halbtür der Scheune auftauchen sah. Als Barney von ihm hörte, einigte er sich mit einem Offizier der nun dafür zuständigen Militärpolizei dahin, den Jungen zu Jimmy Malone in Kost zu geben, bis sich ein besserer Ausweg fände. Es war eine beschwerliche Sache mit ihm, denn unter anderm ließ er sich nicht dazu bewegen, Wasser zu trinken, das durch Röhren aus der Erde kam.
Zu Ann Nevins Begräbnis stellten sich viele von den angesehensten Männern des Stammes ein, und der Häuptling hielt eine schöne Rede, die mit den Worten schloß: «Sei dir der Rasen leicht!»
May the sod rest ligthly on your remains!