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Sechzehntes Kapitel

 

1

Außerhalb des engeren Kreises um Rotkreuz und die Bezirksstadt konnte dieser Mord zu einer Zeit, wo der Tod täglich Überstunden machte, kein sonderliches Aufsehen erregen, zumal da er an einem Tage geschah, der genau in der Mitte zwischen der Ermordung von Michael Collins und dem Tode Arthur Griffiths lag, den beiden sinnlosesten Morden, von denen die Welt jemals gehört hat. Nur eine Woche Zwischenraum lag zwischen diesen beiden Todesfällen im August. Collins fiel in den schändlichsten Hinterhalt, der selbst in Irland je gelegt worden war, und Griffith starb aus Kummer über den Verrat von Leuten, die seine Freunde gewesen waren.

Bereits im März – ja sogar vorher schon – hatte sich einstimmig der Schrei aus den Reihen des ganzen, bis aufs Blut gepeinigten irischen Volkes erhoben: «Unser Volk ist der Anarchie müde, müde der gesetzlosen Zustände und müde des Kriegs – es will Frieden und es will wieder zu arbeiten anfangen. Aber für viele Leute ist die Unbotmäßigkeit zur zweiten Natur geworden.»

Und jetzt im August war man nicht um ein Haar weiter gekommen, ja, nach ein paar kurzen Tagen der Verblüffung über den Tod der beiden Führer ging es von neuem los, und jeder Junge, der die Beine spreizen, das Maul aufreißen und mit dem Revolver herumfuchteln konnte, war ein Nationalheld. Für sie war es dummes Gewäsch, wenn vernünftige Leute sagten, das, was jetzt hier vorging, wäre « not a white man's game». Wenn sie es nicht für etwas noch Schlimmeres erklärten als für dummes Gewäsch, nämlich für Verrat.

Den Rest des Jahres bezeichneten zahlreiche Bluttaten. Gesperrte Brücken. Unterbrochene Straßen. Abgeschnittene Verbindungen. Raubüberfälle am hellen Tag. General Mulcahy zum Trotz war eine große Zahl von I.R.A.-Leuten zu den Aufrührern übergegangen und machte auch gar kein Geheimnis daraus. Auf seiten der Regierung aber stand die Nationalarmee, die zum Teil aus I.R.A.-Soldaten, zum Teil aus Freiwilligen bestand. De Valera- und Rory O'Connor-Leute bildeten das Heer der Irregulären.

Die ersten ernstlichen Zusammenstöße zwischen diesen beiden Gegnern fanden am 28. Juni, dem Tage der Ausrufung des neuen Parlaments statt. Jede Partei wollte sich in den Besitz der vier Gerichtshöfe von Dublin setzen, und die Truppen des Freistaates bombardierten sie. Am 30. Juni fielen die Mauerreste den Regierungstruppen in die Hände. Rory O'Connor, Liam Mellows und andre wurden gefangen, und die Republikaner besetzten daraufhin die Nordseite der O'Connelstraße, einer der monumentalsten Straßen von Dublin, ja vielleicht von ganz Europa. Einer von den Nationalhelden, Cathal Brugha, wurde erschossen; an den Tagen, die nun folgten, stand das Land in Flammen, und die Irregulären zogen sich in die Berge zurück – eine uralte irische Taktik. De Valera aber verschwand nach diesem Schlag, und es hieß, daß er die Operationen im Süden leite. Im September fand im Süden eine Reihe von Überfällen aus dem Hinterhalt statt, doch betrug dort die Zahl der Irregulären an keinem Ort mehr als dreihundert. Cosgrave wurde Präsident, und die Post streikte. Am zehnten Oktober erließ die oberste geistliche Behörde beider Konfessionen ein Manifest, das jeden an einem Regierungssoldaten begangenen Totschlag zum Mord stempelte und jeden Mörder vom Empfang der Sakramente ausschloß. Auch erging ein Verbot an die Geistlichen, sich in die Politik zu mischen. Das Manifest wurde in sämtlichen Kirchen verlesen. Als Antwort darauf sprengte man die Bahngleise in der Umgebung von Maynooth, von wo das Manifest ausgegangen war. Im Dezember fand ein Dutzend Hinrichtungen als Repressalie für die an regierungstreuen Leuten begangenen Morde statt, und so schloß das Jahr 1922 für das glückliche und unglückliche, das leidende und törichte Irland.

Barneys Tod aber fiel in den August, und ein in einem kleinen Dorf an einem einzelnen begangener Mord konnte für ein Land, dessen grüne Flagge täglich in Blutpfützen getaucht wurde, nicht viel bedeuten.

 

2

Was nun Patty anging, so war ihm, nachdem er damals den Holländer verlassen hatte, etwas Bedauernswertes zugestoßen – ein an sich lächerlicher Vorfall, den man am besten vergessen hätte, wenn er nicht ganz ungerechtfertigterweise als Waffe gegen Pattys Glaubwürdigkeit als Zeuge ins Feld geführt worden wäre. Und das geschah einem Ehrenmann wie Patty, der ein Leben geführt hatte, das jedem Lord und Edelmann zum Muster dienen konnte, und der nie mit der Polizei in Konflikt geraten war bis zu jenem unglückseligen Tag, der ihm eine Strafe von einem Schilling eintrug, und auch dies nur, weil er den Gedenkartikel auf seinen alten Freund Peadar Phelan nicht hatte anbringen können.

In jeder Provinzstadt der Welt gibt es ein oder zwei Wirtshäuser, wo «sich etwas tut», und in diesem Fall hieß dies Wirtshaus Onkel Toms Hütte. Bevor Patty hier richtig vor Anker ging, hatte er einen Besuch bei Jimmy Malone gemacht, den er durch den Pater Aloysius kannte. Und Jimmy hatte sich sehr gefreut, ihn zu sehen, wie er sich über jeden freute, den er zu sehen bekam, und nachdem sie Tee getrunken hatten, hatte sich's Jimmy nicht versagen können, Patty die letzte Neuheit aus der Schar seiner symbolischen Korken vorzuführen. Schon seit längerer Zeit hatte Jimmy aus der Ferne das Schicksal einer Familie beobachtet, die beinah von allem verfolgt worden war, was an Unglück über den Menschen hereinbrechen kann, und die es darum gelernt hatte, das Ganze mit einer gewissen Gefaßtheit hinzunehmen. In erster Reihe war es die Tuberkulose, die diese Leute plagte, und der kleine Branntwein – ein trauriger Name für ein Kind – bekam sie auch.

Nun entwickelte Jimmy vor Patty, wie man sich allmählich daran gewöhnt hatte, die Familie husten und pfeifen zu hören. Hier wurden kranke Lungen vererbt wie zu früheren Zeiten die zerfetzten Fahnen alter Adelsgeschlechter. Dies Erbteil wurde mit einer frommen, fast an Humor grenzenden Ergebenheit hingenommen, ja, man konnte fast sagen: mit Ehrfurcht. Ob einer dieser Leute dies dem Walten eines Naturgesetzes, ob es ein andrer der Tradition zuschrieb oder ein dritter schlecht und recht nur von seinem Sonderfall sprach, hing in der Hauptsache von der Sinnesart des Betreffenden ab. Auf diesem Hintergrund aber erschien es ganz selbstverständlich, daß auch der kleine Branntwein eines Tages zu bellen begann. Eine Zeitlang hatte seine kräftige Veranlagung den Eindruck erweckt, mit ihm würde vielleicht eine Änderung in dem eintönigen Familienprogramm Platz greifen, aber schon sein erstes bescheidenes Hüsteln beseitigte jeden Zweifel. Und nun lag er als Nummer einundzwanzig in Jimmys Schublade.

Patty, dem diese merkwürdigen Dinge keineswegs etwas Neues waren, und der eigentlich hier sein Herz wegen der Ablehnung seines Aufsatzes hatte ausschütten wollen, bedankte sich höflich für den Tee und eilte auf dem kürzesten Wege in Onkel Toms Hütte, wo er in allen nur denkbaren und sogar undenkbaren Richtungen auf unerwartetes Verständnis stieß.

Zu seiner freudigen Überraschung kam es hier an den Tag, daß allgemeines Mißvergnügen über die Art und Weise herrschte, wie die Tribüne die Interessen der Stadt und ihrer Umgebung wahrnahm. Der Sattler Cosgrave, ein eifriger Gartenliebhaber, war der erste, der sich mit ganzem Herzen auf Pattys Seite stellte, und das aus sehr gewichtigen Gründen: «Wir Leute vom Fach wissen selbstverständlich, daß der Mond Land und Meer regiert, daß es von entscheidender Bedeutung ist, wann man eine große Reihe unserer wichtigsten Gemüse aussät, und daß jedes Jahr eine Masse Zeug nicht aufgeht, weil die Leute in ihrer Ahnungslosigkeit bei zunehmendem Monde säen. Ich habe deshalb einen längeren Artikel darüber geschrieben, worin ich das besprach und unter anderm dazu riet, die erste Aussaat für Sellerie unbedingt Mitte Februar und die zweite im März vorzunehmen. Und damit ging ich, genau wie Patty hier, auf die Redaktion und machte ihm den Vorschlag, das abzudrucken. Und wißt ihr, was er mir zur Antwort gab?» Es war niemand da, der es wußte.

«Nichts! … Ich will es aber lieber der Reihe nach erzählen … Als er bis zur Mitte des Artikels gekommen war, fing er an den Mund zu verziehen – in dieser überheblichen Art, ihr kennt das ja. Und als er fertig war, schlug er die Arme übereinander und sagte: ‹Ich finde, Sie sollten sich das noch mal vierzehn Tage überlegen.› – ‹Und warum das?› – ‹Weil die Leute so leicht lachen!› sagte er. ‹Was hat denn das damit zu tun? Ist da vielleicht etwas lächerlich dran?› – ‹I bewahre!› sagt er. ‹Nur werden manche Leser finden, daß das etwas nach Aberglauben klingt – diese Geschichten vom Mond, der Land und Meer und Sellerie und Spinat regiert …›»

Ein ärgerliches Gemurmel erklang aus den Reihen der Zuhörer.

«Und da sag ich nun – ganz ruhig und überlegen: ‹Wissen Sie, Herr Redakteur, daß größere Leute als wir beide überzeugt sind, daß die Alten mehr von diesen Dingen gewußt haben als die heutige sogenannte Wissenschaft?› – ‹Davon hab ich nie was gehört!› sagt er spöttisch. ‹Wissen Sie vielleicht auch nicht, daß ich in Ihrem Blatt drei Jahre lang ständig meine Militär-Lederkoppeln inseriert hab?› Dies war nun endlich was, was in seinem Schädel hängengeblieben war. ‹Mein lieber Cosgrave,› sagt er. ‹Es war ja nicht so gemeint …› – ‹Sie brauchen mir nicht zu erzählen, wie das gemeint war!› sag ich. ‹Hab die Ehre, Herr Redakteur!› – Mit dem Ton auf ‹Herr› – versteht ihr!»

Der Heiterkeitsausbruch, der diesen Worten folgte, wurde von Herrn Elphin, dem Leiter des Elektrizitätswerks, unterbrochen, der die gleichen übeln Erfahrungen gemacht hatte. «Er ist feig!» sagte der kleine hitzige Ingenieur. «Nun hat er es so lange fertiggebracht, mit den Hasen zu laufen und mit den Hunden zu jagen, daß ihm das jetzt, so wie die Verhältnisse sich entwickelt haben, als das Allergefährlichste erscheint. Deswegen schwenkt er nun schön langsam und kaum merklich zu Dev und den Meergrünen rüber. Natürlich gab er das nicht offen zu, als ich zu ihm raufkam, um ihn für eine Sache zu interessieren, mit der ich jeden Tag Scherereien hab. Ihr wißt ja: wir haben nun mit großen Kosten den Ausbau des Elektrizitätswerkes fertiggestellt. Kaum aber sind wir so weit, da gibt es jeden Abend da draußen vor der Stadt Kurzschluß, oder die Leitungen werden auf andre Art beschädigt. Wir alle wissen, daß die Lausbuben, die das machen, Meergrüne sind – nur der Herr Redakteur weiß das nicht. ‹Können Sie beweisen, daß das die Irregulären waren?› fragt er mich, weiß Gott! ‹Können Sie beweisen, daß es die Irregulären waren, die Collins ermordet haben?› sagte ich darauf.» Diese Antwort wurde von der ganzen Gesellschaft mit Beifall begrüßt. «‹Oder glauben Sie vielleicht›», fuhr der Ingenieur fort, «‹daß das seine Freunde getan haben, ich meine, seine jetzigen Freunde?› – ‹Tun Sie mir den Gefallen und gebrauchen Sie nicht das Wort: ermordet!› erwidert er. ‹Im übrigen kann ich aber keinen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen sehen.› – ‹Sie wollen mir also nicht dabei helfen, dem Übel zuleibe zu gehen?› sag ich. ‹Doch, mit Vergnügen!› antwortet er. ‹Nur kann ich Ihnen in einem Punkt nicht zu Diensten sein, daß nämlich diese beklagenswerten Vorkommnisse ohne weiteres nur der einen Seite zur Last gelegt werden. Sonst bin ich gern bereit, Ihnen den gewünschten Raum in unserem Blatt zur Verfügung zu stellen.› – Wißt ihr, was ich ihm drauf gesagt hab?» Keiner hatte auch nur die geringste Ahnung. «‹Schuft!› hab ich gesagt und bin gegangen.»

Einer aus der Gesellschaft stiftete eine Runde Porter, und man hob die Krüge nach dem bei Onkel Tom üblichen Ritus.

Ein Angestellter der Städtischen Dampfmühle hatte mit einem Artikel, worin er nachwies, daß die Müller an jedem Sack Mehl fünf Schillinge verloren, mehr Glück gehabt. Aber sein Zeugnis stieß hier auf völlige Gleichgültigkeit.

Größeres Interesse erregte ein anderer, der die Leute darüber hatte aufklären wollen, daß bei der Wahl von Saatkartoffeln «Aran Sieg» bei weitem «Kerrs Hellroten» vorzuziehen seien. Aber er war vom Herrn Redakteur höflich an die Anzeigenabteilung verwiesen worden.

«Wovon sollen die denn leben, wenn sie die Inserate umsonst aufnehmen wollten?» fragte der Müller kampflustig.

Niemand antwortete ihm, aber der Ingenieur Elphin, der ein großer Spaßvogel war und nie lange untätig sein konnte, überlegte: «Man sollte ihm einen Streich spielen!»

«Was denn für einen?» fragte der Sattler.

«Irgendeinen. Laß mich mal nachdenken!»

Während dieser Unterhaltung hatte sich der Gesellschaft ein Mann zugesellt, dessen Augen wild funkelten, als er vernahm, worum sich das Gespräch drehte. Dieser Mann war sozusagen von der Tribüne wirtschaftlich umgebracht worden. Er hatte seit Jahren die Flußbadeanstalt in Pacht und hätte nun mit Vergnügen fünfzehn Runden für alle Anwesenden gestiftet, nur um einen Zuhörerkreis zu haben.

«Du kennst die Tribüne ja auch, nicht wahr?» erkundigte sich Elphin höchst unschuldig.

Dem Badepächter schoß das Blut zu Kopf, seine Hände zitterten: «Und ob!»

«Bist du jetzt dahintergekommen, von wem das Eingesandt wegen des Preises war, den du für Badeanzüge verlangtest?»

Der Badepächter strich den Schaum von seinem Krug und nahm einen Schluck. «Nein, aber ich glaub, daß der rothaarige Bursch da auf der Redaktion dahintersteckt, und ich glaub auch, daß er die nächsten paar Jahre nicht mehr zum Baden kommt.»

«Worum handelt es sich denn?» fragte Patty, der gewohnheitsmäßig wie ein Hase durch die Spalten der Zeitung jagte und sich daher sein reines Gemüt bewahrt hatte. «Hat er von dir auch was nicht aufnehmen wollen?»

Der Badepächter knurrte vernehmlich und verdrehte seine Augen, daß man nur noch das Weiße von ihnen sah. «Blasser Neid!» sagte er mit einer Kürze, die jedem zu wünschen wäre. «Ein ganz klein bißchen besserer Geschäftsgang, und schon sitzen sie dir im Nacken. Jahrelang hab ich zwei Pence für eine Zelle, fünf für einen Badeanzug und zwei für ein Handtuch genommen. – Kann vielleicht einer behaupten, daß das zuviel ist?» Er sah sich vorwurfsvoll um.

«Ich nehm keine Schlammbäder!» sagte Elphin. «Daheim haben wir alles umsonst.»

«Das sind neun Pence für ein Bad!» bemerkte der Müller. «Das hätt ich für fünf Kinder nie bezahlen können.»

«Was ist denn aus der ganzen Geschichte geworden?» fragte der Wirt, dessen leitendes Geschäftsprinzip es war, jede heraufziehende Kriegsgefahr im Keim zu ersticken. Fördert doch ein heiterer Ton den Bierabsatz.

«Was draus geworden ist?» Die Stimme des Badepächters verfinsterte sich. «Daß ich jetzt fürs Stück einen Penny krieg und Jungen unter vierzehn überhaupt keinen Badeanzug brauchen.»

«Das Unglaubliche ist, daß sie überhaupt jemals einen gebraucht haben!» bemerkte der Müller.

«Das heißt, daß ich nun bestenfalls drei Pence bekomme, wo ich früher mit neun rechnen konnte.»

«Dafür kommen jetzt wohl auch mehr Leute zum Baden!» meinte der Müller. Aber das blieb unaufgeklärt, denn der Badepächter gab keine Antwort.

«Man sollte ihm einen Streich spielen!» begann wieder Elphin, der seinen Plan nicht einen Augenblick aufgegeben hatte.

«Aber was für einen?» fragte der Sattler.

«Sag mal, Patty, hast du deinen Eselskarren mit?» fragte der Ingenieur, der sich sichtlich mit einem Einfall trug.

«Ja, er steht am Eingang zum Marktplatz!» versetzte Patty. «Warum?»

«Das sag ich dir, wenn wir noch eins getrunken haben.»

 

3

Nachdem dies Glas getrunken war, setzte Elphin dem alten Patty seinen Plan auseinander, und Patty sagte Nein.

Also noch ein Glas! Und noch eins! Und Patty begann schon zu schwanken. Und wieder ein Glas! Da trat Patty den Rückzug an.

Dann kam noch ein letztes, und nun begann er die Idee recht spaßhaft zu finden, und die ganze Gesellschaft mit Ausnahme des Müllers begab sich ins Freie, um den Esel und den Karren aufzusuchen.

«Etwas kindlich für ihr Alter!» sagte der Müller, der als einziger in der Stube geblieben war, zum Wirt.

«Große Kinder», stimmte dieser ein und schüttelte lächelnd den Kopf. Er teilte grundsätzlich durch dick und dünn die Meinung der Anwesenden.

So wurde hier also ein Spaß ins Werk gesetzt, der bei Patty sicher ein flaues Gefühl hinterlassen hätte, wäre nicht durch die Vorfälle der nächsten Tage dies Gefühl zu ehrlichem Schmerz gesteigert worden, und hätten sich nicht unverhältnismäßig ernste Folgen des Scherzes eingestellt.

Die Überraschung, mit der das Publikum in der Hauptstraße den ungewohnten Anblick aufnahm, war nicht gering. Es bestand zu dieser Tageszeit aus Damen, die Einkäufe machten, aus Zeitungsjungen, aus Arbeitern, die von der Arbeit heimkehrten, und Lastträgern, die drunten am Hafen die Ladungen der wenigen Schiffe löschten, die sich trotz den unruhigen Zeiten mit Zimmerholz und Zement hereingewagt hatten. Diese Leute nun erblickten Patty oben auf dem Kutschersitz des Eselskarrens. Er unterschied sich von dem gewohnten Patty dadurch, daß er auf Brust und Rücken große Plakate trug, auf denen deutlich zu lesen stand: « DeValera-Tribüne.» Dem Esel hatte man die Worte: « Das irische Volk» auf den Leib gemalt, und zwei am Wagen angebrachte Stangen führten über seinen Rücken weg und trugen vorn ein Bund gelbe Rüben, das dem guten Tier vor dem Maul hin und her baumelte und an dem ein Schild mit der Inschrift « Fette Versprechungen» hing.

An der Spitze der Prozession, die sich dem Karren alsbald anschloß, kam ein Bankbote daher mit roter Weste, grünem Uniformrock und Zylinder. Sein Gesicht, in dem sich Dummheit und Feierlichkeit mischten, hatte einen Ausdruck von Verschlagenheit dazugewonnen, als er Patty erblickte. Noch verblüffter zeigte sich der junge Mann mit dem Greisengesicht und der Allongeperücke, der pflichtgemäß jeden Nachmittag von drei Uhr ab mit einem Schild dazustehen hatte, das die Leute auf William Raftis' Barbierstube aufmerksam machte. Diese Tätigkeit pflegte er sich durch die Lektüre von Kriminalliteratur in Heftform zu versüßen. Er war leider beruflich verhindert, an dem Rennen teilzunehmen, das eine rasch anschwellende Zahl von Gassenbuben und halbwüchsigen Lümmeln mit sich riß, welche Sorte ja bei der Einförmigkeit ihres Straßeneckendaseins immer nach ein bißchen Abwechslung hungert und nicht die kleinste Gelegenheit dazu verpaßt. Auch ein paar Damen gingen mit, begreiflicherweise nicht grade solche aus den vornehmsten Kreisen, immerhin aber welche aus der nächstfolgenden Klasse, gar nicht zu reden von den Frauen mit Umschlagtüchern und den Mädchen mit hohen Stapeln von leeren Säcken auf dem Kopf.

Wenn die Stadt eine richtige Polizei gehabt hätte, wäre Patty schon vor dem Glockenturm oder doch wenigstens gleich hinter ihm aufgehalten worden. Aber, was es zu dieser Zeit und bis zum Schluß des Jahres davon gab, war ein mehr oder minder landsknechtartiges Militär, das neben ernsteren Aufgaben, wie etwa Kämpfen mit den Irregulären, auch den Polizeidienst versehen mußte, was bei weitem nicht so unterhaltend war, wenigstens untertags, wo man nicht so einfach mit dem Revolver in der Hand herumlaufen konnte.

So wurde denn Patty nicht aufgehalten und kam mit seinem lärmenden Gefolge, das schon die ersten Kampfhandlungen für und gegen das lebende Bild auf Rädern einleiten wollte, ein Stück über den Glockenturm hinaus. Und als er vor dem Woolworth-Laden anlangte, marschierten schon ein paar Dudelsackpfeifer vor dem Esel her, und eine Garde von Freiwilligen hinderte die Anhänger de Valeras an einem Angriff auf den Kern der Prozession. Unmittelbar darauf geriet diese mitten in eine große Rinderherde von mehreren hundert Stück, die aber wich vor den Sackpfeifern und Patty zurück wie das rote Meer vor den Israeliten. Und das wurde Pattys Rettung.

 

4

Was hier geschah, war etwas ganz einzig Dastehendes: die Viehherde trennte den Vortrab von der Hauptmasse des Heeres. Pattys umnebelten Sinnen wurde es langsam klar, daß da eine Änderung eingetreten war. Denn der Spektakel hinter ihm drang aus immer größerer Ferne an seine Ohren. Die Luft war so voll von Flüchen wie ein schwedisches Witzblatt, und die Wünsche, die weiblichen Lippen entströmten, waren sinnreich und von ausgiebiger Derbheit.

Unmittelbar neben dem Wagen hörte er eine Frau sagen: «Die Augen sollen dir aus dem Kopf fallen!», worauf eine Mädchenstimme mit einem «Halt den Mund!» antwortete.

Da blieb der Karren stehen, und Kitty rief hitzig: «Patty, schämst du dich nicht?! Komm runter! Komm sofort runter!»

Patty stieg zögernd ab.

«Bring den Wagen aus dem Weg!» sagte sie zu dem Hausburschen eines Kaufmanns aus der Nachbarschaft. Sie selbst führte den alten Rotbart mitten durch die murrende Volksmenge zu dem Tor hin, das vor langer Zeit einmal, als die Schwarzbraunen Barney auf den Fersen waren, dessen Rettung gewesen war. Das Tor fiel krachend hinter ihnen zu, und sie gingen schweigend durch eine enge Gasse weiter hinauf nach einem mit einem Kaufladen verbundenen Wirtshaus, das sich bei den Bäuerinnen, die dort ihre Produkte an den Mann brachten, großer Beliebtheit erfreute. Ohne mit Patty zu reden, gab Kitty der Wirtin den Auftrag, dafür zu sorgen, daß der Alte heimkam, sobald er wieder einigermaßen gesellschaftsfähig war. Dann ging sie, ohne Patty noch eines Blickes zu würdigen.

Zuerst trank Patty zwei Flaschen Porter, hierauf einen Liter Buttermilch, schließlich ließ er noch ein paar Brocken Brot in diese ungewöhnliche Suppe plumpsen und legte sich dann in einem hinter der Schenke gelegenen Raum aufs Bett.

Das war an dem Abend, als er so spät heimkam und Barney mitten auf dem Wege zu Peadar Phelans Hof erschossen auffand.


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