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Achtzehntes Kapitel

 

1

Einen Nachteil hatte Jimmys Wohnung: die Eisenbahn ging mit kaum hundert Metern Abstand daran vorüber, und der Ruß und der Kohlenstaub von den Zügen drangen selbst durch die geschlossenen Fenster und Türen und bedeckten alles mit einer dicken Schicht, zur Verzweiflung der kleinen achtzigpfündigen Frau, deren Aufgabe hier auf Erden es war, Jimmys Haushalt in Ordnung zu halten – nicht zu reden von der Wäsche, die an Waschtagen im Hof aufgehängt werden mußte.

Kitty, die nicht untätig sein konnte, war jedesmal, wenn sie Jimmy Malone besuchte, mit einem Staubtuch herumgegangen, und nachdem sie sich eine halbe Stunde lang ausgeweint hatte, stand sie auch heute auf und machte sich daran, die Möbel blank zu reiben. Auch das imitierte Leopardenfell, auf dem Jimmys Flöten und seine Mandoline hingen, wurde nicht vergessen, und zwischendurch sprachen sie von Barney.

«Ich geh heute nicht hinaus!» sagte sie fest. «Auch nicht, wenn sie mich holen, obwohl es schrecklich ist, daß ich ihn nicht mehr sehen soll. Das beste wäre vielleicht, wieder ins Geschäft zu gehen und zu arbeiten …»

«Es geht nichts über die Arbeit!» Jimmy Malone nickte. «Arbeit ist Vergessen.»

«Ja, arbeiten, arbeiten … Aber stell dir meine Arbeit vor heute! Ich seh das Ganze so deutlich: ich radle über den Markt, überfahr dabei fast die Tauben, radle den Kai runter und melde mich im Geschäft … Was für Arbeit erwartet mich da? Neue Moden rausbringen! Dabei ist es übrigens nicht das Prinzip der Firma, sofort das Neueste aus Paris und London zu bringen … Zu rasch ist ebenso vom Übel wie zu langsam …»

«Was ist denn jetzt modern, liebes Kind?»

«Lieber Gott! Müssen wir davon reden?»

«Um nicht von – dem andern zu reden!»

«Ja, selbstverständlich! Ich bin das Schaf! Was jetzt modern ist? Nun, du weißt, Mary Glynne in dem Shaftesbury-Schlager ‹Katze und Kanarienvogel› sah fabelhaft schick aus – Spitzenmanschetten und so weiter und Kristallperlen- und Silberstickereien; Mantel aus russischem Hermelin … Auch Mäntel aus persischem Lammfell sind jetzt modern und Magyarenärmel …» Tief unglücklich blickte Kitty auf Jimmy Malone – wie ein Schiffbrüchiger, der die Notflagge hißt: «Kannst du dir eine blödsinnigere Arbeit denken, wenn dein Herz vor Verzweiflung schreit?»

Jimmy antwortete nicht. Er war selber verzweifelt.

Kitty verbarg ihr Gesicht in den Händen: «Ach, wer doch weit fort könnte! Hinaus aufs Land und grobe Bauernarbeit tun … Rüben ziehen … Mist breiten!» Mit leeren Augen starrte sie auf die Bäume draußen vor dem Fenster. Nach einer Weile ballte sie die Fäuste und zischte: «Wenn sie die Mörder nicht finden – ich find sie! – Und … wenn … es Roddie ist oder wenn er nur seine Finger drin gehabt hat – ich knall ihn nieder wie einen Hund, auch wenn ich's dann büßen muß.»

«Es war nicht Roddie!» sagte Jimmy.

Jimmys Haushälterin kam mit einer Fleischsuppe und überredete Kitty, sich auf das unbequeme Sofa unter dem Leopardenfell zu legen. Und da fiel sie seltsamerweise in Schlaf.

Sie schlief eine halbe Stunde und erwachte mit einem schrecklichen Gefühl von Beklemmung und Hoffnungslosigkeit und fragte sich, was denn geschehen wäre. Und da die Wahrheit ihr blitzartig zu Bewußtsein kam und sie mit erloschenen Augen anstarrte, mußte sie sich zuerst über die Stirn streichen, um sicher zu sein, daß sie wirklich wach war. «Es ist schrecklich, Jimmy! Und das Schrecklichste ist, daß man nicht einzuschlafen wagt aus Angst vor dem Erwachen … und daß man in seiner Verzweiflung zwanzigmal in der Nacht aufwacht und jedesmal die gleiche Qual durchmachen muß! Hilf mir doch, Jimmy – ich kann ja nicht mehr!»

«Da gibt es nur eins, mein Geliebtes: auf andere sehen, die leiden, und – denen es vielleicht noch schlechter geht!»

«Wem kann es noch schlechter gehn?» fragte Kitty bitter. «Gibt es was Schlimmeres, als den einzigen Menschen verlieren, der einem was ist?»

Jimmy antwortete langsam: «Jeder ist schlechter dran, der einen so elenden Körper mitbekommen hat, daß er auf alles verzichten muß, was für die Mehrzahl der andern Menschen das Wertvollste ist – auf einen Ehegenossen … auf Kinder … auf … auf diese Sachen. Nichts hat so einer, nicht einmal einen, um den er trauern kann.»

Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer, und dann fuhr Jimmy fort: «Ich spreche von mir!» Und das klang beinah haßerfüllt. «Hast du mich schon klagen hören? – Nie!»

«Ich klage auch jetzt nicht!» sagte er nach einer Weile. «Ich erwähne das nur, um dich etwas von dir selbst wegzubringen!»

 

2

Solch ein Vorgehen ist natürlich gewagt, aber in diesem Fall glückte es. Er vernagelte ihre Kanonen für eine Zeitlang und sie sprachen vom menschlichen Körper, von Krankheiten und dergleichen.

«Es ließ sich nicht vermeiden, daß ich mich etwas mit meiner Gesundheit beschäftigte!» sagte Jimmy bedauernd. «Und dabei verachte ich doch die Menschen, die egoistisch ihre Gesundheit trainieren – mit Diät, mit Wasser, mit Obst, du kennst das ja … Als ob ihre verdammte Gesundheit von irgendwelcher Bedeutung wär! Barney hat nicht mehr an seine Gesundheit gedacht, als eine Katze das tut!»

Sie schnaufte verächtlich, bekam aber wieder Tränen in die Augen.

«Und doch war er merkwürdig weich», fuhr Jimmy fort, «es hat mich oft überrascht, wie weich er in manchen Punkten war, und ich konnte es einfach nicht begreifen, wo er die Kraft zu dem Soldatenleben hernahm … Dort in dem Stuhl hat er gesessen und mir erzählt, wie qualvoll es letztes Frühjahr für ihn gewesen ist, mit ansehen zu müssen, wie sich alles ringsum entwickelte – bis auf das, was die Menschen aufbauen sollten. Und wie er dann eines Tages sah, daß die Bachnelkenwurz längs den Wegen aufgeblüht war, und daß der Löwenzahn in gelben Sprenkeln übers Feld hin stand, zwischen Gänseblümchen, wilden Möhren und Veilchen, und daß der Anemonenteppich, den es hier und dort gab, zu verblühen begann. Und er sah, wie sich das Frühjahr zum Sommer entfaltete, aber es machte ihm keine Freude; denn es erinnerte ihn nur an Tage, die ihm nichts Gutes schenkten, Tage, an denen er nicht vorwärts kam und sich Gewalt antun mußte, um nicht aufzuschreien unter diesem Druck, der einem körperlichen Schmerz glich. Ich weiß, daß es wie ein wildes Verlangen über ihn gekommen sein muß, irgendeinen Griff in die Hand zu kriegen, mit dem er das, was unpersönlich, mechanisch und unablässig an ihm vorbeiraste, in seiner tollen Fahrt aufhalten könnte. Schon daß das Wasser in den Straßengräben ewig in dem gleichen wiegenden Tempo über das zerfaserte Pflanzengewimmel auf dem Grunde dahinglitt, fiel ihm auf die Nerven wie eine Entzündung. Das Leben grinste ihn höhnisch an, das blinde Leben, von dem man nichts weiß, als daß es da ist. Das packte ihn und klagte ihn an und trat ihm herausfordernd entgegen und legte sich ihm wie eine schwere Last auf die Schultern. Und den Leib, den seine Füße über die abgewetzten Steine der Landstraße trugen, empfand er als lebloses Bündel aus mechanischen Funktionen unter einem Gehirn, das sie nicht führte, sondern nur schmerzte … unsagbar schmerzte …»

Erst später wurde es Kitty klar, daß Jimmy Malone vielleicht mehr von sich selbst gesprochen hatte, und daß es, wenn schon Barney, so doch ein durch Jimmys Brille gesehener Barney gewesen war, den er vor sie hinstellte.

«Warum sind nicht alle Menschen so gut wie du, Jimmy?» fragte Kitty müde.

«Das wäre des Guten doch etwas zu viel!» entgegnete er schalkhaft.

Aber plötzlich stand es beiden klar vor Augen, daß Barney kalt und leblos in einem Hause da draußen an der Landstraße lag, und Kitty nahm hastig Abschied.

Nachdem sie gegangen war, kämpfte Jimmy Malone nicht mehr länger mit sich.

Er weinte.


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