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Zweites Kapitel

 

1

Kann jemand leugnen, daß Wälder eine Seele haben? Und Flüsse? Flüsse vor allem! Frag einen Dubliner, ob der Liffey ein mechanischer Wasserlauf sei, oder einen Corker, ob er den Lee habe singen hören, oder einen Waterforder, was der Suir auf seinem Wege murmle, oder die Leute im Südwesten, ob der Shannon bloß ein gutes Fischwasser sei, das auch Elektrizität erzeugt. Sie wissen es besser und werden vermutlich auf solch törichte Fragen überhaupt keine Antwort geben. Der Fluß, der die Schiffe in die Stadt hinaufführt, wo Kitty und Barney Mac Cleary sich fanden, ist einer der mächtigsten und sein Lebensweg einer der seltsamsten. Mit einem Satz springt er aus einem Berghang tief im Innern des Landes hervor, um kurz darauf mit sich selbst in Streit darüber zu geraten, wohin er soll. Deshalb teilt er sich in drei Bäche, die sich in drei verschiedenen Betten zwischen den Bergen hindurchschlängeln. Auf ihrem meilenlangen Wege nimmt jeder von ihnen eine Menge kleinerer Zuflüsse auf, bis an dem Punkt, von dem aus man das Meer wie einen perlmutternen Streifen schimmern sieht, zwei von ihnen übereinkommen, das letzte Stück zusammen zu laufen. So brausen sie denn zum mächtigen Flusse vereint durch das Tal, das von alters her Jammertal heißt, vorbei an größeren und kleineren Städten mit Kirchen und Wirtshäusern, um endlich mit unwiderstehlicher Gewalt an der großen Stadt vorüberzuströmen, in der die beiden jungen Leute wohnten, worauf ein paar Meilen weiter unterhalb, bei einem Fischerdorf, das schlechtweg Überfahrn heißt, das Verwunderliche geschieht, daß sie auf ihren Schwesterbach stoßen, den dritten der drei Bergbäche. Der ist inzwischen auch zum gereiften Fluß erwachsen, voll von Schlamm und Lachsen, und nun wälzen sie alle sich in übermütiger Dreieinigkeit ins Meer hinaus, das zu Zeiten bei Landwind den Fluß zurückzudrängen versucht, dabei aber im Höchstfall erreicht, daß das Wasser auf dem Hafenplatz in der Stadt ein paar Fuß hoch steht. Doch geschieht das nur in den seltenen Wintern, wo die Berge allzu freigebig mit Regen sind. Draußen an der Mündung aber ist der Fluß so breit, daß man nur bei ganz klarer Luft zur Not das gegenüberliegende Ufer sieht. Doch hat das nicht viel zu sagen, da jene Seite zu einem andern Bezirk gehört, mit dem man außer ein paar Sportwettkämpfen kaum etwas Gemeinsames hat.

Niemand verläßt die Stadt, dem nicht das Bild des Flusses im Gedächtnis bliebe mit den Schiffen, die dort ihre Ladung löschen, und den bedächtig trottenden, sich im Wasser spiegelnden Rindern auf ihrem letzten Spaziergang vor dem Antritt der Reise über den Kanal in die englischen Schlachthäuser. Das letzte, was man in dieser Welt von ihnen sieht, sind dann ihre mächtigen roten, appetitlich zugerichteten Leiber, wie sie in dem oder jenem Metzgerladen von Kensington oder Soho hängen. Hier in der Stadt sagen sie Irland ihr letztes Lebewohl, während sie unter dem wegweisenden Zuruf der Treiber und dem Kläffen der Hunde in Herden den Kai entlang getrieben werden, vorüber an Bootswerften und Strohstapeln, an Hunderten von zusammengekarrten Fässern mit Dubliner Porter und am Glockenturm. An manchen Tagen ist es fast unmöglich, sich einen Weg durch die Rinder- und Schafherden zu bahnen, durch die Tausende von rot, grün oder blau gezeichneten Schafen, deren Eifer, wild auseinanderzulaufen, ebenso groß ist wie ihr Trieb, in der Masse unterzutauchen. Bemerkenswert ist die Gelassenheit und Geduld, mit der die Irländer den Tieren Platz machen oder einen Omnibus behutsam durch diese bewegte See von steigenden und fallenden zottigen Fellwogen steuern. Dies geschieht nicht aus einem Gefühl von Resignation oder in der Erkenntnis des Unabänderlichen, sondern weil man unbeholfenen Mitgeschöpfen aus dem Weg gehen muß, wie man Kindern ausweicht. Gleich dem Fluß bleiben diese Viehtriebe jedem im Gedächtnis, der die Stadt einmal besucht hat.

Will man aber das beste Bild von der engen Verbundenheit zwischen Stadt und Strom bekommen, so muß man flußaufwärts dorthin gehen, wo Peadar Phelan bis an sein Ende lebte und drei Menschenalter lang seiner Arbeit nachging. Wenn man dort am Südgiebel unter dem Strohdach steht, kann man das glänzende Band meilenweit gen Osten verfolgen, wie es hinter den Klippen rings um den großen Steinbruch verschwindet, der aus unbekannten Gründen «die Teufelsschmiede» heißt. Wo der Fluß dann wieder zum Vorschein kommt, hat er an Macht und Größe gewonnen und trägt Schiffe auf seinem Rücken. Und kurz darauf strömt er in die Stadt hinein, die Stadt, deren Wachsen er miterlebt hat seit der Zeit, als hier dänische Schiffe vor Anker gingen und Wikinger in aller Hast die erste behelfsmäßige Festung anlegten. Da droben von Peadar Phelans Hof sieht man so recht, wie liebevoll sich die Stadt in den Arm des Flusses geschmiegt hat, der hier eine Biegung macht, um dann wieder sehr gerade bis zum Fischerdorf Überfahrn weiterzulaufen. Ist er daran vorüber, so merkt man an den schäumenden Strudeln, daß er nun von Norden her den anderen Fluß aufgenommen hat. So weiten sich endlich in nebliger Ferne all diese Wasser zu einem breiten Fjord aus und vereinigen sich mit dem Meer.

 

2

Kitty stammte nicht aus diesem Bezirk. Sie war aus dem Westen herübergekommen, wo die alten Leute nur irisch sprechen und das Englische verachten. Wie viele echte Irländerinnen hatte sie schwarzes Haar und blaue Augen. Sie war schlank von Gestalt, ihre Hände waren klein und ihre Brüste zart, doch klar abgesetzt, ihr Mund hatte jenen Zug erwachender Reife, bei dessen Anblick junge Männer die Luft durch die Nase ziehen, wie junge Hengste es tun. Ihre Bewegungen waren von der linkischen Anmut eines jungen Tiers – der Himmel mag wissen, was für eines Tiers. Ihre Rede war nur anscheinend wie die andrer junger Mädchen ihres Alters, im Grunde war sie ganz anders: sie hatte Goldglanz an sich und Feuer in sich, eine schwelende Glut.

Barney Mac Cleary aber stammte nicht nur von hier, sondern hatte auch sein ganzes Leben in dieser Umgebung verbracht, mit Ausnahme eines kurzen Zeitraumes während der Schwarzbraunen-Zeit Schwarzbraune ( Black and Tans): eine von Lord French in Irland aus ehemaligen englischen Kriegsoffizieren gebildete, bei den Irländern verhaßte Polizeitruppe. Anm. d. Ü.. Da war er mit anderen jungen Leuten auf der Walze gewesen. «Auf der Walze sein» hieß bündig gesagt: nicht daheim schlafen, entweder weil das gefährlich gewesen wäre, oder weil es romantischer schien, anderswo zu übernachten. In den Adern von Menschen, die nicht durch Musikkorps, Fahnen und Fackelzüge vor die Tür gelockt werden, fließt sicher kein keltisches Blut. Wer keine Freude an doppelsohligen Stiefeln, an derben Ledergürteln, an Türen hat, die nur auf das Stichwort von Männern mit zusammengebissenen Zähnen und rollenden Augen aufgetan werden, wer nicht Lebenslagen, die es für ihn ratsam machen, sich durch finstere Seitengassen zu schleichen, höher schätzt als die Möglichkeit, vor aller Augen höchst prosaisch über den Marktplatz zu spazieren, der ist kein richtiger Irländer.

Nun, was das anbelangt, ging Barneys Paß schon in Ordnung. Aber nachdem er die zumindest nötige Anzahl Bomben geworfen und ein paar Edinburger Jungen kaltgemacht hatte, war seine gesunde Vernunft nach einigem Widerstreben gefühlsmäßig dahin gelangt, die bunten Schimmel seiner Phantasie vom Streitwagen abzuspannen und sie für bürgerliche Zwecke in Gebrauch zu nehmen. Nach reiflicher Überlegung hatte er es so weit gebracht, daß er Mal auf Mal mit Nachdruck zu wiederholen vermochte, was er Kitty bei einer der ersten Gelegenheiten gesagt hatte, wo sie richtig miteinander sprachen: «Wenn wir de Valera jetzt nicht mehr folgen können, liegt das nicht daran, daß wir ihn weniger, sondern daran, daß wir unser Vaterland mehr lieben.» Kitty war damals mit dem hundertfünfzigprozentigen irisch-irischen blutdürstigen Amazonen-Korps in Verbindung getreten, das unter dem Namen Cumann na mBan bekannt ist. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte auf gälisch: «Soll ich dir sagen, warum du in der Mehrzahl sprichst? Weil das bequemer ist! Zählst du dich da überhaupt mit? Es ist vergleichsweise leicht, zu sagen: Wir Menschen sind geborene Lügner. Viel schwerer ist es, zu sagen: Ich bin ein verdammtes Lügenmaul, das jeden Tag sein halbes Hundert nackte oder mehr oder weniger drapierte Lügen von sich gibt. Wahrhaftig, Mary Mac Swiney hatte recht, als sie hier in der Versammlung erklärte, wir könnten schon seit Jahren eine richtige Republik haben, wenn wir nicht so an unseren heimischen Fleischtöpfen hingen … das heißt, ihr hängt dran … du hängst dran!» Das übersetzte sie dann noch, um ihn zu verhöhnen, ins Englische und empfahl sich.

Er hatte ihr antworten wollen: «Ich sage: wir, weil unser viele sind.» Aber er war nicht schlagfertig und von Natur schweigsam. Er war der geborene Zauderer und wirkte in der Gesellschaft junger Leute leicht als Außenseiter, weil er wußte, daß er das, was die andern sagten, zehnmal besser hätte sagen können, wenn man ihm nur Zeit dazu gelassen hätte. Er kannte seine Langsamkeit, wußte aber auch den Grund dafür: er schickte keinen Satz in die Welt, bevor der richtig laufen konnte. Solche Leute bringen es nicht zu gesellschaftlichen Erfolgen, denn die Gesellschaft verlangt flinkere Burschen, frischere Burschen, mundfertigere Burschen. Ob sie klug sind, ist weniger wichtig, denn niemand macht sich die Mühe, das nachträglich festzustellen.

Solche kleinen Plänkeleien, wie hier Kitty und Barney, führen junge Leute in einem Lande, wo hinter dem betäubenden Lärm des Tages und dem einförmigen Sang der Arbeit unablässig das nervenerregende Summen eines großen ungelösten Problems hörbar bleibt. Im übrigen waren ihre Zusammenkünfte rein kameradschaftlich, und zuzeiten «gingen sie miteinander». Sie hatten sich zum erstenmal im Jahr zuvor kurz nach Neujahr getroffen, als Barney von seinen Streifereien für eine Weile nach Hause gekommen war. Um einiges zu besorgen, hatte er mit dem alten Patty zusammen die Stadt aufgesucht, und während er sich mit einem Kameraden unterhielt, sah sich Pat Daniel Holdens Manufakturwarenauslage an. Für ihn waren die Schaufenster, vor allem die der großen Warenhäuser, eine Art Kinoersatz. Ganz begeistert rief er Barney heran und sagte: «Schau, sind diese Wachsdamen nicht fabelhaft gemacht!» Namentlich die eine war einfach ein Meisterwerk: schwarzes Haar, eine Haut, die fast zu natürlich war, und Augen, die zwei schwarzen, schattigen Höhlen glichen … bis sie plötzlich aufgingen und Pat vergißmeinnichtblau ansahen. Hätte Unsere Liebe Frau draußen vor dem Dom Pat unversehens gefragt, wie sein wertes Befinden sei, dann wäre seine Bestürzung auch nicht größer gewesen. Nun lachte die Dame sie beide an – zuerst Pat und dann, etwas zurückhaltender, Barney. Es war aber Kitty, und sie machte sich öfters das kleine Vergnügen, sich ins Schaufenster zu schmuggeln und mäuschenstill zu stehen, bis sie jemand verblüffen konnte.

Zum zweitenmal hatte Barney sie am 31. Januar bei der Netzweihe draußen im Fischerdorf Überfahrn gesehen. Mit seinem Kameraden Roddie Carroll zusammen fischte er gelegentlich da draußen an der Flußmündung, und er hatte seine geplante Abreise verschoben, um der Netzweihe beizuwohnen. Der Bootshafen von Überfahrn besteht aus zwei zementierten, durch eine kurze Mole getrennten Becken. Bei Ebbe liegen die Boote oft auf dem Trockenen, bei hohem Wasserstand aber strömt die Flut mit Gewalt hinein und füllt die Kammern bis zum Überlaufen. Wer also aufs Wasser will, muß darauf acht geben, zur rechten Zeit hinaus- und hereinzukommen, weil es sonst leicht zu spät ist und er dann sein Boot draußen vor dem Bollwerk vertäuen muß, wo es keineswegs sicher liegt.

Die Häuser des Fischerdorfes erfüllen einen Kessel zu Füßen eines steilen Granitbuckels von ein paar hundert Fuß Höhe, und ganz oben auf dem Buckel liegt die Kirche. Nachdem sie dort die Messe gehört hatten, gingen die Leute, unter ihnen auch Barney, den Zickzackweg zum Hafen hinunter, und während der Bischof inmitten einer Priesterschar draußen am Molenkopf die bevorstehende Fangzeit einsegnete, knieten die Fischer entblößten Hauptes in ihren Booten, die in langer Reihe am Kai nebeneinander lagen. Nach Abbetung des Rosenkranzes hob Barney die Augen auf, und das erste, was er erblickte, war ein schwarzhaariges Mädchen mit Augen wie zwei dunkle Höhlen. Er gab Roddie einen Schubs und flüsterte: «Wer ist denn das Mädel da in der roten Kluft?»

«Was für'n Mädel?» fragte Roddie und sah auf.

«Die Schwarze da, die grade aufsteht!» sagte Barney ungeduldig.

«Ach die? Das ist Kitty.»

«Was für 'ne Kitty?»

«Kitty von Coleraine selbstverständlich. Cumann na mBan in Weißglut. Nach ihrem Rezept kocht man Irish Stew aus Dynamit und dem Blut von Schwarzbraunen.»

«Kennst du sie?»

«Nur mit der Ruhe! Ich stell dich ihr vor. Übrigens kannst du sie jeden Mittwoch abend bei Jimmy Malone treffen, dem kleinen Photographen.»

«Ist das sicher?»

«So sicher, wie der Esel graue Haare hat.»

Sie waren aufgestanden und aus dem Boot gesprungen. Nachdem jeder ein paar Bekannte begrüßt hatte, trafen sie wieder an der Schenke eines der drei Wirtshäuser des Ortes zusammen, die an diesem besonderen Tage jedem billigen Anspruch Genüge tun konnten.

Barney fing wieder vom Gleichen an: «Wie ist sie denn sonst … abgesehen von der Politik?»

«Der Bruder ist Jesuit und eine Schwester in einem belgischen Kloster, und sie selber ist eins von den Mädeln, bei denen es ohne Pfarrerssegen nix gibt. Aber sowas weiß man ja nie ganz sicher, ehe man mal angeklopft hat.»

«Ach, halt den Mund!» sagte Barney fast zornig, und dann gingen sie wieder zum Hafen hinunter, um vor Abend noch das Netz unter Dach zu bringen.

Sie trafen Kitty und ein anderes Mädchen vor dem Altar mit dem übermannshohen Kruzifix westlich von den Geräteschuppen, und Barney bat Roddie unverweilt, ihn vorzustellen.

Sie hatte einen festen Blick und einen herzhaften Händedruck und sagte mit offenem Lächeln: «Wer war denn der alte Mann, mit dem Sie – es ist ein paar Wochen her – draußen vor unserem Schaufenster standen?»

Barney gab ihr Bescheid, und sie erklärte mit Nachdruck: «Er hat ein verteufelt gutes Geschau!»

«Himmel, da sollten Sie erst meinen Großvater sehen!» entgegnete Barney. «Er wird nächstens hundertundfünf Jahre und fährt noch immer mit Nelly allein in die Stadt.»

«Nelly ist wohl ein Esel?» sagte Kitty.

«Richtig geraten!» antwortete Barney. «Er wird im Sommer neunundzwanzig und steckt voller Narrenstreiche! Sie sollten kommen und sich unsere ganze Menagerie anschauen.»

«Gern. Aber dann müssen Sie auch kommen und unsere Menagerie anschauen. Aber die Begeisterung für Ladenbesuche wird bei Ihnen auch nicht größer sein als bei andern Mannsleuten.»

«Im allgemeinen nicht … besonders nicht für große Geschäfte. Da hat man so ein Gefühl, als ob einem der Körper zusammenschrumpft und die Arme und Beine ins Unendliche wachsen, bis man nicht mehr weiß, wo man sie lassen soll.»

«Aber die Auswahl ist größer als in den kleinen», bemerkte sie.

«Was kann das nützen, wenn man nicht mehr als den zehnten Teil sieht! Das ist grade wie bei den ganz großen Bibliotheken. Die machen mir keinen Eindruck – das heißt, in gewisser Weise schon. Ich krieg da nämlich ein Gefühl, als ob sich mir die ganze Sammlung auf die Brust legte und mich platt drückte, oder als ob sie zu einer Riesensäule wüchse, und ich sitze oben, so hoch, daß ich die Erde und die Menschen unter mir nicht mehr sehen kann.»

«Mein Gott, Sie sind doch nicht am Ende Dichter!» fuhr es ihr heraus. Das klang so erschrocken und komisch, daß beide lachen mußten.

«Im Augenblick bin ich mehr Fischer.»

«Ein guter?» fragte sie.

«Aufrichtig gesagt: nein! Sowas ist angeboren, sonst ist's ein Hundeleben. Ich schlängle mich so durch … das ist alles.»

Etwas unvermittelt machte sie ihn darauf aufmerksam, daß an dem aus seiner Tasche guckenden Zipfel des Taschentuches ein Wäschereizeichen eingenäht war. Gleich darauf fiel es den Mädchen ein, daß sie zum Tee heim mußten. Auf der andern Seite des Stromes hatte es geregnet, und ein Regenbogen spannte sein farbiges Band über den Himmel. Als die jungen Männer auf eins der Wirtshäuser zuschritten, um noch rasch vor der Abfahrt ihres Omnibusses in die Stadt ein Glas Porter zu trinken, war die Sonne schon untergegangen und der Himmel im Westen ein Flammenmeer.

 

3

Am nächsten Tag ging Barney wieder auf die Walze, und das keine Stunde zu früh. Denn um die Mittagzeit erschienen vier Mann von den Hilfstruppen, dem englischen Gentlemankorps, oben bei ihm, um ihm einen schönen Gruß auszurichten und ihn zu einer kleinen gesellschaftlichen Unterhaltung ins Hauptquartier mitzunehmen. Sie glaubten natürlich nicht, daß er fort war, da man ihn tags zuvor noch so spät in Überfahrn gesehen hatte. Also durchsuchten sie den Hof aufs genaueste, schnitten die Matratzen auf und wühlten darin nach Revolvern und Munition. Im übrigen waren sie höflich, spaßten mit dem alten Mann und versprachen wiederzukommen, ein Versprechen, das sie eine Woche lang jeden Tag gewissenhaft einhielten. Barney erfuhr das natürlich durch die I.R.A., die irische Revolutionsarmee, und sah infolge dieser ganzen Geschichten Kitty erst im Juni wieder. Sie hatte auf Umwegen erfahren, wo er sich aufhielt, und ihm einen kameradschaftlichen Gruß geschickt. Das machte ihm Mut, und er bat sie, doch auf dem Hof vorzusprechen, da er jetzt endlich auf Besuch heimkommen würde. Sie erschien auch gleich an einem der nächsten Abende nach Geschäftsschluß und fand sich gut in Peadar Phelans oder, richtiger gesagt, Maggies Stuben zurecht; denn Stuben sind schließlich mehr Sache der Frauen und mehr ein Bild ihrer Arbeit als der des Mannes.

Es war sauber in ihrer Stube – sauber bis in den letzten Winkel. Der steinerne Fußboden, der Kamin mit dem Kesselschwinger, die Blumentöpfe unter der Decke, das Spinnrad – alle waren Zeugen dafür, die gedämpft und ein wenig kühl von täglicher Ordnung und Pünktlichkeit sprachen. Obwohl nie müßig, war Maggie doch nie besonders geschäftig. Sie gehörte zu den Leuten, die viel vor sich bringen, weil sie jedes Ding zur rechten Zeit tun, und nie schlampig arbeiten, weil sie nie etwas auf später verschieben. Ihre Schürze war weiß, wenn die grobe Arbeit in der Frühe hinter ihr lag, und ihr Haar war weiß, auch ihr Gesicht war weiß, obwohl sich niemand erinnern konnte, daß sie je irgendwie krank gewesen wäre.

Auf Kitty wirkte es wunderbar beruhigend, Maggies magere und feste Hände zu beobachten, wie sie die Stricknadeln führten, ohne jede Hast und mit der Regelmäßigkeit einer guten Maschine. Bisweilen unterbrach sie die Arbeit für einen Augenblick, um sich mit einer Stricknadel am Kopf zu kratzen oder mit dem Handrücken unter der Nase durchzufahren – Bewegungen ohne besonderen Zweck oder vielmehr mit dem unbewußten Zweck, zu zeigen, daß sie keine Maschine war. Ihr Wesen war Freundlichkeit, aber eine verhaltene Freundlichkeit, die sie niemals zu übertriebenen Gefühlsäußerungen verleitete. Etwas Humor hatte sie auch. Als Vater Parker sie eines Tages bekümmert fragte, ob sie den Eindruck hätte, daß die arme Familie da droben, fünfhundert Schritt weiter die Straße hinauf, jetzt darauf bedacht wäre, den Fasttag einzuhalten, antwortete sie freundlich und ohne jeden Spott: «Am Freitag zu fasten, kann für die Leute keine Kunst sein, aber an einem Feiertag mal ein Stückchen Speck zu ergattern, das wäre für sie eine Kunst, um nicht zu sagen ein Mirakel!»

Kitty hatte Maggie allein daheim getroffen, und die alte Frau hatte sie mit einem kurzen Abriß ihrer Erfahrungen auf dem Gebiete der Hühnerzucht unterhalten, und Kitty, die auch etwas von der Sache verstand, war mit Maggie durchaus darin einig, daß man den Hühnern die Eier direkt unterm Steiß wegschnappen muß, wenn sie die Bezeichnung «erstklassig» verdienen sollen. Auch sprachen sie von den Enttäuschungen, die man dabei in andrer Hinsicht erleben kann, denn nur wenige sind sich klar darüber, was für eine große Rolle Dinge wie Gesundheit, gute Laune, Futter und ähnliches bei den Tieren spielen. Da gab es Leute in Kittys Heimat, die fütterten die Hühner mit Fischen … rohen Fischen! Maggie bekreuzigte sich entsetzt und bemerkte, daß man wirklich sonderbare Sachen erleben könnte, und das veranlaßte Kitty, eine Geschichte von einem Jungen aus ihrer Gegend zu erzählen, der einen Bauernhof angezündet hatte, um tags darauf in der Glut Kartoffeln braten zu können.

«Das kommt von der Pfadfinderei, da kriegen sie alle den Koller!» sagte Maggie und fegte mit einer einzigen Handbewegung Baden-Powell und sein Werk zur Tür hinaus, fort aus jeder ehrbaren und anständigen Gesellschaft.

Inzwischen war Peadar Phelan hereingekommen. Der alte Mann war noch in seinen unglaublich hohen Jahren so schmuck, daß man sich wohl vorstellen konnte, welche Qualen er vor achtzig Jahren allen irischen Mädchen bereitet haben mochte, die das Pech gehabt hatten, ihm in den Weg zu laufen. Mit viel Humor erzählte er, wie man ihn behandelt hatte, als er das erstemal nach London kam. Als er nämlich dort einen Droschkenkutscher nach einem bekannten Gasthof in der Nähe des Eustonbahnhofs fragte, versprach ihm der Rosselenker, ihn sicher hinzubringen, und Peadar stieg ein. Als Peadar drei Viertelstunden gefahren und dabei von Minute zu Minute zappliger geworden war, hielten sie endlich vor einem hübschen kleinen Gasthof, und Peadar bezahlte. Drinnen fragte ihn der Portier, wo er herkäme, und als er hörte, daß Peadar vom Eustonbahnhof kam – was er übrigens seiner Sprache nach ohnehin nicht bezweifelt hatte – führte er ihn ans Fenster, zeigte auf ein häßliches Gebäude gerade gegenüber und fragte: «Siehst du das Haus da?» Und da Peadar an den Augen nicht das geringste fehlte, erklärte der Portier kopfschüttelnd: «Das ist der Eustonbahnhof … Ihr werdet auch nie gescheiter!» Der Alte lachte selbst laut über diese Geschichte und war den Engländern nicht im geringsten gram, eher klang etwas wie Bewunderung in seiner Stimme mit. Durch Kittys Beifall ermuntert, erzählte er noch einige von seinen seltsamen Erlebnissen in der großen Stadt, so die Sache mit dem Mann, den er gefragt hatte, ob er ihm nicht sagen könnte, wo die Westminster-Abtei sei, und der ihm mit geheuchelter Gekränktheit erwidert hatte: «Sie dürfen ruhig meine Taschen durchsuchen, Herr Nachbar!» Kitty wußte wohl, daß dieser Scherz viel älter war als die Westminster-Abtei, aber sie lachte doch, denn es war ihr wirklich ein Vergnügen, wie sich Peadar selbst freute.

Als endlich Barney von einem Besuch in der Nachbarschaft heimkam, entdeckte Kitty, daß sie ihn fast gar nicht vermißt hatte. Kaum daß sie ihn kannte, gefiel ihr der alte Mann schon so gut, daß sie ebenso gern bei ihm in der Stube geblieben wäre, statt mit Barney, der sie darum bat, zum Wasserholen aufs Feld hinauszugehen. Die Quelle lag ein paar Minuten vom Hause entfernt, nach dem Grundsatz: «Wenn Gott das Wasser dort hat entspringen lassen, ist es nicht unsere Sache, daran was zu ändern», weswegen denn auch die Leute in Irland ganz zwecklos jährlich Hunderte von Meilen hin- und herlaufen. Barney verhielt sich schweigsam, bis er die Kessel und einen Eimer gefüllt hatte. Dann bat er das Mädchen, das kleinste Gefäß zu nehmen, und fügte leise hinzu: «Wissen Sie schon, daß sie gestern gehenkt worden sind?»

«Das war ja zu erwarten», entgegnete sie halblaut.

«Sie starben wie Irländer!» fuhr Barney fort. «Sie versprachen, drüben, wo sie jetzt sind, für Irland zu beten.»

Er setzte die Gefäße nieder und wühlte in seinen Taschen: «Ich hab hier die Proklamation, die sie uns als letzte Botschaft schickten: … Kämpft weiter! … Laßt nicht nach im Kampf für Ruhm, Ehre und Freiheit unseres teuern alten Irlands!» Er las ihr die ganze Botschaft vor. Die hingerichteten Aufrührer waren Maher und Foley, die am Tag zuvor früh um sieben Uhr ihr Leben hatten lassen müssen.

«Das ist sonderbar», sagte Kitty nach einer Pause, «ich hatte nach dem, was ich über Sie hörte, den Eindruck, Sie wären für die republikanische Arbeit nicht recht geeignet, aber wenn ich Sie so anseh, scheinen Sie mir doch aus dem richtigen Stoff zu sein. Lassen Sie uns jetzt, wo es drauf ankommt, nicht sitzen! In kurzer Zeit ist die Sache vorbei. Wir werden die Henker bald über den Kanal heimgeschickt haben.»

Er entgegnete kurz: «Ich pflege niemand sitzenzulassen, aber … aber … aber es ist eine höllische Schweinerei!»

«Was ist eine höllische Schweinerei?» fragte Kitty überrascht.

«Dies Mörderhandwerk! Stellen Sie sich doch bloß einmal vor: zu liegen und zu warten, Minute um Minute, Stunde um Stunde, an der Stelle, wo wir wissen, daß sie früher oder später vorbeikommen müssen. Wir haben Befehl, zu schießen, sobald sie in der Falle stecken. Endlich kommen sie; und wie sehen sie aus, diese bluttriefenden Banditen? Ich werde Ihnen sagen, wie sie zum Beispiel bei mir aussehen: da um die Ecke vom Armenhaus, wo wir im Hinterhalt liegen – Hinterhalt, immerfort Hinterhalt! – kommen die ersten Reihen und singen: ‹ Daisy, Daisy …›» Er hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: «‹ I am half crazy all for the love of you …› Sie kennen das ja … Aber es sind die reinsten Jungen, Spielkinder, die sich ihre Blechtöpfe am Riemen vor die Brust gehängt haben, weil man sie bei der Hitze nicht auf dem Kopf haben kann … warm war's an dem Tag wie in einem Hosensack … und nun kommen sie immer näher … ich glaube, dieser Gesang wird mich dreißig Jahre verfolgen. So … und jetzt sind sie da. Jetzt sollen wir schießen. Und ich, ich soll das Zeichen geben. Aber ich kann nicht. Schließlich fängt es aus dem Armenhaus zu knattern an, wo der Haupttrupp unserer Leute liegt. Die Jungen fahren zusammen, ein paar machen ihre Schießeisen fertig und ballern los. Sie sehen sich instinktiv nach einer Deckung um, obgleich sie ebenso instinktiv wissen, daß es keine gibt. Nein, ausgeschlossen! Rechts und links vom Weg sind hohe Mauern, und im Schutz der Bäume hinter diesen Mauern sitzen wir verhältnismäßig sicher und feuern. Ein paar von den Jungen schreien auf, die meisten aber singen … Sie wissen … Daisy, Daisy … Das ist's aber, was nicht in meinen Schädel hinein will, daß ich vielleicht für solche Taten von späteren Zeiten als Held gefeiert werde.»

Kitty lächelte finster: «Wer sagt denn, daß spätere Zeiten Sie als Helden feiern werden?»

Verletzt und unsicher sah er sie an: «Ich versteh nicht …»

Er hatte goldene Härchen auf den Händen. In der purpurroten Junidämmerung glichen ihre Augen mehr denn je zwei dunkeln samtenen Höhlen. Sie musterte seine Hände, und er forschte in ihrem Gesicht.

So kam die warme Dunkelheit, und sie saßen am Herd, tranken Tee und aßen gebackene Klöße mit Eingemachtem. Bevor sie ging, zog er sie mit sich in die Staatsstube und zeigte ihr zwei schwere Revolver. Die Stube war von jener Ungemütlichkeit, die man in allen bäuerlichen Staatsstuben der Welt findet. Denn die wirkliche Gemütlichkeit hat ihren Platz in der Küche. Hier lebt der Geist des Hauses. Hier ist das Feuer und das Wasser, und über jedem Stuhl und jedem Gerät liegt es wie ein Hauch menschlicher Wärme. Staatsstuben aber eignen sich zur Aufbewahrung von Revolvern, namentlich wenn man dafür irgendwo in der Wand einen Hohlraum geschaffen hat.

Kitty blickte beinah verliebt auf die beiden Waffen und sagte: «Bei Gelegenheit werde ich Ihnen auch die meinen zeigen.»

Auf der Schwelle bemerkte er: «Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Aber dies Leben auf der Walze macht mich ganz krank.»

«Sie sind so empfindlich wie ein Landbriefträger!» entgegnete sie schonungslos, «aber ich werde schon ein Auge auf Sie haben.»

Das Dorf, in dem Peadars Hof liegt, heißt Rotkreuz. Der Weg von dort in die Stadt hinunter ist ziemlich steil, und da Kitty ihr Rad nicht bremste, legte sie ihn in wenigen Minuten zurück. Dabei dachte sie kopfschüttelnd an den unschlüssigen Jüngling, muß aber nicht ausschließlich von Skepsis gegen ihn erfüllt gewesen sein, denn nicht sehr lange darauf machte sie der «Tribüne» einen Besuch, um eine Anzeige einrücken zu lassen. Die stand auch richtig drin, als sie am Abend nachsah und lautete:

Innigen Dank dem Geweihten Herzen und
ein Blümlein für empfangene Gnade. (272)

Ihre Dankbarkeit beruhte darauf, daß Barney bei einer Minenexplosion mit einem gebrochenen Arm davongekommen war. Die Nachricht hatte ihr eine furchterweckende Militärperson der republikanischen Streitkräfte überbracht, ein junger Mann, den sie zwölf Jahre zuvor drüben im Westen, wo sie beide aufgewachsen waren, als sommersprossigen x-beinigen und wehleidigen Rangen gekannt hatte. Aus Freude über die Nachricht willigte sie ein, mit ihm ins Kino zu gehen, wo sie sich den «Millionär ohne Geld» ansahen und er das Dunkel zu einem Annäherungsversuch benützte. Mit einem Stich ihrer Broschennadel in seinen Schenkel löste sie diese Frage so elegant wie einen Patentknoten.

Die folgenden Tage aber verbrachte sie ihre Mittagpause mit der Fütterung von Vögeln, statt in die Versammlungen der Cumann na mBan zu gehen. Meist waren es Rotkehlchen, die aus dem Garten hereinflogen, höchst zutraulich auf dem Tisch herumhüpften und ins Brot und in die Butter pickten. Eines Tages aber glückte es ihr auch, das halbzahme Eichhörnchen zum Ablegen seiner Scheu zu bekommen, so daß es Nüsse von einem Tellerchen fraß. Dabei fühlte sie sich, um ein Volkswort zu gebrauchen, «wie die Geiß im Haberfeld».

 

4

Kitty fing an, ihre Umgebung gelegentlich zu verblüffen. Eines Tages sagte sie zu Frau Holden, der Frau ihres Prinzipals, sie gedenke sich nächstens ein Kind anzuschaffen – eine Bemerkung, die Minnie Holden ärgerte; denn sie hatte acht und sah nicht darnach aus, als wäre die Produktion schon eingestellt.

«Du bist aber verdammt modern geworden neuerdings!» sagte sie spitz.

«Modern!? – Du gerechter Engländer! Ich bin so altmodisch wie ein Bleistift. Aber wenn man ein Paar Hüften mitbekommen hat und Appetit drauf, seh ich nicht ein, warum man sich nicht was Kleines zulegen soll.»

«Das soll wohl ein Republikaner werden mit großem R et cetera pp.!» sagte Frau Holden spöttisch.

«Selbstverständlich!» gab Kitty zurück. «Mit Revolver und Knarre und Hol der Teufel Lloyd George! … Nein, liebe Minnie, er soll hinter dem Ladentisch stehen und Bändchen und Knöpfe verkaufen: Womit kann ich der gnädigen Frau dienen? … Dürfen wir es Ihnen zuschicken? … Grade haben wir etwas hereinbekommen … einfach ein Gedicht, gnädige Frau! und so weiter. Welch eine Freude für ein Mut-ter-Herz! … Gott soll mich schützen!»

«Wenn du mit der Branche nicht zufrieden bist, solltest du dir was Romantischeres suchen!», sagte Frau Holden, worauf Kitty, schon auf der Treppe ins Büro, die Debatte laut mit den Worten schloß: «Das kann ich vielleicht machen. Und zum Beispiel mit Fischhandel etwas verdienen.»

Auch auf andre Weise begann Kitty die Leute zu verblüffen, die sie kannten, seit sie in die Stadt gekommen und in die Dienste des Herrn Holden, eines entfernten Verwandten von ihr, getreten war. Besonders überraschend wirkte es, daß sie jetzt ab und zu in der Gesellschaft von schwarzbraunen Leutnants gesehen wurde. Mit dem Kosenamen «Schwarzbraune» bezeichnete der Volksmund die verdächtige, von England zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Unterstützung der regulären Gendarmerie – R.I.C. Royal Irish Constabular PG – herübergeschickte Truppe. Den Namen hatte sie wegen ihrer mehr oder weniger reglementswidrigen Uniformen bekommen, über die man eine Menge Spottlieder gedichtet hatte, die aus allerhand Löchern und Ritzen hervorquollen, ohne daß jemand nachweisen konnte, woher sie kamen. Auch die Leutnants des Hilfskorps, eines etwas achtungswerteren, demselben Zweck wie die Schwarzbraunen dienenden Regimentes, machten ihr ihre Aufwartung. Es fing damit an, daß sie eine Vorladung ins englische Hauptquartier erhielt, um sich dort über gewisse Personen auspumpen zu lassen. Dazu gehörte auch ein gewisser Barney Mac Cleary.

«Kennen Sie einen jungen Mann mit Namen Mac Cleary, Fräulein?» fragte sie ein ungemein höflicher Herr vom Nachrichtendienst.

Es brauchte eine ganze Weile, bis Kitty nach vielen und langen Umwegen darauf kam, daß sie Barney einmal getroffen habe.

«Warum nennt man ihn denn Barney Ciotach?» fragte die Oberintelligenz, unter welchem Namen der Offizier in der Stadt bekannt war.

«Tja, warum?» sagte Kitty und gab zu: «Das klingt komisch, nicht?»

Der Offizier zog eine seiner Brauen hoch und senkte einen seiner Mundwinkel: «Können Sie nicht irisch?»

Kitty erklärte, sie könne es ein bißchen … nicht so besonders gut … jedenfalls nicht gut genug für eine treue Irländerin.

Der Offizier kaute sein Zündholz fertig und fragte: «Sind Sie nicht aus Connemara?»

Drei, vier Fragen ergaben, daß sie nicht in Connemara zu Hause war, aber doch nicht gar so weit davon. Die Oberintelligenz schenkte sich ein Glas Wasser ein, trank einen Schluck und stellte fest, daß er Zeit hätte … den ganzen Nachmittag nötigenfalls. Es läge also in Kittys eigenem Interesse, Vernunft anzunehmen und nicht so viel Umstände zu machen. «Bedeutet es nicht so was wie linkshändig?» fuhr er fort.

«Da Sie es mir sagen …» gab das Mädchen zögernd zu. «Jawohl, es heißt bestimmt linkshändig …»

«Ist er denn linkshändig?» fragte der Offizier gelassen.

Kitty dachte nach. «Ja, das ist er wohl … Das heißt: bei der Begrüßung gibt er einem die rechte Hand …»

«Ja, das tut er!» bemerkte der Offizier trocken, lehnte sich zurück und trommelte mit der Linken einen Marsch auf dem Tisch. Er wußte genau, daß das Wort nicht linkshändig bedeutete. Und das bedeutet es ja auch wirklich nicht, sondern es ist vielmehr ein Wort, mit dem das Volk von alters her Leute bezeichnet, die mit beiden Händen gleich geschickt sind. «Wollen Sie ein Glas Likör oder sonst irgendwas, bevor wir fortfahren?» fragte er unvermittelt.

«Nein, vielen Dank», sagte Kitty, «ich trinke keinen Alkohol.»

«Seit wann denn nicht mehr?» fragte er ohne besondere Betonung.

Sie heftete ihre großen blauen Augen vorwurfsvoll auf ihn, als wollte sie damit sagen, daß es wirklich nicht nett von ihm sei, so ein süßes kleines Mädel mit solchen gar nicht zur Sache gehörenden Fragen zu quälen. Dann sagte sie höflich: «Seit einer Woche!»

«Und warum? … Wenn ich mir die Frage gestatten darf?»

Die langen schwarzen Seidenfransen senkten sich über ihre Augen, und sie errötete. Und während der Offizier sie interessiert betrachtete, entgegnete sie: «Ach, das ist eine sonderbare Geschichte.»

«Doch wohl nicht so sonderbar, daß man sie nicht erzählen kann?» fragte er mit Nachdruck.

«Wenn Sie mir versprechen, mich nicht auszulachen?»

«Auf Ehre!» antwortete er, und sie erzählte ihm, wie die Sache zusammenhing. Was in einer Viertelstunde geschehen war.

«Also, letzten Samstag hatte Herr Holden eine kleine Gesellschaft, Abendessen und Tanz … Nur ein paar Bekannte … Es war sehr lustig, und es wurde auch etwas getrunken … hauptsächlich Whisky .. aber es gab auch Kognak und Genever … Und am nächsten Morgen war der kleine Säugling der Holdens krank.»

Hier unterbrach sie der Offizier: «Ich komme nicht ganz mit … Machen Sie nicht ein bißchen zu große Sprünge?»

«Ich glaube nicht … das gehört schon dazu. Das Kleine lag also da, rot wie ein Krebs und mit hohem Fieber, und röchelte, und man mußte am Ende den Doktor Doyle holen.» Hier machte sie eine Pause, blickte den Offizier scharf an und fragte mit dramatischer Betonung: «Wissen Sie, was dem Kerlchen gefehlt hat?»

Die Ratlosigkeit der Oberintelligenz war durchaus echt, als er entgegnete: «Mir vollkommen schleierhaft!»

«Betrunken! Sternhagelvoll!»

«Ja, haben die dem Säugling denn Whisky gegeben?»

«Jawohl!» sagte sie mit Nachdruck. «Die Mutter … ohne es zu wissen.»

Er starrte die unbeweglich Dasitzende einen Augenblick an. Dann warf er einen Blick auf einen mit Schreibarbeiten beschäftigten Adjutanten, der so lachte, daß der Tisch wackelte.

«Milchgrog?» fragte der Offizier und klemmte sich sein Monokel fest ins rechte Auge, um sich Kittys Erscheinung besser einzuprägen.

«Jawohl!» sagte sie ernst. «Und das muß unser ganzes Geschlecht sich zur Warnung dienen lassen.»

In diesem Augenblick sah er auf seine Armbanduhr, erhob sich und sagte: «Darf ich das Vergnügen haben. Sie im Wagen heimzubringen?» Er durfte es und stellte vor der Haustür noch ein paar abschließende Fragen über Barney Mac Cleary, die sich auf dessen Größe, Breite, Charakter und Gewohnheiten bezogen. «Sie brauchen nicht darauf zu antworten, wenn es Ihnen unangenehm ist», setzte er hinzu.

«Oh, warum sollte mir das unangenehm sein?» entgegnete sie. «Er ist ungefähr mittelgroß und stämmig, ohne aber dick zu sein. Und sein Gewicht? Ja … zwei Zentner hat er wohl sicher.»

«Ein ganz nettes Gewicht, wenn man das wie ein Sportsmann tragen will. Mit dem Gewicht würde ich ihn fett nennen.»

«Ein Trost ist immer noch vorhanden», bemerkte sie dunkel. «Dick Harrow hat sechs Zentner vierzehn gewogen, als er in Davy Byrnes Dubliner Wirtshaus verkehrte.»

Er schien sich nicht weiter für das erwähnte Phänomen zu interessieren, sondern fragte: «Wissen Sie, ob er Offiziersrang hat … oder ob er zu den Leuten gehört, von denen man erwarten kann, daß sie sich bei einer Bewegung hervortun?»

«Es ist ebenso unmöglich, ihn unten zu halten, wie den Rahm bei der Milch!» versicherte sie, verbesserte sich aber nach kurzer Überlegung schnell und fuhr fort: «Er will hinauf, und sei es auch nur wie die Laus in den Federn des Adlers.»

Die Oberintelligenz schüttelte lachend den Kopf. «Gut! … Und jetzt noch eine Frage: Wissen Sie, ob er verwundet ist?»

«Keine Ahnung!» entgegnete sie und sah ihn treuherzig an. «Aber das können Sie ja leicht feststellen, wenn er hier in der Stadt ist.»

«Wenn er hier in die Stadt kommt, hat er – wenn ich mich mit irischer Anschaulichkeit ausdrücken darf – nicht mehr Chancen als ein Schneeball in der Hölle!»

Als das Auto weit genug fort war und der Spiegel nichts mehr erzählen konnte, streckte Kitty die Zunge heraus und rief ihm nach: «Fahr zum Teufel!» Also in die gleiche, vermutlich mindestens sieben Meilen unter unseren Füßen gelegene Gegend, von der der Offizier in Verbindung mit den Chancen eines Schneeballs gesprochen hatte.

Seit diesem Tag aber sah man Kitty häufig in Gesellschaft junger Offiziere aus den beiden Korps, denen die unglückselige Aufgabe geworden war, das R.I.C. bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in Irland zu unterstützen. (Die Haare können einem zu Berge stehen, wenn man an das Ergebnis all ihrer Anstrengungen denkt!)

Als Kitty an diesem Abend das größte von Minnie Holdens Kindern auszog, hörte sie ihm zwei Lieder ab, die viele irische Kinder zu der Zeit für Nationallieder hielten, und zu denen die Schwarzbraunen Gesichter zu schneiden pflegten, als hätten sie Zahnweh. Dann schrieb sie mit unsichtbarer Tinte an Barney und erzählte ihm unter anderm, daß sie ihn in ihr Abendgebet einschlösse. Und das war die reine und lautere Wahrheit. Aber nicht nur sie tat das, sondern auch sechs von den Holdenkindern, für die er nichts war als ein Name und ein nebelhafter Begriff. Sie konnte ja nicht wissen, daß er sich im Augenblick in dem Dorfe Fellwies befand, wo er mit seinem gesunden Arm einem reizenden Spiel oblag, das darin bestand, Gummiringe nach einem Brett zu werfen, das mit Haken besetzt war, an denen die Ringe hängenbleiben mußten, und unter den Haken standen Ziffern wie fünf, zehn, zwanzig usw. Mancher wird schon richtig erraten haben, daß der zahlen mußte, der am Schluß die kleinere Summe geworfen hatte. Zwischendurch stritt Barney mit seinem Freund Roddie über die Frage, inwieweit es zweckmäßig gewesen sei, den Krieg gegen England bei einer derartigen Bereitschaft zu beginnen … oder besser: bei einem derartigen Mangel an Bereitschaft. In bezug auf diese Frage war Roddie der vorsichtigere und hielt eine gute militärische Vorbereitung im Stil von Roger Casement und von Leuten seines Schlages nebst einem entsprechenden Vorrat an Munition für unerläßlich. Barneys Ideal hingegen war in diesen Tagen Dan Breen, der Typus eines unberechenbaren Mietssoldaten, der seine Zeit damit zubrachte, den Schwarzbraunen im Bezirk von Tipperary Fallen zu stellen.

«Was hat denn das für einen Zweck», rief Barney und wog seine Gummiringe in der Hand, «daß einer jahraus, jahrein an seinem Gewehr herumputzt, wenn man ihm die Knarre mit ins Grab geben muß, ohne daß er nur einmal damit geschossen hat … Nein, lieber eine Sense packen oder eine Heugabel und los!

Sensen überm Felde blitzen
In dem wilden Kampf …»

Cloncracken, das Dorf, in dessen Wirtshaus sie dann ein Glas Porter ausspielten, soll seinen Namen daher haben, daß vor vielen Jahren ein Gerber großen Nutzen aus dem Bach zog, der sich daran vorbeischlängelt. Die beiden Vogelfreien aber hatten ebensowenig eine Ahnung davon wie Kitty, die im gleichen Augenblick an Barney schrieb und ihm versicherte, sie schlösse ihn in ihr Abendgebet ein.

 

5

Kitty war die Vorsitzende eines Cumann na mBan-Klubs, dem sie in einem Augenblick der Erleuchtung den Namen «Die Fopper» gegeben hatte. In ihn wurden nur hübsche Mädchen aufgenommen, und wenn die mit den Engländern flirteten, geschah es lediglich, um ihnen etwas herauszulocken oder sie auf eine falsche Fährte zu setzen. Wenn sie sich mit ihnen seitwärts in die Büsche schlugen, taten sie es nur, um sie ihrer Pflicht abspenstig zu machen, und wenn sie sich von ihnen küssen ließen, duldeten sie das nur mit Haß im Herzen und um irgend etwas zu erreichen. Für die braven Kerle unter den Fremden war dieser Zustand greulich und aufreibend, während die Helleren es entwürdigend fanden, daß fast hinter jeder scheinbaren Freundlichkeit offener oder versteckter Haß schlummerte.

Es ist niemals ein beneidenswertes Geschäft, in Feindesland zu kämpfen. In Irland aber war das noch wesentlich unangenehmer als im regulären Krieg, weil es schließlich niemand befriedigen konnte, gegen Frauen, Kinder und Zivilisten zu kämpfen, die die gleiche Sprache sprachen wie man selbst, und deren Männer und Väter einmal im gleichen Schützengraben mit den eignen Brüdern gelegen hatten. Nein, es war ein schmutziges Geschäft und ein aufreibendes Geschäft, denn es bedeutete ein Dasein in einer ewig stickigen Luft voll von versteckter Feindlichkeit und beständig drohender Unsicherheit. Es war der Kleinkrieg gegen Feinde, die unsichtbar im Hinterhalt lagen. Es war der immer und überall lauernde Schrecken, der einen Mann verrückt macht oder ihm die Flasche in die Hand drückt.

Der Mut der Irländer aber bedurfte keines Schutzpanzers wider solchen Schrecken, obwohl es 1921 im Lande von Engländern wimmelte wie von Läusen in einem Russenpelz und die Irländer oft genug dem Tod ins Auge sehen mußten. Doch waren sie dem Feind insofern über, als sie immer oder wenigstens fast immer mit der Sonne im Rücken kämpfen durften. Sie stellten Fallen; sie bestimmten, wann es ihnen paßte, dem Feind zu begegnen, sie hatten ihre Sippen als Rückhalt und sie kannten jedes Schlupfloch im Lande.

Und was nicht das Wenigste war: sie hatten die Frauen hinter sich. Unter ihnen war Kitty eine der tätigsten, und während der Sommer sich seinen Weg durch Wald und Flur bahnte, wuchs ihre Arbeit beständig. Aber selbst wenn sie ihre Stellung bei Daniel Holden hätte aufgeben können, hätte sie doch stets damit rechnen müssen, daß das englische Hauptquartier sie nicht aus dem Auge lassen und Fragen stellen würde, wenn sie nicht mehr im Geschäft zu finden wäre. Ihre Freunde unter den Leutnants warnten sie und schienen samt und sonders Schwestern und Freundinnen in England zu haben, bei denen sie Aufnahme finden könnte. Ihre Versicherungen aber, daß sie ein ganz gewöhnliches, harmloses Ladenmädel sei, beantworteten sie mit einem Achselzucken.

Es schien ihr also höchste Zeit für etwas Außergewöhnliches, und das trat dann auch ein. Eines Tags ließ sie sich bei der Oberintelligenz melden und zeigte weinend ihr Haar vor, oder vielmehr die Stelle, wo es gesessen hatte. Denn es war abgeschnitten. Was sich ihren Angaben nach so ereignet hatte: auf ihrem täglichen Weg zur Bank wäre sie an der Ecke der Steigbügelgasse und des Junggesellensteigs plötzlich gepackt und in einen dunkeln Hausgang gezogen worden, und dort hätten ihr zwei Männer das Haar abgeschnitten und ihr einen beschriebenen Zettel in den Busen gesteckt. Den legte sie jetzt auf den Tisch. Auf ihm stand: «Verurteilt. Bereite dich auf den Tod vor. Die Hand eines irischen Revolutionärs wird dich richten. I.R.A.»

Den Offizier schien das nicht weiter aufzuregen, er fragte: «Haben Sie schon früher Drohbriefe bekommen?»

«Ja, zwei. Auf dem ersten stand: Merk dir: wenn du dich noch öfter mit Engländern zeigst, bist du erledigt.»

Er fragte: «Ist Ihnen Geld genommen worden? … Sie sagten doch, Sie waren auf dem Wege zur Bank?»

Hierauf war Kitty vorbereitet, sie zeigte ihm einen roten Striemen, der ihr um das rechte Handgelenk lief. «Ich trage die Kette der Tasche immer ums Handgelenk geschlungen. Sie haben daran gerissen …»

«Und es dann aufgegeben, ohne die Tasche zu plündern, wo sie doch Zeit genug hatten, Ihnen die Haare abzuschneiden?»

«Ja, es kam jemand dazu», entgegnete sie.

«Wer? … Haben Sie Zeugen?»

Auch dafür war gesorgt. Zwei Leute hatten die Täter davonlaufen sehen.

«Ich werde den Fall untersuchen», sagte er kurz. «Kommen Sie morgen wieder!»

«Ich verlange Schadenersatz!» rief sie wütend.

«Das gehört nicht zu meinem Ressort, wie Sie recht gut wissen. Im übrigen glaube ich nicht ein Wort von der ganzen Geschichte!»

«Was soll das heißen? … Sie glauben mir nicht?»

Er zögerte mit der Antwort, kramte unter den Akten und Papieren und zog ein Buch heraus, ein schmales, graues Büchlein von dem nüchternen Aussehen eines Schulbuches, und warf es ihr mit den Worten hin: «Haben Sie das schon mal gesehn?» Sie kam gar nicht zu einer Antwort. Seine Stimme, die dem Knittern von dünnem Papier glich, schnitt ihr das Wort ab, bevor sie noch beginnen konnte: «Machen Sie sich nicht erst die Mühe, Ihre unleugbaren dichterischen Fähigkeiten zu strapazieren! Das ist ein Mitgliederverzeichnis Ihres Amazonenkorps.»

Auf dem Heimweg traf sie einen der beiden von ihr instruierten Zeugen. «Sand im Kugellager!» antwortete sie auf die Frage, wie es gegangen sei.

Als sie am andern Tag wiederkam, fand sie niemand, der Zeit hatte, sie anzuhören. Es krachte und knatterte im ganzen Bezirksamt und den benachbarten Ämtern. Die Polizeikaserne in Macoyle lag drei Viertelstunden lang unter scharfem Feuer. Bei Knockbreaga fielen drei englische Panzerwagen in einen Hinterhalt, und der größte Teil der Mannschaft blieb auf der Strecke. Draußen vor Tullycoe flog eine Brücke in die Luft, und gefällte Bäume sperrten die Wege, wohin man sich auch wendete.

 

6

In der Stadt selbst war es längere Zeit verhältnismäßig ruhig, obwohl jeder bis zehn Uhr zu Hause sein mußte, der nicht Gefahr laufen wollte, auf dem Heimweg erschossen zu werden. Der Plakatkrieg zwischen der I.R.A. und den Engländern gehörte zu den kleineren, den Tag belebenden Ereignissen, und Haussuchungen waren so alltäglich, daß man höchstens noch seinem Nachbar davon erzählte. Die Zahl der kriegsgerichtlichen Verurteilungen aber wuchs ständig: Fünf Jahre wegen Besitzes von Munition und verbotener Literatur. – Vier Wochen Zwangsarbeit wegen Anklebens eines Zettels an eine Wirtshaustür, auf dem die Schließung dieses Lokals verlangt wurde. – Acht Wochen wegen Besitzes zweier Regierungsobligationen. – Fünf Jahre wegen Besitzes von Munition. – Drei Monate wegen Besitzes einer Nummer von An t-Ogac und zweier Regierungsobligationen … Solche Bestrafungen ließen sich ins Unendliche aufzählen, und nur selten kamen andere vor, wie etwa die Beschlagnahmung der Amtsrobe des Bürgermeisters oder die Abführung von vier Mitgliedern des Stadtrats. Diese wurden auf Lastautos inmitten eines Haufens von Schwarzbraunen mit aufgepflanztem Bajonett fortgebracht – Ziel unbekannt. Tausende waren auf den Füßen, um ihnen bei der Abfahrt zuzuwinken, und kaum hatten sie die Stadt verlassen, da explodierten auch schon zwei Bomben unter den Autos.

Das Krachen der Bomben da draußen wurde in der Stadt nicht gehört, aber auch hier geschah etwas. Es war kurz nach Mittag, und Kitty hatte im Lagerraum im ersten Stock zu tun. Es war ein schwüler Herbsttag, und von der Straße herauf hörte man den einförmigen Ruf einer Obstfrau, die ihre Waren feilbot. «Äpfel, Apfelsinen, einen Penny das Stück!» sang sie. Im Lager wünschte man sie meilenweit fort … «Einen Penny das Stück … Äpfel, Apfelsinen … einen Penny das Stück!» Plötzlich ertönte das ohrenbetäubende Krachen einer Bombe. Das Haus erzitterte in seinen Grundfesten, die Erde schien zu beben. Da war bestimmt eine Bombe geworfen worden, und zwar ganz in der Nähe. Keine hundert Meter von hier. «Einen Penny das Stück!» rief die Frau wieder. Und wieder krachte eine Bombe, gefolgt von dem gleichen Ruf: «Einen Penny das Stück!» … Eine Sekunde, nachdem flink hintereinander ein paar Schüsse gefallen und ein paar Männer, die mit ihren Revolvern nach allen Richtungen zielten, vorübergelaufen waren, rief die Obstfrau wieder: «Einen Penny das Stück! Äpfel, Apfelsinen!» Im gleichen Augenblick aber erfolgte eine neue und so gewaltige Explosion, daß die Scheiben in tausend Stücke sprangen und die erschrockenen Mädchen von ihrem Instinkt getrieben in die hinteren Räume des Hauses flüchteten. Keine von ihnen weinte, nur bleich waren sie und zitterten.

«Ach du gerechter Schotte!» sagte die eine. «Was war das?»

«Landmine!» entgegnete Kitty. «Das kann nichts andres sein, obwohl ich noch nie eine gehört hab! Die Jungen haben mir mal ein paar gezeigt. Sie basteln sie aus Zement und Metall zusammen und stopfen sie mit allerhand Teufelszeug voll.»

«Sie muß grade hier vor der Tür geplatzt sein!» meinte eine andere. «Unser Laden wird ja reizend aussehen!»

Vorsichtig schlichen sie hinunter, um ein Bild von der Zerstörung zu bekommen. Draußen auf der Straße herrschte fast Totenstille, nur eine Frauenstimme stritt lebhaft mit der Stimme eines Mannes aus Aberdeen oder Edinburg. Doch klang es bei ihr eher verdrossen als eigentlich aufgeregt. «Ihr seid doch die richtigen Schweine!» sagte sie aus tiefer Überzeugung heraus. «Kaum daß das Geschäft ein bißchen angefangen hat und ein paar elende Groschen abwirft, kommt ihr daher und macht es kaputt! Aber wir werden euch das Leben schon noch so sauer machen, daß ihr gern heimfindet!»

Die Männerstimme entfernte sich brummend. Gleich darauf aber hörte man eine andere frische Stimme: «Wo ist der Kerl hin, Großmutter?»

«Ja, wo ist er hin?» eiferte die Frau. «Außerdem bin ich nicht eure Großmutter.» Hieran schloß sie Mutmaßungen darüber, wo diese Dame vielleicht zu finden sein könnte.

Die Männerstimme aber, die sehr jugendlich klang, sagte: «Ach, hör auf! Er ist hier verschwunden … Du hast es recht gut gesehn! Wenn du nicht sofort mit der Sprache rausrückst, wirst du eingelocht, sobald wir Zeit dazu haben.»

«Sauber!» rief sie schneidend. «Deine Großmutter einsperren! Ausgezeichnet! Erst schmeißt ihr ihr die Äpfel auf den Boden, und dann schimpft ihr sie noch aus, weil ihr Korb euern Schießprügeln im Weg ist!»

Nun wurden mehrere Stimmen laut. Eine tiefe melodische Londoner Stimme ersuchte die andern, lieber was zu tun, statt hier Vorträge zu halten. «Sicher ist er dort die Gasse hinaufgelaufen», fuhr der Mann fort. «Und ist er erst einmal richtig in diesem Rattennest drin, können wir das ganze Viertel in die Luft sprengen, bevor wir ihn kriegen. Ich kenn das Viertel, und meine Schuld ist es nicht, daß es noch steht.»

Die anderen verzogen sich nun auf Befehle hin, in denen sich Personen- mit Straßennamen verbanden. Kaum waren sie fort, da rasselte schon der erste Panzerwagen vorbei, ohne zu halten. Kurz darauf kam ein Zug in Viererreihen, vier weitere folgten ihm. Die Soldaten schrien und schossen ihre Revolver in die Luft ab. Zehn Minuten später verkündete ein großer Radau ein Stück straßenaufwärts, daß Cornelius O'Deas Wirthaus das Schicksal Jerusalems erlitten hatte, und dies bildete die Einleitung zu einer der lebhaftesten Episoden in diesem Abschnitt der Stadtgeschichte, dem es an Lebhaftigkeit doch ohnehin nicht fehlte. Mindestens die Hälfte von sämtlichen Schwarzbraunen holte sich einen Kanonenrausch, und wenn es nur irgendwie gegangen wäre, hätten sie die ganze Stadt in Stücke gerissen und es den Bewohnern überlassen, sie selber wieder zusammenzuflicken. Aus dem Armenhaus holten sie ein Dutzend Insassen heraus und aus dem Rathaus alle Dokumente, die vom Vormittag noch übrig waren. In dem Viertel hinter Daniel Holdens Haus kehrten sie drei volle Stunden lang das Unterste zu oberst und nahmen aus Mangel an etwas Besserem zwei Frauen mit, die sich hatten zuschulden kommen lassen, was die Engländer in der für sie kennzeichnenden maßvollen Art «dummes Gewäsch» nennen. Begraben werden mußten vier Zivilisten, außerdem gab es mehrere Verletzte.

Hinten in Sean Quilters Friseurladen saß Barney, nachdem er den Engländern entwischt war, zwei volle Stunden. Zuerst wurde er rasiert, dann wurden ihm die Haare geschnitten und der Kopf gewaschen. Hierauf behandelte man ihm das Haar mit einem Mittelding von Riesenzündholz und Miniaturfackel, ölte es ein und stellte darauf noch einiges andere mit ihm an.

Als er am Nachmittag den Laden verließ, hatte er ein Valentinobärtchen und glich aufs Haar einem etwas geckenhaften protestantischen Pfarrer. In der naturgetreuen Gangart eines solchen schlenderte er zum Kai hinunter, neben ihm tippte ein Regenschirm aufs Pflaster, und seine Augen starrten angestrengt durch eine ihm äußerst lästige Brille. Drin in Daniel Holdens Geschäft wünschte er etwas in Unterwäsche zu sehen, «aber etwas Solides, nicht diese modernen Fischnetze, oder wie man sie sonst nennt».

«Schreckliche Zeiten sind das, in denen man lebt!» sagte Herr Holden und blickte sich in der Zerstörung um, die durch Zerspringen einer großen Schaufensterscheibe entstanden war.

«Grau-en-haft!» sagte der falsche Geistliche. «Prüfungen über Prüfungen!»

Der Friseur Sean Quilter verfolgte sein Werk mit den Augen, bis es ihm aus dem Gesicht entschwand, und sein Blick war nicht ohne Anerkennung. «Er hat schon das Zeug für allerhand in sich!» sagte er befriedigt zu seinem Lehrling. «Wenn diese Burschen nur nicht zu eingebildet wären, um zum Fachmann zu gehen!» Dann schloß er die Tür und drehte den Schlüssel herum. Kurz darauf verkündete ein Schild, daß der Laden über Mittag geschlossen sei. Und dies Schild blieb bis zum nächsten Morgen hängen.

Die Obstfrau hatte längst wieder aufgelesen, was von ihren über Bord gegangenen Äpfeln noch brauchbar schien, und ihr Ruf klang nun hie und da aus einer fernen Stadtgegend herüber. Draußen vor dem Glockenturm aber war ein Handkarren mit getrockneten Fischen einsam stehengeblieben und streckte seine Deichsel in die Luft wie ein melancholisches Fragezeichen.


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