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Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen
9 (1908) S. 607-610
Der Roman spielt in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts.
Er schildert einige der damaligen Kreise gebildeter Homosexuellen, und neben den individuell-psychologischen Momenten ein spezielles Milieu behandelnd, erhebt er sich zur Sittendarstellung.
Eine ganze Anzahl typischer Vertreter der Homosexuellen sind trefflich gezeichnet.
Es sind da zu nennen: Der junge ausländische Graf Tozoli, der nur seinem Vergnügen lebt und das Geld mit Händen hinauswirft, der plastische Spiele und Ringkämpfe in seiner Wohnung veranstaltet.
Der feinfühlige Fedi, der seine Freundschaft zum teuren Freund nicht mit einem andern teilen kann, der Philanthrop und Gelehrte von europäischem Ruf Dr. Bovet, der alte preußische Adlige, Herr von Kreutzberg, der in den großen sogenannten Maltzahnschen Urningsprozeß einst verwickelt, mit ausgesuchtem Takt seine Freunde selbst davor warnt, sich mit ihm auf der Straße zu zeigen.
Der Postdirektor Ackermann, der ängstlich auch vor den Gleichgesinnten seine Neigung verbirgt und »wie das Feuer« die homosexuellen Kreise meidet, der jährlich von seiner »Schwarzwaldreise« zu erzählen weiß, aber in Wirklichkeit in Neapel Entschädigung für seine Zurückhaltung in Berlin sucht. Der Regierungsrat Lorenz, der trotz seiner Neigung heiratet, »denn er war ehrgeizig, er gewann viel durch diese Heirat und namentlich Protektion. Zudem leistete seine außerordentliche Vorsicht und Klugheit eine gewisse Garantie.« (S. 130 [oben S. 118].)
Dann die Haupthelden: Richard und dessen Freund Dubois. Richard, der etwas leichtsinnige junge Künstler, aber zugleich offenherzig, freimütig, voll Abscheu vor dem Zwang des Doppelspiels, zum Schluß das Bekenntnis seiner Qual und seiner Leidenschaft seiner Mutter ablegend, die unter der Wucht dieses unerhörten Geständnisses am Herzschlag stirbt.
Richard ist noch schuld an einem tragischen Ereignis, an dem Selbstmord seines Freundes Dubois. Der Gymnasiast Karl, mit dem er ein inniges Liebesverhältnis unterhalten, stirbt in der Erziehungsanstalt, wohin der Vater, Prof. Ziegler ihn nach Entdeckung des Liebesbundes gebracht.
Richard ohrfeigt den Professor im öffentlichen Lokal in Gegenwart von Dubois.
Dubois fürchtet wegen seiner intimen freundschaftlichen Beziehungen zu Richard durch den Vorfall kompromittiert zu sein; nach verschiedenen lächerlichen Handlungen, die er in seiner Bestürzung und Angst begangen (z. B. öffentliche, zur Schau getragene Spazierfahrt mit Dirnen durch die Friedrichstraße), tötet er sich.
Die Motive für Dubois' Selbstmord erscheinen auf den ersten Blick etwas schwach und seine Handlungsweise etwas seltsam, sie werden aber erklärlich bei näherer Betrachtung seines Charakters. Dubois stellt den Typus jener zahlreichen Homosexuellen dar, welche zwar die homosexuelle Welt kennen und aufsuchen, aber daneben auch in den Kreisen der Normalen sich wohl und glücklich fühlen, denen auch der gesellige und gesellschaftliche Verkehr mit der heterosexuellen Welt derart Lebensbedürfnis ist, daß sie ihn um keinen Preis entbehren und verlieren möchten. Deshalb ist Dubois auch imstande, am Stammtisch heterosexueller Lebemänner den eigenen Freund wenigstens in Reden zu verleugnen.
Einen solchen Mann, wie Dubois, der mit allen seinen Fasern an der normalen Welt hängt und dem der Verlust seines Ansehens in der Gesellschaft ein entsetzliches Unglück bedeutet, wird auch die drohende Besorgnis, ein Ausgestoßener oder nur ein Gemiedener im Kreise seiner Standesgenossen zu werden, in Verzweiflung bringen und zum Selbstmord befähigen.
Noch ein für die Denkungsart mancher Homosexueller charakteristischer Zug findet sich bei Dubois: seine Scheu vor der allgemeinen Aufklärungsarbeit über die herrschenden Irrtümer und die homosexuelle Wirklichkeit. Diese Abneigung hängt einmal mit der Furcht einer größeren Gefahr persönlicher Entdeckung bei allgemeiner Kenntnis der wahren Verhältnisse zusammen, aber auch mit einer Art Scham vor fremden Blicken, vor andersfühlenden Zuschauern, endlich mit der nur ungern vermißten Freude an dem Geheimnisvollen, mit dem genußvollen Reiz des Absonderlichen und Gefährlichen. (Zu vgl. S. 166-168 besonders [oben S. 150-152].)
»Wenn man dieses tiefe, lange und feste Schweigen brechen würde, was für ein vulgäres Geklapper müßte nicht die Folge sein.« …
»Journalisten und ähnliche Patrone würden in hellen Haufen herbeiströmen, um Blicke zu tun in unsere Seelen, die doch wahrhaftig nicht für solche Schnüffeleien da sind.«
… »Wo blieb die Gefahr und Glut und Inbrunst der abgelegenen Zellen, der unterirdischen Gewölbe und heimlichen Werkstätten?«
»Wir sind die letzten Hüter erlauchter Mysterien und nun – Verrat im eigenen Lager! Der Herr Assessor läuft hin und ist bestrebt, uns den Dummköpfen, den Nüchternen und horribile dictu! den Medizinern auszuliefern.«
»Gedenke der verschwiegenen Gärten und Plätze in Paris, in London, in Berlin, im kleinsten Krähwinkel. Dieses Rendez-vous hat seine vielhundertjährigen Traditionen. Und nun rekonstruiere Dir das Bild der Kameradschaft im Mittelalter. Wie oft mag diese Gewalt im geheimen die ganze Ständeordnung durchbrochen haben. Es ist sehr poetisch.«
Bei Richard begegnen diese Anschauungen keinem Widerhall: »Ich finde, daß es eine Verrücktheit ist, wenn ein Mann, wie Doktor Bovet, auf den ganz Europa stolz ist, ein Leben der Furcht führen muß, wie der gemeinste Verbrecher. Und ich habe gar kein Verständnis für die Glücksgefühle von Katakombenbewohnern. Ich brauche Luft … und es paßt mir nicht – mit einem Schimpfwort abgetan zu werden.«
Der neueste Roman von Pernauhm zeigt die Vorzüge seiner beiden Vorgänger und vermeidet im Allgemeinen die kleinen Fehler, die ich früher rügte. Auch hier wieder eine in Handlung aufgelöste, spannend geschriebene Erzählung, und insofern Ähnlichkeit mit dem »Jungen Kurt«. Dagegen ist das in letzterem Roman etwas auffallend Sprunghafte, Unmotivierte, ungenügend Fundierte glücklich vermieden.
Das homosexuelle Element erscheint in diesem Roman nicht mehr als die völlig selbstverständliche, natürliche Welt, ist nicht mehr der heterosexuellen einfach gleichgestellt. Sie ist hier als das geschildert, was sie tatsächlich noch ist, als die verborgene, eigentümliche, geheimnisvolle Sekte, innerhalb derer ein Gefühl der Gleichheit und Zusammengehörigkeit, der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit herrscht, die aber im Verhältnis zur normalen, zur großen sozialen Gemeinschaft noch eine verpönte, versteckte Gesellschaft, eine verschriene, versteckte Kaste ausmacht.
Verfasser deutet Vieles geschmackvoll und künstlerisch an, er zeichnet mit kurzen Strichen, streift die Untergründe, rollt sie nicht auf, und wirkt evocatorisch. Das »glissez mortels, n'appuyez pas« gilt ihm als die Regel, sein Buch ist auf eine Art weltmännischen Ton gestimmt, der aber deshalb keine oberflächliche Glätte oder farblosen Stil aufweist, sondern im Gegenteil mit einer gewissen Nonchalance und eleganter Lässigkeit im Dialog ein vornehm-familiäres Argot von lebhaft realistischer Färbung zeigt.
Pernauhms Werke sind meiner Ansicht nach die besten modernen homosexuellen Erzählungen der deutschen Literatur.
Simplicissimus
2. Jg. (1897/98) Nr. 44 S. 346
Herr von Bröderich war mit seinem Freunde, dem Doktor Marz aus Berlin, unterwegs zum Onkel in der Polackei, auf der beschwerlichen Postreise jetzt kaum noch eine Stunde vom alten Schloß entfernt. Der Doktor that sehr verwundert bei den fremden Menschen und Schlagbäumen, zuweilen griff er nach seinem blauen Notizbuch, um nicht ohne Emsigkeit die seltsamen Eindrücke festzuhalten. Soeben humpelte das Fahrzeug aus dichtem Gehölz auf kahles Feld. »Hier nun beginnen sich die Latifundien meiner Verwandtschaft zu erstrecken,« sagte Bröderich mit einer gewissen Selbstachtung. »Aber was ist denn das? Sieh doch –« er wies nach links, wo sich eine bedeutende Menschenmenge versammelt fand, Jugend, meistenteils Burschen vom Gesinde, klein und groß, recht hübsch oder mit stumpfen Gesichtern, darunter Reitknechte in gräflicher Livree. Die Sonne brannte heiß vom Himmel.
Der Doktor schielte hinüber. »Was das zu bedeuten hat, vermag ich nicht zu entscheiden,« meinte er bedächtig.
Herr Zabul, der Gutsverwalter, eilte herbei. »Ah – Herr Baron, wieder im Ländchen?«
»Moin, Zabul.« Bröderich reichte ihm die Hand. »Geht's gut? Aber sagen Sie doch, was ist das für ein Auflauf?«
»Eigentlich ein Geheimnis.«
»Nanu – wir halten reinen Mund.«
»Na ja – der Herr Graf kommt ja gleich, dann erfahren Sie's doch. Sie kennen ihn ja auch, unseren gnädigen Herrn, er liest soviel Bücher, namentlich solche sogenannte Folianten. Und da hat er was gefunden. Es ist hier nämlich immer Streit mit den Nachbarn über die Grenze, sie haben ihn beschuppt, die Aaszelchers! Und damit daß es sozusagen im Schoß der Zukunft keinen Streit giebt, wenn seine Kinder mal ausgewachsen sind, so hat er denn im Folianten gelesen, wie man das früher gemacht hat. Nämlich solche Eindrücke aus der Knabenzeit kann man nicht verwischen, das soll ganz unmöglich sein. Und da wird er denn die Kinders von allen Bauern rundherummer abprügeln lassen, gerade unterm Grenzpfahl, damit sie, wenn sie groß gewachsen sind, richtig schwören, wo die Grenze war. Solche Eindrücke kann man nicht verwischen, soll da stehen im Buch. Aber da kommt der Graf.«
Eine Kalesche und drei kleine Wagen hintennach rollten schnell herbei, dem Zuge voran lief ein Läufer mit dem Stabe, den sich Doktor Marz sogleich notierte. Der Graf war überrascht, seine Gäste dem Schloß bereits so nahe zu finden, und begrüßte sie freundschaftlich. »Es wird hier etwas vorgehen,« meinte er mit einem liebenswürdigen Lächeln.
»Wir sind unterrichtet,« antwortete man.
Und der Graf gab das Signal. Die ahnungslos um den Grenzpfahl versammelte halbwüchsige Schar sah sich plötzlich umzingelt, von allen Seiten rückten die Reitknechte mit ihren Peitschen vor und hieben eifrig auf ihre Opfer ein. Ein bedeutendes Geschrei erhob sich.
Doktor Marz empfand den Augenblick höchst peinlich. Er schämte sich, ohne recht zu wissen warum. Zu seinem größten Erstaunen bemerkte er, daß er die Situation keineswegs für sein blaues Buch auszunutzen verstand. Dreimal lächelte er kurz und albern.
Der Graf gab ein zweites Signal, sogleich zogen sich die Vollstrecker seines Willens zurück. Nun trat er selbst heran, um zu trösten. Auf seinen Wink eilten die Köche herbei und packten die mitgebrachten Erfrischungen aus, Limonaden, Süßigkeiten, Bier, kräftigende Braten.
Man setzte sich in die Kalesche und fuhr ab, dem Schloß zu. Der Doktor warf noch einen unsicheren Blick auf die behaglich schmausende Jugend; sie schienen auch recht durstig zu sein.
»Die einzige Manier, um meinem Erben diesen fortwährenden Ärger über die Grenzfrage zu ersparen,« sagte der Graf. »Sie müssen wissen, meine Bauern sind sonst nicht übel, nur eben vergeßlich. Aber die Bengel haben sich's gemerkt – à la bonne heure! – – Nun, was treibt man in Berlin?«
Der Doktor erging sich über die neuesten Kulturerrungenschaften.
Aus: Kennen Sie Pico? (Riga [1929]) S. 124-126
Dazumal – wenn man früher dieses Wort brauchte, meinte man die Großväterzeit. Aber es ist so hergegangen auf der Welt, daß nunmehr Dazumal auch vor zwanzig Jahren gewesen sein kann.
1905 also war es, daß sich das Schicksal gegen mich auflehnte und ich die Gestade des Mittelländischen Meeres verlassen und Klavierlehrer werden mußte. Und das geradezu in Libau.
Es braucht wohl nicht näher geschildert zu werden, wie man so etwas empfindet. Häuser aus Holz, Wolken aus Schnee, Menschen mit Galoschen, Kinder, die Clementi spielen, und aufregende Nachrichten aus Petersburg, wo sich soeben der blutige neunte Januar begeben hatte. Aber alsbald fand sich doch immerhin bemerkenswert Angenehmes in Libau. Wenn schon die Heimat, dann wenigstens mit einem Kaffeehaus, sagte ich mir, als ich zum ersten Mal bei Bonitz war. Riga besaß ja in den fernen Zeiten längst noch kein Café. Und bei Bonitz war es ein wenig so wie in der großen Welt. Ein reger Verkehr, Bekanntschaft von Tisch zu Tisch, wie sonst weniger üblich im Norden, skandinavisches und dänisches und natürlich recht viel reichsdeutsches Publikum, Billard, Schach und wirklich guter Kaffee.
Außerdem ging es damals besonders hoch her in den Libauer öffentlichen Lokalen. War doch die große Kriegsflotte auf der Durchreise nach Japan und die Seeoffiziere vollführten überall, wo sie erschienen, ein ordentliches Getöse. Besonders liebten sie den Hamburger Garten, ein Variété mit Damen-Gesinge und -Gespringe, und da strömte denn wirklich der Champagner und es knallten nicht nur die Pfropfen, sondern bisweilen auch Schüsse, um die Kapelle anzufeuern. In dieser guten alten soliden Zeit gab es keine Schlager, sondern Reißer. Einer war so beliebt, daß, wenn irgendjemand seine Anfangsworte brüllte, die Musik, die anderes spielte, sofort abbrechen mußte, um wieder diese prachtvolle Melodie zu intonieren. Man zahlte übrigens drei Rubel für solche Unterbrechung des Programms und der Kapellmeister soll sich später ein kleines Häuschen gekauft haben.
Ich beschäftigte also meine Kleinen in der Musikschule des Herrn Rubinstein mit Pedalübungen, wohnte in der Teichstraße und speiste regelmäßig im Hotel Petersburg Mittag. Ich saß nicht in den Sälen, wo die Herren vom dänischen Kabel und andere Honoratioren ihre Mahlzeit verzehrten, sondern, weil es bedeutend billiger war, im sogenannten Stauerzimmer.
Unbekannt mit den verschiedenen Erwerbszweigen und Abtönungen des bürgerlichen Lebens, wie ich damals war, hielt ich den Ausdruck »Stauerzimmer« für einen Lokalwitz und meinte, der Raum hätte seine Bezeichnung von dem hier befindlichen Buffett, vor dem stehend die Leute immer so gründlich einhieben. Viel später erst habe ich in Erfahrung gebracht, daß Stauer Personen sind, die in Hafenstädten eine bedeutungsvolle Tätigkeit entfalten, die ihren Mann allerdings ernährt. Wenn ich jetzt zurückdenke, es waren gewaltige Gestalten, unter denen ich meine Mahlzeiten einnahm; rund und mächtig saßen sie auf den unter ihnen völlig unsichtbaren Stühlen. Sie stülpten Schnäpse, Lachshappen und Kompromisse in sich und erzählten einander mit Dröhnen fulminante Geschichten.
Und überhaupt, das Essen war gut und reichlich im Hotel Petersburg. Man zahlte im Stauerzimmer zwölf Rubel monatlich. Und wenn ich Bähwald, meinem ausgezeichneten Kellner, gelegentlich sagte, es wäre nicht sehr viel gewesen, so hieß es: »Ich bring gleich zu.« Und für dieselbe Rechnung gab es die doppelte Portion.
Libau war gewiß diejenige Stadt in den alten Ostseeprovinzen, welche die beste Bewirtung und die angenehmsten Räume außer dem Hause bot. Im Hotel Petersburg existierten schöne, große Gesellschaftszimmer, in denen abends immer ein reger Verkehr herrschte. Stiller, aber wohnlich angenehm war es im Hotel de Rome; von Bonitz ist schon die Rede gewesen. Und auch das Vereins- und Klubleben stand auf erfreulicher Höhe. Man kam dem Fremden in Libau durchaus liebenswürdig entgegen; um es münchnerisch zu sagen, Libau war ein Stadt, wo man seine Ansprache hatte.
So denke ich immer noch gern an die im Ruderklub »Nord« verbrachten Stunden zurück. Wenngleich ich nur passives Mitglied dieses Vereins war, so hab ich mir doch ein Verdienst um ihn erworben, da ich manche seiner Mitglieder zur kühlen Winterszeit, alswann sie ja sowieso nicht rudern konnten, in die Geheimnisse des Pokerspiels eingeweiht habe. Aber wir spielten zuweilen auch im Sommer neben dem berühmten See mit seinem diskret abgemessenen Wasserspiegel.
Über den Sommer in Libau aber braucht nicht viel und eigentlich nichts gesagt zu werden. Eine solche Verbindung von Stadt und Meer ist Glück zu nennen. Gute Luft und ein Bad dazu ist reichlich schon die Hälfte von dem, was man braucht, um seines Lebens froh zu sein.
Rigasche Rundschau 13. 7. 1929, S. 14
Seit hundert Jahren und vielleicht schon seit viel längerer Zeit hört es jeder nordische Italienfahrer: »Zu spät, mein Lieber. Sie sehen nicht mehr den ganzen Reiz, die ganze Schönheit.«
Das soll heißen, diese oder jene bunte öffentliche Sitte oder Tradition werde nicht mehr geübt, so manche merkwürdigen Straßenzüge seien verschwunden, dem Verkehr und allerhand praktischen Erwägungen und insbesondere der Feindin aller Kunst, der Zivilisation, hätten peinliche Opfer gebracht werden müssen.
Als man das Forum Romanum freilegte, wurde das von romantischen Gemütern als eine Verschandelung empfunden, und ein Menschenalter später beklagte man das venezianische Vaporetto. Wer in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in die ewige Stadt kam, mußte sich sagen lassen, Rom sei nicht mehr Rom mit einem gefangenen Papst und einem weltlichen modernen König, der allenfalls in Florenz geduldet werden könne. Und zum übrigen hatte man noch gewagt, die schönste aller Villen, die Ludovisi, aufzuteilen! In den zwanziger Jahren klagte Stendhal darüber, weil die französische Sitte einen derartig starken Einfluß auf das lateinische Land gewonnen habe – das wunderbar Tiefe und Ursprüngliche der italienischen Seele stehe im Begriff zu verschwinden, sei jedenfalls in der Gefahr stark zu verblassen. Der junge Viktor Hehn ist gewiß recht verzweifelt über Zollschikanen, Unzuverlässigkeiten und unerhört dreiste Betrügereien, namentlich in Neapel, aber seine ganze Liebe gehört doch dem Italien von Anno 1838, sage der alte auch noch so viel zum Lobe des Königreiches, dem er mit so viel herzlicher Sympathie zugetan war.
Das ging so von Generation zu Generation im nicht allzu jäh, aber stetig dahinströmenden Fluß der Zeit, und jedermann wurde bei der Heimkehr von seinem Vater gefragt, ob es dieses oder jenes in Italien noch gebe und immer stellte sich dabei heraus, daß ein gutes Stück der alten Herrlichkeit aus der Welt gewichen sei. Im Sturm der letzten Jahrzehnte aber vermag sogar die einzeln reisende Person ungemeine Veränderungen in den italienischen Äußerlichkeiten, im Gehaben des Volkes, im Stil des Straßenlebens wahrzunehmen. Wobei anzumerken, daß nicht etwa, wie manche meinen, mit Mussolini ein plötzlicher Umbruch in die italienische Welt gekommen sei. Er hat die längst sich ansammelnden Kräfte jedoch gepackt und gerichtet. Ebenso wie die im Verhältnis zur Antike empfundene Nachfolgeschaft und wie der glühende Patriotismus (man denke an den unglücklichen Äthioperkrieg 95) längst vor Mussolini da waren, so gab es auch schon vor ihm in Italien einen Willen zur Straffheit, einen Wunsch nach unzweifelhafter Struktur in jeder Hinsicht, und man hatte die Abkehr von so vielem Lässigen ersehnt.
Und heute sind die Flöhe und das falsche Geld auf und davon, das Albergo ist sauber geworden, die Weine sind nicht mehr rauh, sondern gepflegt, in den Speisen wird kein schlechtes Öl verwendet, Taxen und Tarife schützen vor Übervorteilung, es wird nicht mehr gespieen, insbesondere nicht von den Virginiarauchern in der Eisenbahn, was früher wahrhaftig eine Sache war. Die Jungen schreien nicht mehr die Zeitungen aus, und es gibt keine Bettler mehr.
Aber man beunruhige sich nicht. Italien ist dieser und anderer Äußerlichkeiten wegen, die nun mangeln, nicht wirklich farblos geworden. In den so flüchtigen Beziehungen, die der Reisende mit den Einheimischen anknüpft und unterhält, tritt noch oft deutlich dasjenige an den Tag, was die größte Freude des Italienfahrers aus dem Norden ausmacht: die ganz besondere italienische Humanität. Sie zu erklären und gegen deutsche Freundlichkeit und österreichische Liebenswürdigkeit abzuheben und abzugrenzen ist nicht gut möglich, denn es liegt das einzig im Reich des Gefühls. Man befindet sich mit dem italienischen Menschen auch bei gewahrter Distanz doch immer in undefinierbarer Weise auf einer gemeinsamen Plattform. Stand ist wie unwirklich, werde er noch so geziemend beobachtet.
Und die Feste Italiens sind frei, bunt, heiter und polizeilos wie sie immer waren. Ich hatte das Glück auf der Piazza delle Erbe in Verona das Madonnenfest der Stadt zu erleben. Die weltberühmte Architektur im milden Schein unzähliger Papierlaternen, Musik und Wein und Freude am späten Abend.
*
Also auch keine Bettler mehr. Aber wenn man ein wenig Glück hat, so findet man hier und da noch einen. Es war in Pirano, einem istrischen hoch gegen das Adriatische Meer gelegenen Rocca di Papa ähnlichen Felsenstädtchen, daß ich zum Dom hinaufsteigend kurz vor dem Ziel einen schlecht gekleideten alten Herrn an einer Mauer gelehnt sah. Mit zwei Fingern schnippend winkte er mich heran und bat um Feuer. Es dauerte, bis es uns gelang, seine Zigarette in Brand zu stecken. Es hatte sich ein kleiner Wind erhoben, und den mußte ich mit der einen Wand meines Rocks abfangen. Als es endlich so weit war, wollte ich gehen, er jedoch streckte die knöcherne Hand vor und sagte mit würdiger Bestimmtheit: Centesimi!
Der Dom liegt nach drei Seiten herrlich offen gegen das Meer, die sonnendunstig schimmernden Höhengelände der Küsten schwingen in sanftem Zuge, herab sieht man auf die Marina des Städtchens, und durch das Gewirr und Gehäuse der Häuserstöcke gewahre ich tief unten einen Mann in lebendiger Geste hingestellt. Als ich auf dem Marktplatz da unten bin, begrüße ich ihn ehrfurchtsvoll. Es ist [Giuseppe] Tartini, der berühmteste der Piranesen, der »Meister der Nationen«, der größte Violinlehrer aller Zeiten, der in heiterer Haltung sich anschickt mit seinem Bogen den Takt zu schlagen. Das Denkmal ist von [Antonio] dal Zotto.
Nachdem ich es betrachtet habe, wählte ich aufmerksam unter den drei Barbieren von Pirano und trete ein. Als ich schon rasiert werde, ertönt Trommelschall und die Stimme eines Ausrufers vom Platz her. Was ist? frage ich. Es wird bekanntgegeben, daß die Feier des Verfassungstages um zwei Wochen verschoben ist, wird mir geantwortet. Ich höre es mit Verwunderung und es fällt mir ein, daß von allen Barbieren der Welt die italienischen es am meisten lieben, ihre Kunden mit erstaunlichen Nachrichten zu überraschen. Eine Viertelstunde später begegne ich dem Trommler an der Marina. Aber er hat nichts Politisches mitzuteilen, sondern er verkündet, daß die heute erwartete Aufführung im Theater nicht stattfinden könne, da ein Schauspieler krank geworden sei. Ich bedaure es. Denn eine Komödie im Städtchen der Fischer hätte mich gefreut.
An der Küste südöstlich vom lieblichen und hellen Triest sind im Laufe der letzten Jahrzehnte eine ganze Reihe von Badeorten entstanden, darunter Portorose, wo ich mehrere Tage verweilte. Der Ort trägt seinen Namen mit Recht. Die Terrasse, auf der ich speiste, war gesäumt mit blühenden Rosen und überall sah man sie. Einen Arm voll, vielleicht hundert Stück, bekam ich um fünf Lire. Etwas mehr als ein Lat also. Aber auch andere angenehme italienische Mai-Gewächse zierten meine ländliche wohlfeile Tafel: Spargel, Kirschen, Erdbeeren, Orangen. Dazu die Wohltat des blauroten Weines vom Lande.
Hier in Portorose hörte ich nach Jahren zum erstenmal wieder den kläglichen, asthmatisch akzentuierten Schreigesang, an den man so oft zurückdenkt, wenn man lange in Italien gelebt hat. Er zerfällt in zwei Teile und enthält ein kleines Rezitativ und eine kleine Arie. Neulinge in diesen Breitengraden denken bisweilen an eine artesische Pumpe und können jedenfalls nicht erraten, daß es sich um einen Esel handelt, der sich mitteilt. Denn sie haben in ihren Kinderbüchern gelesen, dieses Tier rufe I-a. Was es nicht tut. Auch daß Esel dumm sind, ist nicht wahr. Sie gelten nur dafür, weil der Mensch die Gewohnheit hat, für dumm zu halten, wer nicht seiner Meinung ist. Der Esel ist nämlich das einzige Haustier, das eine eigene Meinung hat. Bei aller Geduld und Arbeitswilligkeit gibt es bei ihm eine Grenze. Ist er gar zu überladen oder schlecht angespannt, so bleibt er absolut fest stehen und zwingt den Menschen dadurch, die Nachlässigkeit in Ordnung zu bringen. Geschieht das nicht, so legt er sich einfach mit eingezogenen Gliedmaßen hin. Ich habe das wiederholt in Rom erlebt. Aber das kleine Eselchen vor meiner Hotelterrasse in Portorose mit seinen Ohren in Form riesiger Salatblätter, mit dem melancholisch geduckten Kopf und den zierlichen Beinchen, schien mit seinem dicken Reitherrn zufrieden zu sein und trug ihn mit flinkem Gang über Land.
Rigasche Rundschau, 29. 4. 1929, S. 10
und 30. 4. 1929, S. 10
Zu Beginn seines Vortrages im Gewerbeverein schilderte Dr. Magnus Hirschfeld ganz kurz die historischen Grundlagen, auf denen die heutigen offiziellen europäischen Anschauungen über Sexualität basieren. Es sind das die Gesetzbücher der oströmischen Kaiser, die Schriften der Kirchenväter und mit ihnen beginnt die Zwangs-Asketisierung der christlichen Menschheit. Es werden alsbald alle geschlechtlichen Beziehungen für Sünden erklärt, die zu bereuen seien, ja eigentlich sogar für Verbrechen, die bestraft werden müßten, und nur die Ehe zwischen einem Mann und einem Weibe wird von nun ab geduldet. Solange eine solche Einehe von jugendlichen Personen sogleich nach ihrer Geschlechtsreife geschlossen werden konnte, war sie imstande, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, der Natur des Menschen zu entsprechen. Als aber die europäische Menschheit mehr und mehr Wege einschlug, auf denen die Eheschließung einem sehr großen Teil der Männer erst weit nach der Geschlechtsreife möglich gemacht wird, während sich im Gegensatz zur Antike ein Geburtenüberschuß des weiblichen Geschlechts bemerkbar machte, da mußte sich die ganze Sexualfrage allmählich aufrollen, wobei man erkannte, daß man künstlich verdunkelte Gebiete betrat. Denn seit langen Jahrhunderten war eine »Verschwörung des Schweigens« am Platz gewesen. Über geschlechtliche Dinge zu reden, zu schreiben, ja zu denken, hatten geschriebene und ungeschriebene Gesetze unmöglich gemacht und düsterer Aberglauben umfängt bis auf die Gegenwart breite Massen der europäischen Menschheit, unter deren Jugend namentlich sich nach wie vor harmloser Dinge wegen Selbstmorde begeben, die symptomatisch dafür sind, wieviel im Sexuellen verwurzeltes Leid noch heute vor Eltern, Erziehern, Freunden absolut geheimgehalten wird, die Folge noch zurzeit wirksamer mittelalterlicher Verängstigungs- und Beschweigungsmethoden. Die Freiheit des Wortes ist verhältnismäßig sehr schnell errungen worden. Noch vor dreißig Jahren machte die Berliner Polizei dem Dr. Magnus Hirschfeld große Schwierigkeiten, als er über Sexualfragen öffentlich sprechen wollte, und schließlich wurde die Erlaubnis hierzu nur unter der Bedingung erteilt, daß der betreffende Vortrag den Damen und Herren nicht gemeinsam gehalten werde, sondern für beide Geschlechter apart. Heute aber darf Dr. Hirschfeld durch die ganze Welt reisen und über sexuelle Dinge reden, und wie er sprechen auch andere Gelehrte öffentlich über diese Fragen vor einem aus den beiden Geschlechtern gemischten Publikum, das sich hierbei durchaus nicht geniert fühlt.
Wobei jedoch andererseits nicht vergessen werden soll, daß in dieser selben Welt bis auf die jetzige Stunde noch hier und da ungeheuerliche Gesetzesparagraphen zur Anwendung kommen. Im Kanton St. Gallen in der Schweiz beispielsweise hat jede Mutter, die ein uneheliches Kind gebiert, so und soviele Franken zu bezahlen. Ja, die Sache wird sogar bis in die Ehe hinein verfolgt und erscheint das Kind auch nur ein wenig früher, als wie es der solide Anstand verlangt, so müssen Papa und Mama desgleichen eine Geldbuße entrichten!
Einen großen Teil seines Vortrags widmete Dr. Hirschfeld der modernen Ehe. Für die katholische Kirche ist sie unlöslich, in den meisten Staaten muß ein Teil »schuldig« sein oder werden, um die Scheidung zu ermöglichen, die in einigen Ländern (unter ihnen Lettland) auch dann ausgesprochen werden kann, wenn die Ehe »zerrüttet« ist. In Sowjetrußland wird die Ehe bekanntlich nur registriert und kann alsbald wieder aufgehoben werden. Unter diesen vier Auffassungen erscheint Dr. Hirschfeld die dritte die richtige zu sein, nach welcher eine Ehe gelöst werden kann, wenn mancherlei Gründe ihre Fortführung bedenklich machen. In Deutschland muß es immer noch einen »schuldigen Teil« geben.
Sehr warm empfahl der Redner die Einrichtung der Eheberatungsstellen. Sie sei imstande, beruhigend und aufklärend zu wirken und dazu geeignet, Mißverständnisse zwischen Gatten zu beheben und namentlich auch fähig, übereilte Ehescheidungen zu verhindern. Eine schriftliche Anfrage aus dem Publikum bezüglich der sogenannten Kameradschaftsehe des Amerikaners Lindsay, beantwortete Hirschfeld dahin, daß bei den schwierigen sozialen Verhältnissen diese Eheform allerdings zu empfehlen und auch imstande sei, die Prostitution zu vermindern. Allein durch Empfängnis-Verhütung, falls Kinder durchaus nicht gewünscht würden, sei es möglich, die Unterbrechung der Schwangerschaft, die so allgemein verbreitet und auf jeden Fall als ein Übel anzusehen ist, einigermaßen wirksam einzudämmen. Einen Gesetzes-Paragraphen, der sich gegen die Abtreibung richtet, sollte es aber nicht geben, schon deshalb nicht, weil nur diejenigen unter ihm zu leiden haben, die arm und ungeschickt sind. Gutsituierte Frauen hätten immer Gelegenheit, ihre Schwangerschaft zu unterbrechen, das Gesetz könne sie erfahrungsgemäß niemals erreichen.
Dieses in ganz freier Anordnung wiedergegeben, ist einiges von dem vielen Interessanten und sehr Wissenswerten, was uns Dr. Hirschfeld in seinem Vortrag auseinandersetzte. Das Publikum lauschte den Ausführungen mit angespannter, ersichtlicher Anteilnahme. Heute abend spricht Dr. Hirschfeld desgleichen im Gewerbeverein über »Sexualität und Kriminalität«. Der Vortrag wird von Lichtbildern begleitet sein.
Den Arten und den Veränderungen im geschlechtlichen Leben des Menschen war der zweite Vortrag des Sanitätsrats Dr. Magnus Hirschfeld gewidmet.
Zu Beginn seiner Ausführungen schilderte der Redner, wie die alte Auffassung von der absoluten sexuellen Verschiedenheit der beiden Geschlechter ganz allgemein ins Wanken kommen mußte, nachdem Mendel bekannt geworden war, Krafft-Ebing, angeregt von Ulrichs, sein berühmtes Werk geschrieben hatte und man nun einem freieren Sinn der Zeit gemäß nicht mehr abergläubisch davor zurückschreckte, die geschlechtliche Natur des Menschen unbefangen zu untersuchen. Man entdeckte mehr und mehr einen von der bürgerlichen Öffentlichkeit aus Angst vor einer einseitig aufs Zweckhafte eingestellten Wissenschaft aus Ratlosigkeit bisher gemiedenen unendlich großen Komplex von Tatsachen, der bewies, daß nicht nur zwei Geschlechter geboren werden, sondern daß der sexuelle Charakter des Menschen einen aus Weiblichem und Männlichem gemischten Zustand darstelle. Diese Entdeckungen sind verhältnismäßig noch wenig bekannt geworden, so daß man beispielsweise im Zusammenhang mit altertümlichen Vorstellungen in den nördlichen Ländern Europas noch in der Gegenwart männlichen homosexuellen Verkehr bestraft, während die weiblichen Homosexuellen sich unbehindert ausleben dürfen, so daß es in diesem Fall der Mann ist, der die Gleichberechtigung anstrebt. Im Gegensatz zu den harmlosen Abzweigungen im sexuellen Leben des Menschen erwähnte der Redner dann auch diejenigen, die kriminell geahndet werden müssen, weil sie den Partner vergewaltigen, belästigen, schädigen. In langer Reihe passierten, von dem furchtbaren Verbrechen des Lustmordes angefangen, alle die vielen Spielarten bis hinab zum seltsamen Zopfabschneider, der in den letzten Zeiten nicht mehr in Erscheinung tritt aus dem einfachen Grunde, weil die Damen keine Zöpfe mehr tragen, bis hinab zu dem Statuen-Besudler und dem Exhibitionisten.
Sehr interessant waren die Mitteilungen über die Teilanziehungen (Fetischismus) und den Transvestitismus, der zu ganz außerordentlichen Erscheinungen führte. Berühmt ist ja der Herr von Eon, der in Petersburg am Hof Elisabeths als Beamter, in London dann als Gesandter Frankreichs eine große Rolle spielte, ein tapferer Offizier war, um schließlich sein tatenreiches Leben als Hofdame zu beschließen. Ganz Europa zerbrach sich den Kopf über sein Geschlecht, über das hohe Wetten abgeschlossen wurden.
Die Lichtbilder begannen mit der Vorführung eines Bildes von Karl Ernst von Baer, welcher große bahnbrechende Gelehrte im Jahre 1827 das weibliche Ei entdeckt hat, wodurch ein wichtiges Fundament für alle Sexualwissenschaft geschaffen war. Höchst merkwürdig, was uns von der »Inneren Sekretion« gezeigt wurde, und den fabelhaften Veränderungen, die durch Wegnahme der Geschlechtsdrüsen entstehen.
Dr. Hirschfeld besprach in diesem Vortrag sehr große Gebiete. Es war alles nach Möglichkeit ausgeglichen, und das sei ganz besonders anerkannt. Denn in dem gefüllten Saal befanden sich sowohl Personen, für welche diese Ausführungen fast völlig neu waren, wie auch solche, die das Mannigfache und Vielfältige in den Bezirken der modernen Sexualforschung mehr oder weniger aus Büchern zu verfolgen die Gelegenheit hatten.
Baltische Briefe, 5. Jahrgang (1952) Nr. 1 (39) S. 6
Über drei Jahrzehnte hatte Guido Hermann Eckardt seinen festen Platz im Kulturleben, vorwiegend im Kunstleben Rigas. Kaum eine Veranstaltung, nicht ein Konzert ohne sein markantes Profil und seinen behinderten Gang. Er gehörte dazu. Er hat das geistige Leben Rigas in dieser Zeit vorwiegend als Kritiker beeinflußt und befruchtet. In seinen Jugendjahren hatte er mehrere Romane veröffentlicht und war vorübergehend Musiklehrer gewesen, dann aber hatte ihn das Schicksal Journalist werden lassen. Im Grunde ist er aber nie Journalist gewesen, sondern immer Künstler geblieben, Dichter und Musiker, der seinem Wesen nach nicht auf eine Breitenwirkung ausgerichtet war. Aus einer sehr geistigen Sphäre stammend – Julius Eckardt und Viktor Hehn waren seine Onkel – blieb er zeitlebens der typische baltische Literat mit allen seinen Vorzügen, aber auch in seiner geistigen Isoliertheit gegenüber den Nichtliteraten. Man mußte ein Organ für ihn haben, um ihn zu goutieren, und während die einen über seinen »Kennen Sie Pico?« Tränen lachten, konnten andere völlig unberührt fragen: findest Du das komisch?
In seiner Jugend hatte er in München zum Kreise Thomas Manns, Wedekinds, Halbes gehört; später in Riga bewegte er sich aber vorwiegend in Musikerkreisen und war nahe befreundet mit Hans Schmidt, Monika Hunnius, Wina Berlin, Möllersten, aber auch mit führenden lettischen Musikern wie Prof. Wihtol und dem Liederkomponisten Alfred Kalnins.
Guido Eckardt war mit der Dichterin Elfriede Skalberg verheiratet, die seit langem zu den ersten baltischen Lyrikerinnen zählt. Mit ihr zusammen ist er, sich sehr schwer von der Heimat trennend, erst 1940 ins Reich umgesiedelt und hat seine letzten Lebensjahre recht einsam in Überlingen am Bodensee verbracht, wo er nun auch gestorben ist …
H. v. R.
Die »Deutschbaltische Literaturgeschichte« von Gero von Wilpert (2005) kennt ihn noch, den »Rigaer Musik- und Theaterkritiker und Journalisten« Guido Hermann Eckardt. Der Meister des »geistreichen Feuilletons«, so erfährt man dort, habe neben »harmlosen Plaudereien, Anekdoten, Gedichten« auch »drei kleinere Romane« geschrieben, deren »Wert auf dem Stilistischen« beruhe. Diese etwas gönnerhafte Formulierung macht neugierig und führt zugleich in die Irre. Wer nach Romanen von Guido Hermann Eckardt sucht, wird sie nicht so leicht finden, denn er veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Fritz Geron Pernauhm. Der Meister der kleinen Form hat nur in einem kurzen Abschnitt seines schriftstellerischen Lebens Romane geschrieben; sie erschienen in rascher Folge zwischen 1900 und 1906: »Ercole Tomei« (1900), »Der junge Kurt« (1904) und »Die Infamen« (1906). Als stilistisch besonders bemerkenswert wurden sie damals nicht gelesen und wird man sie auch beim Wiederlesen gut hundert Jahre später kaum einstufen. Bemerkenswert waren sie den Lesern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und sind sie auch heute noch als Beispiele »guter homosexueller Belletristik«, wie Numa Praetorius (Eugen Wilhelm) formulierte, der im »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« über diese Belletristik informierte. Er hat die drei Romane Pernauhms ausführlich vorgestellt, dabei auch kritische Anmerkungen zu Aufbau und Stil gemacht, im ganzen aber kam er zu dem Schluß, Pernauhms Werke seien »die besten modernen homosexuellen Erzählungen der deutschen Literatur«. Magnus Hirschfeld nannte Pernauhm wenige Jahre später einen der »erfolgreichsten Verfasser urnischer Romane«. Da lag das Erscheinen des dritten Romans schon fast wieder ein Jahrzehnt zurück, und es sollte keiner mehr folgen. Wie »erfolgreich« die Romane waren, ist kaum feststellbar; eine Neuauflage erlebte nur »Der junge Kurt« (1920).
Guido Hermann Eckardt stammte aus einer alteingesessenen Familie der sogenannten Ostseeprovinzen, die den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz ebenso zu den Ihren rechnen konnte wie den Kulturhistoriker Viktor Hehn. Der Lebensmittelpunkt der Familie lag in den Jahrzehnten vor Guido Hermann Eckardts Geburt nicht in Riga, sondern »in Fellin, Wolmar, Wenden oder im Auslande«, wie er in seinen (ungedruckten) Erinnerungen schreibt. In Fellin wurde 1843 der Vater, Guido Heinrich Eckardt, als Sohn eines »Ordnungsgerichts-Notars und Hofgerichts-Advokaten« geboren. Er studierte Jura in Dorpat und wurde »Kirchspielrichter in Pernau und Schriftführer der dortigen Gemeindebank«. Von dem Kirchspielrichter weiß der Sohn zu berichten, daß er spöttisch Götz von Berlichingen genannt worden sei, und erzählt, daß einmal »einer der Barone der Umgebung« »seinen Bäcker, schlechten Backens wegen, in einem Turm eingesperrt« hatte. »Die Verwandten meldeten es und mein Vater liess den Mann durch einen Polizisten befreien.«
In Pernau (heute Pärnu in Estland) wurde am 19. September 1873 der Sohn Guido Hermann geboren. Als der Vater drei Jahre später nach Riga zog, mußte er das schon als Witwer tun; der Sohn hat seine Mutter nicht mehr bewußt erlebt. So wuchs er weniger in einer Familie als im Kreis einer überaus zahlreichen Verwandtschaft auf; in den »Erinnerungen« wimmelt es nur so von Onkeln und Tanten.
In Riga war der Vater »Rendant an der Hypothekenbank«, daneben hat er sich als »Dichterjurist« mit »persönlicher und stimmungsvoller, doch konventioneller Jahreszeiten- und Landschaftslyrik« (Wilpert) einen bescheidenen Platz in der »Deutschbaltischen Literaturgeschichte« erschrieben. Noch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod (er starb 1906) konnte man etwa in dem von Werner Bergengruen herausgegebenen »Baltischen Dichterbrevier« (1924) oder in dem »Baltischen Vortragsbuch« von Andreas Frey (1926) sein Gedicht »Mainacht« lesen: »Es legt die Nacht sich still und weich / der Erde an das Herz, / heut ist die Welt so blütenreich, / so duftig allerwärts. // Kein Hauch sich in den Bäumen regt, / verzaubert stehn sie all – / und drüber hin in Träumen schlägt / trunken die Nachtigall.« Daneben hat er auch die politische Entwicklung in Deutschland in Versen kommentiert und etwa 1866 das »deutsche Volk« zur Einheit aufgerufen: »So reiß dich los von deinen Banden / Von aller Zwietracht, allem Haß, / Den Spott der Feinde mach zu Schanden / Der tödtend dir am Herzen fraß, / Die Nacht ist hin, der Himmel blaut, / Der Freiheit goldner Morgen graut!«
Wie der Vater hat auch der Sohn Gedichte geschrieben. In der Anthologie »Die jungen Balten« (1916) charakterisierte der Herausgeber Bruno Goetz die Gedichte mit dem Bild vom »späten rührenden Licht letzter Herbsttage«: »Aus halben müden Blicken schauend, schreiten sie fremd und wunderlich einher und künden von der stillen bitteren Tapferkeit der sehnsüchtigen Knabenseele eines gütigen und freien Menschen.« Ein Gedicht, das in der Anthologie den Titel »Im Schloß« trägt, konnte der Leser in einer ersten Fassung schon aus dem Roman »Der junge Kurt« kennen, dort überschrieben mit »Auf hohen Burgen«.
Neben dem Vater (»Das schönste in der Welt waren … die Ausflüge mit dem Vater«) waren es vor allem zwei Onkel, die den jungen Guido Hermann Eckardt geprägt haben. Julius Eckardt war in den 1860er Jahren Redakteur in Riga, ging dann nach Hamburg, wo er als Chefredakteur des »Hamburger Correspondenten« und Leiter der Hamburger Schulbehörde wirkte, bevor er in den Auswärtigen Dienst wechselte und das Deutsche Reich in Tunis, Marseille, Stockholm, Basel und Zürich vertrat. Immer wieder kehrte er in seine baltische Heimat zurück, wo der Neffe ihm »als Knabe und junger Erwachsener« lauschte, »wenn er uns im Familienkreise erzählte vom Leben der grossen Welt, in der er zu Hause war – von Afrika oder Marseille, oder seinen Visiten bei Caprivi oder im Auswärtigen Amt bei Holstein.«
Ausführlicher noch als vom Vater und von Onkel Julius Eckardt ist in den Erinnerungen von Onkel Karl Hehn und seiner »sehr kritischen und ausgesprochen aristokratischen Natur« die Rede: »Onkel Karl war durchs Leben gegangen, des Lebens Bürgerlichkeit ignorierend … Meist auf Reisen, eine Zeit lang in Weimar beliebt in Hofkreisen, oft in Italien und dann 2 Jahre unter Leitung meines Onkels Julius Eckardt Redakteur am ›Hamburger Korrespondenten‹ … Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er gemeinsam mit seinem Freunde, dem Hofgerichtspräsidenten a. D. Sievers auf dem Weidendamm in Riga, auf Gütern seiner Freunde und schliesslich in der Schweiz.« Diesen Onkel beschreibt Eckardt als »feinen, auf eine natürliche Art noblen, sehr gescheuten Menschen«. Mit dem jungen Guido Hermann sprach er »über Gott und die Welt«. »In ihm war noch Humanität lebendig, übernommen aus der Goethezeit, aus dem deutschen Idealismus.« Der Vater erzählte »von Montreux, von Chamonix, von Rom«, doch scheint vor allem auch Onkel Karl bei Guido Hermann Eckardt die Liebe zu Italien geweckt zu haben: »Wie mein Grossonkel Viktor (Hehn), so war auch mein Onkel Karl ein Verehrer des Südens und namentlich des italienischen Volkes. Sie hatten längere Zeit miteinander in Rom und Neapel gelebt … «
Die Schulzeit hat Guido Hermann Eckardt als eine schwere Zeit erlebt, weil er sich nur schlecht behaupten konnte (»Von Natur aus besitze ich kein Selbstvertrauen«). Als Gymnasiast wurde er für zwei Jahre nach Goldingen geschickt, wo ihm der »Oberlehrer Jäger«, bei dem er in Pension war, geholfen hat, diese »Daseinsfurcht« wenigstens teilweise zu überwinden: »Erst als ich etwa 15 Jahre alt geworden war, wurde ich so ziemlich frei von dieser Daseinsfurcht und ich neigte dann bisweilen sogar zu einiger Überheblichkeit. Jedoch ein Rest von dieser Lebensfurcht ist nie aus meiner Seele gewichen.« Für die »Überheblichkeit« nennt er ein Beispiel: »Ich gehörte zu einer Bande von Jungen, die älter waren als ich und wir versammelten uns nächtlich um zu trinken und uns in minderwertigen Lokalen herumzutreiben. Mein Kamerad und ich verliessen die Pension auf einer Strickleiter und kletterten am Morgen auf ihr wieder ins Fenster.«
Der Vater hat früh die musikalische Begabung seines Sohnes erkannt und gefördert. Das Studium führte ihn, wie es im »Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten« von Franz Brümmer (1913) heißt, in den Jahren 1894-1897 nach München, Genf und Berlin. »In den Jahren 1898-99 weilte er zu seiner weiteren Ausbildung in Paris, lebte danach bis 1905 auf Reisen und mehrere Jahre in Rom.« Von Paris und Rom ist in den »Erinnerungen« nicht die Rede; zu München erfahren wir, daß ihn ein Vetter in den »Akademisch-literarischen Verein« einführte, »eine studentische Verbindung von geistigem Rang«. In München lernte er auch Franz Dubois kennen, »den Menschen, den ich als Freund und künstlerischen Arbeitskameraden so sehr geliebt, ja verehrt habe, der mir manches Mal den rechten Weg gewiesen hat«. Es ist dies nur eine von zahlreichen Freundschaften, von denen in den »Erinnerungen« die Rede ist, angefangen mit Sascha Dellinghausen, dem Sohn eines Generals, über Erwin Moritz und Arved Hahn (»den ich sehr lieb gehabt habe«) bis zu Willi Recke (»der mir nahe gestanden hat wie wenige«). Willi Recke (»ein typischer kurischer Baron und dabei vollkommen anders als kurische Barone sind«) war 1902 mit ihm in München, der Dritte im Bunde war der Sänger Raimund von zur Mühlen. In Eckardts »Erinnerungen« tauchen viele Namen aus dem Musikleben auf, zwei ragen heraus: der Komponist, Dirigent und Musikjournalist Hans Schmidt, mit dem »eine neue Note ins künstlerische, eine neue Seele ins gesellschaftliche Leben Riga's« kam, und der Sänger Raimund von zur Mühlen. Ihm gestand Eckardt in München, er gehöre zu den »kunstdarstellenden Menschen«, die er »wie ein Wunder empfunden« hätte. »Es waren herrliche Tage mit ihm und Willi Recke in München. Mühlen schätzte Wedekinds Vortragsgesang, wir waren bei den ›Elf Scharfrichtern‹. Eine Lust das.« Noch fast dreißig Jahre später war etwas von dieser Lebenslust zu spüren, als 1929 in der »Rigaschen Rundschau« ein Nachruf auf Kathi Kobus, die legendäre Wirtin der Münchener Künstlerkneipe »Simplicissimus« erschien, wo man für »2 Mark 99 Pfennig« die »Elf Scharfrichter« erleben konnte. Der Artikel ist ungezeichnet, kann aber nur aus Eckardts Feder stammen. Die Kneipe sei zum »Sammelpunkt aller Davidsmenschen und Philisterfeinde« geworden, heißt es, und die Wirtin konnte schon mal einen »Stegreifvortrag für die Kunst und gegen die Mucker, gegen das Schnüfflertum« halten.
In München begann Eckardts literarische Karriere – als Autor und Übersetzer. Er beteiligte sich an einem der Preisausschreiben, mit denen der Verleger Albert Langen Autoren und Texte für die Zeitschrift »Simplicissimus« zu gewinnen hoffte. Es ging um kurze Geschichten mit witziger Pointe. Unter fast dreihundert Einsendungen wurde der erste Preis zu gleichen Teilen an drei Autoren vergeben, darunter Guido Eckardt (wie der Vater ließ auch der Sohn zunächst den unterscheidenden zweiten Vornamen weg) für die Erzählung »Ein Hausmittel« (oben S. 226-228). Kurz zuvor schon war im »Simplicissimus« seine Kurzgeschichte »Unerwartet« erschienen, in der sich der »Studiosus Steinert« in die »Geliebte seines Stubennachbars Barthel« verliebt und diesem einen bösen Streich spielt, als der wieder einmal zu einer »Grogleiche« geworden war … Der damals in Paris weilende Eckardt übersetzte später für den Verlag drei Erzählungen von Emile Zola, die 1901 als Band 33 der »Kleinen Bibliothek Langen« erschienen und 1905 eine zweite Auflage erlebten (»Die Erdbeeren und andere Novellen«).
Parallel dazu entstand der erste der drei Romane, die Guido Hermann Eckardt unter dem von seinem Geburtsort Pernau abgeleiteten Pseudonym »Fritz Geron Pernauhm« veröffentlichte. »Ercole Tomei« erschien nicht im Verlag Albert Langen in München, sondern im Verlag Max Spohr in Leipzig. Max Spohr gehörte zu den Mitbegründern des »Wissenschaftlich-humanitären Komitees«, das sich im Mai 1897 auf Initiative von Magnus Hirschfeld in Berlin zusammengefunden hatte und neben der »Gemeinschaft der Eigenen« zur treibenden Kraft der aufkommenden homosexuellen Emanzipationsbewegung wurde. In den Folgejahren erschienen in dem Verlag immer mehr »Bücher für das ›dritte Geschlecht‹«. Gerne wüßte man, wie Eckardts Kontakt zu dem Verlag zustande gekommen ist – und warum der zweite Roman, »Der junge Kurt«, zunächst nicht im Verlag Max Spohr erschien, sondern in dem gerade erst gegründeten »Magazin-Verlag Jacques Hegner, Berlin und Leipzig«. Von dort wanderte er schon bald (der Verleger Jakob Hegner ging für mehrere Jahre nach Florenz) in den Verlag Friedrich Rothbarth in Leipzig, bildete dort Band 10 der »Bibliothek Rothbarth« und wurde schließlich 1907 vom Spohr-Verlag übernommen. Der Verleger Max Spohr war inzwischen verstorben, sein Bruder Ferdinand führte den Verlag weiter. Er hatte 1906 den dritten Roman, »Die Infamen«, herausgebracht und ließ 1920 – der Verlag firmierte inzwischen als »Verlag Wahrheit (Ferd. Spohr), Leipzig« – eine zweite Auflage von »Der junge Kurt« folgen.
Seinen Romanerstling hat Eckardt an einen zwei Jahre jüngeren Kollegen geschickt, dessen erster Roman »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« wenig später erschien: Thomas Mann. Das Buch sei ihm »von dem Verfasser, einem Herrn Geron Pernauhm mit einer handschriftlichen Widmung übersandt« worden, schrieb Thomas Mann im September 1900 an seinen Freund aus Lübecker Schülertagen Otto Grauthoff, dem er bekannte: »Gegen keinen kann ich mich so aussprechen wie ich es gegen Dich konnte«. Dringend bat er um Ottos Besuch: »Ich würde Dir ein Buch zeigen (vielleicht auch zu lesen geben), einen Roman der eigensten Art, der dabei nicht einmal schlecht ist.« Schon wenige Tage später wiederholte er seine Bitte, »weil ich Dir einen neuen Roman zu lesen geben möchte, der mir auf Herz und Sinne starken Eindruck gemacht hat«.
Das Jahr 1905 brachte einen ersten großen Bruch in Eckardts Lebensweg: Er kehrte zurück in seine Heimat, wurde Klavierlehrer in Libau. In dem autobiographisch gefärbten Text »Libau anno dazumal« (oben S. 229-231) schreibt er: »1905 also war es, daß sich das Schicksal gegen mich auflehnte und ich die Gestade des Mittelländischen Meeres verlassen und Klavierlehrer werden mußte. Und das geradezu in Libau.« Worin der Schicksalsschlag bestand, bleibt offen; warum er aber nicht nach Riga, sondern nach Libau ging, bekennt er mit leicht ironischem Unterton: »Wenn schon die Heimat, dann wenigstens mit einem Kaffeehaus, sagte ich mir, als ich zum ersten Mal bei Bonitz war. Riga besaß ja in den fernen Zeiten längst noch kein Café.« Das Klavierlehrer-Dasein in der »Musikschule des Herrn Rubinstein« dauerte nur etwa zwei Jahre, dann hatte Riga ihn wieder, und dort hatte Guido Hermann Eckardt dann, wie es in dem Nachruf von H. v. R. [Hans von Rimscha?] (oben S. 242) heißt, »über drei Jahrzehnte« »seinen festen Platz im Kulturleben, vorwiegend im Kunstleben Rigas. Kaum eine Veranstaltung, nicht ein Konzert ohne sein markantes Profil und seinen behinderten Gang. Er gehörte dazu. Er hat das geistige Leben Rigas in dieser Zeit vorwiegend als Kritiker beeinflußt und befruchtet.« Der »behinderte Gang« war eine Folge der Diphtherie, an der Eckardt als Kleinkind erkrankt war: »Mein linkes Bein hatte durch Diphtheritis gelitten. Es liess sich nicht heilen, ich blieb lahm, auch eine Kur in Kreuznach half nicht.«
In Riga hat Eckardt zunächst für die »Rigaischen Neuesten Nachrichten« und dann für die »Rigasche Rundschau« gearbeitet. Vielleicht hat er bei der Zeitung die Dichterin und Übersetzerin Elfriede Skalberg kennengelernt, die er 1915 geheiratet hat. Ihren Gedichten bescheinigt Gero von Wilpert »sprachliche und rhythmische Vollendung, gedankliche Tiefe und feine Seelenanalyse«. Als Übersetzerin lettischer Lyrik ist sie, wie es in einem Gruß zu ihrem 80. Geburtstag heißt, »schon früh zu einer Wegbereiterin der Verständigung zwischen Deutschen und Letten geworden«.
1929 erschien noch einmal ein Buch von Guido Hermann Eckardt: »Kennen Sie Pico?«, eine Sammlung feuilletonistischer Texte über Alltagssituationen (»Seelenhoheit eines Tramkontrolleurs«), Historisches (»Vom Rigaer Amüsierleben ehedem«) und aktuelle Ereignisse (»Die Erscheinung Lindberghs«). Der Musikkritiker, der zuweilen das Publikum auch erziehen möchte (»Typen im Konzert«), meldet sich ebenso zu Wort wie der Zeitungsmacher (»Umbruch«, »Typen auf der Redaktion«). Auf seine Art und Weise hat Eckardt mit der liebevoll-kritischen Beobachtung seiner Zeitgenossen fortgesetzt, was der Vater und Onkel Julius begonnen hatten: Julius Eckardt hatte 1863 eine »Charakteristik der Balten« verfaßt, Guido Eckardt sen. 1904 eine »Plauderei« mit dem Titel »Wie man in Riga spricht«.
Blättert man etwa den Jahrgang 1929 der »Rigaschen Rundschau« durch, gewinnt man den Eindruck, daß Eckardt ziemlich freie Hand hatte bei seinen Beiträgen. Man glaubt nicht nur das Musikgeschehen in Riga rekonstruieren zu können, sondern findet auch einige Glossen aus dem Pico-Buch wieder. Pico ist auch das andere Ich des Autors, wenn es weniger um musikalische Genüsse, als das musikalische Ereignis geht (»Mein Kollege G. H. E. hat sich fluchtartig auf Urlaub begeben … «). Zu dem Pico-Buch fand ein Kollege Worte höchsten, launigen Lobes: »Pico ist nämlich ein literarischer Ahasver; so eine Art Stehaufmännchen, ein Wanjka wstanjka, der in gewissen Metropolen Europas, wenn diese einen gewissen Kulturstandpunkt erreicht haben, auftaucht und dort sein Wesen treibt, das freilich keinerlei Werte schafft, wohl aber amüsant ist und daher von den vorgesetzten Behörden geduldet wird.«
Eckardt konnte in der Zeitung über seinen Urlaub in Italien und seine Liebe zu Italien berichten (»Italienfahrt«, oben S. 232-236), ja sogar als »Eccardo« in die Rolle eines Italieners schlüpfen, den es nach Riga verschlagen hat. Zuweilen hat er auch über Vorträge berichtet, beispielsweise über zwei Vorträge, die Magnus Hirschfeld im April 1929 in Riga gehalten hat (oben S. 237-241). Das Referat ist so ausführlich, daß man Inhalt und Struktur der Vorträge erkennen kann und sogar einen Eindruck gewinnt, in welcher Atmosphäre sie stattfanden. Die Erwähnung von Namen wie (Karl Heinrich) Ulrichs oder (Richard von) Krafft-Ebing wird wohl manchen Leser der Rigaschen Rundschau überfordert haben, zeigt aber auch, daß Eckardt offensichtlich zu den Zuhörern gehörte, »die das Mannigfache und Vielfältige in den Bezirken der modernen Sexualforschung mehr oder weniger aus Büchern zu verfolgen die Gelegenheit hatten«.
Das Leben in Riga endete abrupt: Im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes wurde die deutschstämmige Bevölkerung umgesiedelt; innerhalb weniger Wochen fand im Herbst 1939 die Geschichte des Deutschtums im Baltikum ein Ende. Elfriede Eckardt-Skalberg hat in ihrem Gedicht »Nachruf« geschildert, wie das Schicksal sie »erbärmlich behandelt« hat, »als sie der Heimat entrissen ward«: »Wie ein Kartoffelsack ward sie von Lager zu Lager verschoben … « Der Weg führte über Thüringen, das Rheinland und die Ostsee, über Köln, Frankfurt und Berlin an den »leuchtenden Bodensee«, nach Überlingen, »wie ein Gemälde hängend über dem Ufer! … «
Hier endete beider Lebensweg: Guido Hermann Eckardt starb am 22. September 1951 im Alter von 78 Jahren, Elfriede Eckardt-Skalberg am 19. Dezember 1964 im Alter von 80 Jahren.
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Eckardts Romane gehören biographisch in die Jahre seiner Ausbildung und Wanderschaft. München, Genf, Paris und Rom – der eine oder andere dieser Orte taucht auf als Ort der Erinnerung oder der Flucht, auch wenn die Romane in Berlin (»Ercole Tomei«, »Die Infamen«) oder in Riga (»Der junge Kurt«) spielen, und familiäre Bindungen weisen immer wieder nach ›Livland‹. Soweit Romanfiguren mit Kunst zu tun haben, ist es meist die Musik. Die Handlung spielt in gutbürgerlichen Kreisen mit Dienern und Droschken. Die steifen Umgangsformen sind erstarrte Konvention, aber auch nicht unwillkommene Fassade für die, denen es wichtig ist, das Eigentliche zu verbergen.
Numa Praetorius hat die Romane im einzelnen analysiert und dabei besonders darauf geachtet, welche Typen von Homosexuellen auftauchen, wie plausibel ihr Handeln ist, wie die Welt der ›Eingeweihten‹ im Verhältnis zur Welt der ›Anderen‹ gesehen wird. Eng verwoben sind die beiden Sphären in »Ercole Tomei« und »Der junge Kurt«. Die »psychische Hermaphrodisie« Ercoles, seine »Neigung zu beiden Geschlechtern«, läßt Eifersucht zum Liebesbeweis werden – mit tödlichen Folgen, und der »junge Kurt« zerbricht an der Unentschiedenheit des Älteren, der dem selbst gesetzten Anspruch nicht gerecht wird, der Freundschaft mit einem jungen Manne »einen Stil (zu) erfinden«.
Ein breit gefächertes Panorama zeichnet Pernauhm in dem Roman »Die Infamen«, der, wie der Verweis auf die Schriften des »ridikülen Assessors« Karl Heinrich Ulrichs und auf Hannover als (noch) urningsfreundliches »Ausland« zeigen, in den Jahren 1865/66 spielt. Doch es geht auch hier nicht nur um die Vielfalt von Verhaltensweisen in einer bestimmten historischen Situation, nicht nur um die Frage, wo man »blaue Sammetjacken mit Perlmutterknöpfen« tragen kann und wo nicht: Auch in dieser Welt voller Camouflage erblüht die Liebe, hier zwischen Richard und Karl – und wird zertreten. Richards Ohrfeige, die das dramatische Geschehen in Gang setzt, trifft den geachteten Professor Ziegler, der ein junges Leben zerstört hat, und ist zugleich ein erster Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Zwang zum Versteckspielen. So kommen Zeitkolorit und eine subtile Gestaltung seelischer Konflikte zusammen und machen Pernauhms Romane, wie Rolf Norden 1907 formulierte, zu »kulturhistorischen Dokumenten«.
Guido Hermann ECKARDT, Erinnerungen (Manuskript [57 S.] im Archiv der Carl-Schirren-Gesellschaft in Lüneburg, Signatur: AR 18/9); daraus S. 28-31 (in leicht veränderter Form): Aufbruch mit sieben Signalen, in: Baltische Briefe, 19. Jg. (1966) Nr. 6 (212) S. 7-8. – Franz BRÜMMER, Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten (Leipzig 61913), Band 2, S. 97 f.; Carola L. GOTTZMANN–Petra HÖRNER, Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs, 3 Bände (Berlin – New York 2007), Band 1, S. 379-387. – Deutscher Verein in Livland, Ortsgruppe Riga, Verzeichnis der Mitglieder am 31. Dezember 1913, S. 39: Guido Hermann Eckardt, Schriftsteller, Elisabethstr. 12 W. 7. – H. v. R., Guido Hermann Eckardt †, in: Baltische Briefe, 5. Jg. (1952) Nr. 1 (39) S. 6.
Guido ECKARDT, Unerwartet, in: Simplicissimus, 2. Jg. 1897/98 Nr. 20 S. 155; Guido ECKARDT, Ein Hausmittel, in: Simplicissimus, 2. Jg. 1897/98 Nr. 44 S. 346 – Fritz Geron PERNAUHM, Ercole Tomei. Roman (Leipzig: Verlag Max Spohr 1900; Neuausgabe Hamburg 2010); F. G. PERNAUHM, Der junge Kurt (Berlin – Leipzig: Magazin-Verlag Jacques Hegner [1904]; 2. Auflage Leipzig: Verlag »Wahrheit« (Ferd. Spohr) 1920; Neuausgabe Hamburg 2010); F. G. PERNAUHM, Die Infamen (Leipzig: Verlag Max Spohr [1906]; Neuausgabe Hamburg 2010); Guido Hermann ECKARDT, Kennen Sie Pico? (Riga: R. Ruetz & Co. [1929]) – Übersetzungen: Emile ZOLA, Die Erdbeeren und andere Novellen [»Die Erdbeeren«, »Jacques Damour«, »Die Diebe und der Esel«]. Deutsch von Guido ECKARDT [Umschlagzeichnung: Ferdinand von Reznicek]. München: Verlag Albert Langen 1901, 21905 (Kleine Bibliothek Langen, Band 33).
Bruno GOETZ (Hg.), Die jungen Balten. Gedichte (Berlin-Charlottenburg 1916); Werner BERGENGRUEN (Hg.), Baltisches Dichterbrevier (Berlin – Leipzig 1924); Alfred FREY, Baltisches Vortragsbuch (Riga 1926). – Die »Rigasche Rundschau« wurde eingesehen in der Lettischen Nationalbibliothek in Riga (erwähnte Artikel: PICO, Schülerkonzert, 29. 5. 1929 S. 5; ECCARDO, Riga, 10. 8. 1929 S. 10; O(skar) G(ROSBER)G, Kennen Sie Pico?, 30. 11. 1929 S. 6; Kathi Kobus † (ungezeichneter Nachruf), 13. 8. 1929 S. 2).
Julius V. ECKARDT, Zur Charakteristik der Balten. Eine Analyse aus dem Jahre 1863 (Hamburg 1962); Guido ECKARDT [sen.], Wie man in Riga spricht. Eine Plauderei, in: Baltische Monatsschrift 1904, Heft 7 und Separatausgabe (Riga 1904, Nachdruck o. J.; 3. Auflage [neu gesetzt, leicht verändert und erweitert] Riga 1911). – Lettische Lyrik. Eine Anthologie. Übersetzt aus dem Lettischen von Elfriede ECKARDT-SKALBERG (Riga 1924, veränderte Neuauflage Hannover 1960); Elfriede ECKARDT-SKALBERG, Und nichts blieb haften. Gedichte (Hamburg 1964). – Elfriede Eckardt-Skalberg 80 Jahre, in: Baltische Briefe, 17. Jg. (1964) Nr. 3 (185) S. 9.
Numa PRAETORIUS (Eugen Wilhelm), [Rezensionen], in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 3 (1901) S. 456-461 (»Ercole Tomei«); 7 (1905) S. 890-893 (»Der junge Kurt«); 9 (1908) S. 607-610; Rolf NORDEN [zu »Der junge Kurt« und »Die Infamen«] zitiert in: Monatsberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, 6. Jg. Nr. 8/9 (1. 9. 1907) S. 167. – Magnus HIRSCHFELD, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (Berlin 1914) S. 539. – Ernestine KOCH, Albert Langen. Ein Verleger in München (München 1969); Helga ABRET, Albert Langen. Ein europäischer Verleger (München 1993); Mark LEHMSTEDT, Bücher für das »dritte Geschlecht«. Der Max Spohr Verlag in Leipzig. Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881-1941) (Wiesbaden 2002) [die zweite Auflage von »Der junge Kurt« ist zu ergänzen]. – Thomas MANN, Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed 1903-1928 (Frankfurt am Main 1975) S. 30, 114, 122; Karl Werner BÖHM – Gerhard HÄRLE, »Ein starker Eindruck auf Herz und Sinne« [Vorbemerkung zu Auszügen aus »Ercole Tomei«], in: Forum Homosexualität und Literatur 6/1989 S. 103-107; Gero VON WILPERT, Deutschbaltische Literaturgeschichte (München 2005); Yvonne IVORY, Fritz Geron Pernauhm's Ercole Tomei (1900) and the Rhetoric of Sexual Emancipation (Manuskript 2009).