Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel

Wohl eine Stunde hatte er im Antiquariat Rosenkranz unter den Büchern, Heften und alten Journalen gesucht und gestöbert. Um irgend etwas zu kaufen, wählte er eine Broschüre, die ihm gerade in die Hände fiel, bezahlte einen viertel Taler ohne zu dingen und trat hinaus in die reine kalte Winterluft.

Er schaute nach dem Wetter aus, dann setzte er sich die Fellmütze auf, die er noch immer in der Hand gehalten hatte, knöpfte den Mantel zu und ging. Anfangs schlenderte er ganz langsam, über die Cavalierbrücke, am Schloß vorbei und an der Oper. Dann schritt er etwas eiliger vorwärts, bog vor den Linden ab, begab sich in die Jägerstraße und trat in Bocks Notengeschäft ein, wo er etwas abholen sollte.

Aber die Sonate, die man mit der heutigen Sendung aus Leipzig erwartete, war nicht gekommen.

Morgen war Sonntag. Also übermorgen erst. Der Kommis entschuldigte sich. Übrigens hatte Fedi garnicht so gewiß geglaubt, die Sonate schon heute vorzufinden. In solchen Handlungen versprach man ja immer zu viel und ließ dann warten. Aber er hatte doch gehofft und als sichs nun entschied, war er ärgerlich.

Er ging in die Dorotheenstraße, nach Hause. Im Flur und auf den Treppen war es schon dunkel, er stieg langsam hinauf, öffnete gemächlich die hohe schmale Tür und legte im Garderobezimmer ab. Richard war noch nicht da, sein Mantel hing nicht an der Knagge. Es konnte auch kaum fünf Uhr sein. Fedi steckte die Lampe in der Wohnstube an und begann auf und ab zu schreiten. Dann blieb er stehen und hielt Umschau im Zimmer. Es gefiel ihm heute zu Hause, nun hatte er sich mit der Zeit doch daran gewöhnt in fremden Möbeln zu leben. Anfangs war es keine volle Freude gewesen, wenn er nach der Arbeit heimkam unter lauter Sachen und Dinge, die er nicht lieb haben konnte, weil er sie nicht besaß.

Ganz wohnlich alles, dachte er, blickte aber vorzüglich auf die Stücke im Raum, die ihm oder seinem Kameraden wirklich gehörten – auf ein kleines Harmonium, auf Richards Klavier, das daneben stand und auf einen großen, soliden mit grünem Tuch bespannten Arbeitstisch, den sich Fedi neulich gekauft hatte und auf dem die Bilder seiner Mutter und seiner Schwester aufgestellt waren, in alten Mahagoni-Rahmen. Noch andere Andenken aus der Heimat, aus Livland, waren sehr sorgfältig hingekramt. Ein weißliches, gerundetes Marmorstück mit einem Windhunde aus gelbem Marmor darauf beschwerte ein Häufchen Papiere. Das Tier lag gerade und bequem hingestreckt auf dem Block und steckte den feinen, spitzen Kopf neugierig in die Luft. Neben einem Glase, in das ein Veilchenbouquet eingraviert war, einem Behälter für Metallfedern, Posen, Buchzeichen und dergleichen, lag ein Falzbein aus Schildpatt. Ein bemaltes Bändchen, auf dem Wolmar stand, war daran gebunden. Im Frühling, wenn man Blumen haben kann, wird alles noch hübscher aussehen, dachte Fedi und setzte sich an den Tisch um an seine Mutter zu schreiben.

Zuerst ging es schnell vorwärts, er hatte es sich schon seit Tagen im Kopf zurechtgelegt, was er alles erzählen wollte. Doch als er die drei ersten Seiten geschrieben und das Blatt umgewendet hatte, zögerte er. Er lehnte sich zurück. Dann beugte er sich wieder vor, setzte die Feder an und schrieb ein paar Worte. Aber er strich sie gleich wieder aus. Es war doch ein knifflicher Punkt und nicht so leicht um ihn herumzukommen.

Er erhob sich und schritt ungeduldig in der großen Stube hin und her, bisweilen blieb er einen Augenblick stehen. Ob es nicht am besten war, einige Grüße an Verwandte hinzuzufügen, den Brief zu schließen und ihn so abzusenden?

Aber das würde auffallen. Wenn nun kein Wort über Richard darin stand. Denn das wußte er, seine Mutter würde ihn jedenfalls Richards Mutter vorlesen, immer tauschten sie die Briefe der Kinder aus, die alten Freundinnen. Und schon das letzte Mal hatte er von Richard nichts anderes schreiben dürfen, als daß er gesund wäre.

Aber noch hatte Fedi keinen Entschluß gefaßt, als er ihn vom Flur ins Garderobezimmer eintreten hörte.

Als er ins Zimmer kam, suchte Fedi sogleich seinem Blick zu begegnen. Nach dem Gruß sah Richard in Gedanken geradeaus auf die Wand und dann zu Boden. Er war groß und nicht sehr schlank und alles an ihm war männlich, fertig, wohl gemessen und erwachsen. Aber trotzdem nichts Knabenartiges mehr seinem Antlitz anhaftete, war es jung, ganz besonders jung, und nicht etwa deshalb, weil er keinen Bart trug. So lange er schwieg, stand fest und gleichmäßig etwas ungemein Ernstes in seinen klugen Augen, aber man fühlte, es war keine Sorge, die einzog, nur die Nachdenklichkeit der Jugend war es.

Sogleich begann Fedi: Es tut mir leid, aber ich kann nichts daran ändern. Die Sonate von Franz Liszt ist noch nicht gekommen. Ich hatte sie gleich am selben Tage bestellt, als Du mir sagtest. Heute sollte sie da sein, die Leute sind immer so unzuverlässig mit den Kommissionen.

Richard schien nicht sehr überrascht zu sein und meinte, es wäre ja gut, wenn er die Noten am Montag Nachmittag oder Dienstag hätte. Er schloß seinen Rock, dessen Kragen wie bei einer Uniform aufrecht stand und setzte sich an sein Tafel-Klavier. Aber er spielte nur wenige Minuten, erhob sich und knöpfte den Rock wieder los. Hosen und Weste waren grau, aus dem gleichen Stoff, und besonders gerade und schlank sah die Gestalt in ihnen aus, wenn der Rock weit offen stand.

Fedi freute sich, Richard durchaus nicht unmutig darüber zu finden, daß die Notensendung sich verspätet hatte. Doch als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, wo der angefangene Brief lag, änderte sich seine Stimmung sofort. Ob das nicht der Moment war, um wieder einmal damit zu beginnen? Vielleicht, daß er heute mit sich reden ließ.

Er überlegte und hüstelte einige mal. Und dann fing er an, mit einer Stimme, die immer erregter klang: Lieber Richard, ich muß Dir sagen, ich bin wirklich sehr geniert, sehr geniert. Ich begreife garnicht, wie Du es mit Deinen Briefen machst. Du kannst doch nicht immer weiter davon erzählen, daß Du studierst. Und wenn Du nun wirklich Künstler werden willst, warum schreibst Du es denn nicht endlich? Am Ende kommt es noch durch einen Zufall heraus, das würde Deine Verwandten doch sehr froissieren. Deine Mutter wird ja schon einverstanden sein, wie soll sie denn anders, wenn Du als zwanzigjähriger Mensch ganz einfach auf Deinem Willen bestehst. Sie tut ja doch alles, wie Du es willst. Aber Du wünschest, daß man für's »Erste«, so sagst Du immer, zu Hause nichts davon weiß. Wenn ich an meine Mutter schreiben will und von Dir erzählen, ja wie soll ich denn das machen. Ich kann doch nicht direkt lügen. Es ist wirklich – wirklich –

Er brach ab. Er hatte immer drängender und schneller gesprochen. Er stand da, plötzlich aus dem Konzept gebracht und fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar, ratlos und unglücklich.

Er sah auf Richard und rief: Natürlich! Du kicherst vor Vergnügen. Du findest ja immer alles höchst unwichtig und so weiter, nicht wahr?

Richard hatte aber noch garnicht gelacht. Jetzt allerdings tat er es, nachdem Fedi seine Stimmung so plötzlich erraten hatte.

Heiliger Vater, rief er, was Du parlieren kannst, zehn Mühlräder. Und Du weißt doch, warum. Ich wollte erst ein Zeugnis haben, um darauf pochen zu können. Meiner Onkel wegen. Sonst geben sie mir weise Ratschläge, das hasse ich wie Gift. Aber es dauert zu lange, Du hast recht. –

Und er setzte sich, schob den von Fedi begonnenen Brief rasch beiseite und griff nach einem frischen Bogen.

– Was willst Du denn? fragte Fedi, der sich das gar nicht so schnell denken konnte.

– Du siehst es doch!

Das kam Fedi nun wieder ganz erstaunlich vor. Erst verzögerte Richard die Sache monatelang und dann war er so plötzlich entschlossen. Er wartete sehr gespannt. Einmal wagte er sich etwas vor, um Richard über die Schulter zu gucken. Doch der verbat sich das und sich entschuldigend, trat Fedi von seinem Schreibtisch zurück und begann ganz leise auf und nieder zu gehen. Endlich ward ihm der Brief zu lesen gegeben. Richard meldete in ziemlich kurzen Sätzen, er würde Musiker werden, die Mutter wisse ja, alles andere wäre nie seine Passion gewesen. Fürs erste wolle er in Berlin bleiben, späterhin nach Leipzig übersiedeln. Die fünftausend Rubel, die für seine Studienjahre bestimmt wären, würden jedenfalls auch zur musikalischen Ausbildung hinreichen. Man sollte zu Hause nur nicht meinen, daß er sich zu aristokratisch dünke, um Klavierstunden zu geben. Denn natürlich könne man nicht mit Sicherheit auf eine Konzertkarriere rechnen.

Fedi las den Brief zweimal, fand ihn sehr gut abgefaßt, war mit allem einverstanden und obgleich die Erklärung, die Begründungen und die Abfertigung möglicher Einwände kaum drei kleinere Seiten füllten, fiel ihm nichts ein, was hinzuzufügen wäre. Und er entnahm dem gläsernen Behälter auf seinem Schreibtisch die Lackstange und legte sie neben Richards Petschaft, den er rasch aus dem Nebenzimmer geholt hatte. Dann sah er zu, wie Richard die Adresse schrieb: Hochwohlgeboren der Frau Baronin Marie von Löwenwolde, Wolmar über Riga.

Es war Abend geworden und Zeit zu speisen. Fedi ordnete noch einiges im Zimmer. Er rückte den marmornen Windhund, seinen Briefbeschwerer, den Richard zur Seite geschoben hatte, auf seinen Platz und steckte den Siegellack wieder ins Glas. Er war froh und gesprächig. Kein Zweifel, die Familie würde nach kurzem Parlamentieren mit Richards Entschluß einverstanden sein. Gewiß, wir trinken eine gute Bouteille Rotwein nach Tisch, dachte er, noch immer stolz darauf, daß Richard seinen Rat angenommen hatte. Es war heute ordentlich und wirklich ein Feiertag.

Sie speisten in einer Restauration in der Mohrenstraße und begaben sich alsdann unter die Linden zu Habel. Sie setzten sich, bestellten und Richard fing an einige Zeitungen zu durchblättern, die er sich geholt hatte; er suchte nach einer Kritik über die vorgestrige Aufführung im Opernhaus. Währenddessen hielt Fedi Umschau im Raum, der ihm fremd war. Bildnisse von Offizieren in altmodischen Uniformen schmückten die Wände und in einem der vergoldeten Rahmen, den oben eine Krone verzierte, hing das Porträt des verstorbenen Königs. Die Tische waren ungedeckt und viele von ihnen übersäet mit eingeschnittenen Namenszügen. Die hohen dunklen Gardinen an den Fenstern bewegten sich zuweilen leise, wenn ein Windstoß gegen die Scheiben anfuhr. Neben Richard und Fedi um einen runden, ziemlich hohen Tisch waren etwa acht oder zehn meist schon ältliche Herren versammelt. Einer von ihnen erzählte flüsternd, mäuschenstill und aufs höchste gespannt lauschten die anderen. Dann plötzlich fuhren die Köpfe Aller mit einem Ruck in die Höhe und ein polterndes Gelächter erhob sich, brach aber ebenso plötzlich wieder ab, während der ganze Schwarm wieder zusammenrückte und Alle den Oberkörper rasch vorbeugten. Und von neuem ward die flüsternde Stimme hörbar. Und nach wenigen Minuten lachte die ganze Gesellschaft wieder von neuem, unaufhaltsam und aus vollem Halse. Das ging immer so weiter und jedesmal schien der Jubel zu wachsen, wenn die zusammengeduckten Köpfe auseinanderflogen und alles nach dem Roussillon griff.

Gelangweilt von dieser sich immer wiederholenden Szene blickte Fedi zu den anderen Tischen. Gegenüber an der Wand saß ein Herr, der ihm auffiel, er wußte nicht warum. Er war modern gekleidet, allein, trank Champagner und hatte einen dunklen Spitzbart und kleine Hände, an denen er Ringe trug. Sie sahen sich an. Aber nur eine Sekunde lang blieb der Blick des Fremden an Fedi haften, dann fiel er zur Seite, auf Richard, und Fedi glaubte zu bemerken, daß das Antlitz drüben einen ernsten, verwunderten Ausdruck annahm.

Rasch sah auch er hin, auf Richard. Doch der saß da, ganz vertieft in die Zeitungen, es war nichts auffällig an ihm.

Als Fedi wieder hinüberschaute, begann der Herr drüben langsam die anderen Tische zu mustern, mit peinlicher Aufmerksamkeit das große Zimmer durchspähend. Dann rief er nach der Bedienung und bezahlte. Doch er brach nicht auf. Fedi und Richard beachtete er nicht im geringsten.

– Ist das der Zahnarzt, den uns Doktor Ehrbeck in Riga empfahl? fragte Richard und zeigte auf eine Notiz in der Tribüne. Fedi griff nach dem Blatt, brachte es der Gasflamme näher und las. Es war der Polizeibericht über einen in Potsdam verübten Einbruchs-Diebstahl. Die Täter waren immer noch nicht ermittelt. Neuerdings hatte sich ein Barbierjunge des Stralauer Viertels durch den Besitz einer goldenen, echt Schweizer Zylinderuhr nebst Kette, verdächtig gemacht. Beim Verhör hatte sich der Bursche in Widersprüche verwickelt. Seine Ausrede, daß er die Uhr von einem Kunden – Zahnarzt Friesendorf – geschenkt erhalten habe, war doch allzu unglaubwürdig befunden worden.

– Wahrscheinlich doch ist es derselbe, sagte Fedi. – Friesendorf, der Name stimmt, ich erinnere mich.

Er wollte irgend etwas fragen und den Absatz noch einmal lesen, aufmerksamer, genauer. Aber ein dröhnendes Lachen störte ihn. Es war der letzte Ausbruch der Heiterkeit am benachbarten Stammtisch. Alle hatten sich erhoben, suchten nach ihren Mänteln und Castorhüten, riefen durcheinander und taten das Geld für die Zeche auf einen Fleck zusammen. Die Taler und Groschen klimperten, sprangen und rollten, bis die Summe endlich voll war und der bedienende Wirtssohn das Häufchen mit der rechten Hand vom Tisch herunterstrich und in die linke schüttete. Noch immer lachend gingen die alten Herren dem Ausgang zu, wo sich die Gesellschaft für einige Augenblicke fest zusammenschob, da niemand den Vortritt beanspruchen wollte.

Richard warf die Zeitungen beiseite, sie bestellten eine neue Flasche und begannen zu plaudern. Aber Fedis Gedanken waren nicht bei den kleinen Mitteilungen, die sie sich machten, noch immer hafteten sie am Ereignis der letzten Stunden. Also der Brief war endlich geschrieben und jetzt schon unterwegs. Immer wieder fiel ihm das ein und es freute ihn jedesmal. Nun hatte man doch endlich ein deutliches Bild von der Zukunft. Wahrscheinlich nach anderthalb Jahren ging Richard nach Leipzig. Und Fedi natürlich mit ihm, als ob er da nicht ebenso gut studieren könnte. Sie lebten jedenfalls wieder zusammen. Und allmählich würden sie sich alles Nötige kaufen und eigene Menage führen.

Immer froher ward er in Gedanken an die Jahre, die kommen würden. Aber nach Leipzig, was dann? fiel ihm ein. Dann war die Studienzeit zu Ende und man konnte nicht mehr so genau wissen. Sich trennen?

Und er war plötzlich nachdenklich, besorgt.

Als sich in der Stube außer ihnen keine anderen Gäste mehr befanden, brachen sie auf. Es war etwa halb zwölf, als sie hinaustraten. Es hatte zu schneien begonnen, die Flocken fielen gleichmäßig, von keinem Windzuge bewegt und eine feine Schicht, nur von wenigen Wagenspuren durchzogen, lag sanft und weiß unter dem Lichte der Laternen. Nach den ersten Schritten bemerkte Fedi, daß er seine Handschuhe vergessen hatte. Er bat Richard einen Augenblick zu warten und ging zurück ins Weinhaus. Aber man fand sie nicht sogleich, es mußte überall nachgesucht werden und es dauerte mehrere Minuten, bis man sie endlich entdeckte, auf dem Fensterbrett, hinter der Gardine. Als er hinausging stand Richard nicht mehr dort, wo er ihn verlassen hatte. Er sah ihn, drüben, im Halbdunkel, unter den Bäumen. Neben ihm stand ein Herr, ein Mann mit einem ziemlich hohen Hut. Ein Streichholz flammte auf, offenbar hatte man Richard um Feuer angesprochen. Aber als das glimmende Stümpfchen in den Schnee geflogen war, standen die Beiden noch immer da. Neugierig geworden ging Fedi etwas näher und schaute hin. Wer konnte es sein? Soviel sah er beim unsicheren Schein, den die entfernte Laterne hinwarf, daß es Niemand von ihren wenigen gemeinschaftlichen Bekannten war. Und andere besaß Richard garnicht. Zum mindesten nicht in Berlin. Plötzlich bemerkte er, wie sich der Herr etwas näher zu Richard heranstellte. Und aus Richard konnte er garnicht klug werden. Er rührte sich nicht und schien zu schweigen. Was haben denn nur die Beiden miteinander? fragte sich Fedi ganz ratlos. Plötzlich blickte Richard auf und schaute sich um und als er Fedi, der auf dem Fahrdamm stand, erkannte, tat er ein paar Handbewegungen, winkte hinüber und wollte ihm mit seiner Geste irgend etwas zu verstehen geben. Aber Fedi begriff durchaus nicht, was. Es sah aus wie: Gedulde dich noch einen Augenblick. Aber es konnte auch heißen: So komme doch näher. Oder: Gehe einen Augenblick bei Seite.

Sie taten ein paar Schritte, dann blieben sie stehen. Aber nach wenigen Augenblicken gingen sie weiter, doch nicht schlendernd, sondern ganz bewußt, wenn auch langsam und gemächlich des Weges ziehend. Richard blickte sich keinmal mehr um. Zuweilen, wenn sie an einer Laterne vorbeischritten, sah Fedi sie deutlicher. Der Herr war etwas kleiner als Richard, wie es schien, trug er einen Pelz. Rasch und gleichmäßig sinkend kamen die Flocken herunter. Die Luft war still und warm und ward von keinem Windzuge bewegt.

Als er sie nicht mehr sah, schaute Fedi noch immer hin, verblüfft und unschlüssig und den Atem noch immer ein wenig zurückhaltend.

Jemand, der fremd ist und eine Straße sucht, sagte er sich endlich. Aber sogleich fiel ihm ein, daß es gar nicht so ausgesehen hatte, durchaus nicht so. Und mit seinen kleinen hastigen Schritten ging er ihnen nach.

An der Ecke der Friedrichstraße machte er Halt und schaute nach allen Seiten. Es war spät geworden, Mitternacht vorbei und nur noch wenige Leute waren unterwegs. Nach einigem Besinnen ging Fedi wieder zurück und blieb von neuem vor dem Weinhause stehen. Er fand keine Erklärung. Doch hielt er es für wahrscheinlich, daß Richard, wenn er den fremden Herrn los wäre, auf dem Heimwege hier vorbei kommen würde.

Aber nach wenigen Minuten schon ungeduldig werdend, eilte er wieder an die Ecke der Friedrichstraße. Und plötzlich war es ihm so, als hätte er gesehen, daß Richard und dieser Herr hier abgebogen wären. Allerdings war er dessen nicht sicher und wußte nicht mehr ganz genau, wo er sie aus den Augen verloren hatte. Er ging die Friedrichstraße hinunter, ganz langsam und fortwährend über den Fahrdamm blickend. An den Quergassen blieb er stehen und schaute nach rechts und links. Bisweilen verweilte er an ihnen etwas länger und sah scharf irgend jemandem entgegen, dessen Gestalt der Richards von weitem ähnelte. Er kam bis in die Nähe der Leipziger Straße, kehrte dann plötzlich wieder um und begab sich wieder zu den Linden. Das Weinhaus war schon geschlossen. Fedi hatte an die Möglichkeit gedacht, daß Richard zurück wäre und bei einer neuen Flasche auf ihn warte. Übrigens konnte es leicht sein, daß Richard unterdessen hier gewesen war. Nun, und er hatte Fedi nicht mehr gefunden und sich also nach Hause begeben.

Er eilte mit hastigen kleinen Schritten in die Dorotheenstraße, öffnete das Haustor, sprang die Treppen hinauf und sperrte die hohe schmale Tür los. Alles lag im Dunkel, er ging von Raum zu Raum und rief nach Richard in den beiden Schlafstuben und im Wohnzimmer.

Als er wieder hinaus trat, schneite es nicht mehr und es war kälter geworden. Fedi hüstelte und in Schweiß geraten und atemlos vom hin- und herlaufen blieb er stehen, sah rasch nach allen Seiten und knöpfte sich den Mantel auf. Er begriff das garnicht. Es war ganz unerklärlich. Wenigstens hätte ihm Richard doch ein Wort sagen können, anstatt nach diesem unverständlichen Zuwinken zu verschwinden. Gewiß ließ er sich irgendwie verleiten, wenn ihm etwas nur ungewöhnlich erschien, dann war er ja immer gleich dabei.

Es konnte übrigens doch irgend ein Bekannter sein, vielleicht ein Livländer auf der Durchreise. Fedi dachte noch immerfort; aber er fand keine Erklärung, sein Ärger wuchs immer mehr und im Geiste sammelte er schon die Vorwürfe, die er Richard machen wollte, obgleich er ja so gar nicht wußte, was eigentlich war.

Doch allmählich verlor sich sein Zorn. Nur ängstlich und besorgt und gepeinigt von dieser Ungewißheit spähte er hin und her. Rasch lief er auf und ab vor dem Hause und wartete.

Plötzlich blieb er stehen. Gleich darauf ging er wieder, seine Schritte eifrig beschleunigend, obgleich er kein Ziel hatte. Es war ihm eingefallen.

Das konnte es sein. Daß er nicht schon lange daran dachte. Mehrmals hatte man ihm ja erzählt, daß so etwas in Berlin und in Paris zu geschehen pflegte. Ganz einfach, dieser fremde Mensch hatte Richard ein Spielchen proponiert, und der war natürlich darauf eingegangen. Und jetzt war ja auch verständlich, warum er ihm nichts hatte sagen wollen und nur so dumm hingewinkt hatte. Richard wußte, daß Fedi durchaus versucht hätte, ihn zurückzuhalten, daß er es haßte, wenn Richard spielte.

Das war eine Sache. Jedenfalls würde er verlieren, und er hatte gerade eine Menge Geld bei sich, noch ungewechselt hundertfünfzig Rubel. Er konnte ganz verrückt werden, wenn er spielte. Fedi fiel eine Szene ein, die sich noch kürzlich in Livland zwischen Richard und zwei älteren Herren, einem Advokaten und einem Gouvernements-Sekretär zugetragen hatte. Fedi war dabeigewesen.

Man spielte irgend ein Hasard. Richard hatte etwas verloren, nicht so sehr viel, aber wie es schien, wollten die beiden andern von einem so jungen Manne nicht noch mehr gewinnen. Richard merkte das, aber ohne sich darum zu kümmern, hielt er eine sehr hohe Bank. Die Mitspieler blieben jedoch bei ihren kleinen Sätzen. Darauf zog Richard, ohne im Geringsten den Eindruck eines geärgerten Menschen zu machen, seine Bank von fünfzig oder sechzig Rubeln zurück, faltete ganz langsam die Scheine, nahm das Päckchen zwischen Mittelfinger und Daumen der linken Hand und ergriff mit der anderen die Lichtschere, die sich neben den brennenden Kerzen befand. Und er drehte die Papiere fortwährend und beschnitt sie rasch an den Ecken, bis das ganze schöne Geld in Flickern und Fetzchen dalag. Die blies er mit einem Atemstoß vom Tisch. Hierauf griff er in die Hosentasche, zog zwanzig Kopeken in Silber und einige Ferdinge heraus und legte sie mitten auf den Tisch. Dann holte er wieder aus derselben Hosentasche einen kleinen, gänzlich verrosteten Uhrschlüssel und warf den zum Gelde. Das zusammen sollte die neue Bank sein, das Schlüsselchen und die Kupfermünzen.

Fedi hatte sich sehr für Richard geschämt, der Sekretär und der Advokat waren sehr erzürnt gewesen, hatten das Spiel abgebrochen und nachher überall in der Stadt vom unqualifizierbaren Betragen des jungen und kindischen Baron Löwenwolde gesprochen.

Dann nahm irgend Jemand die Sache in die Hand und brachte es dazu, daß die Parteien sich entschuldigten.

Ja, das war schlimm. Hätte ich doch die dummen Dinger da im Weinhause liegen lassen, dachte er und betrachtete ärgerlich die wollenen Handschuhe an seinen Händen. Ihn fror. Es war nicht zu wissen, wann Richard heimkommen würde, und er ging hinauf und zu Bett. Leise entkleidete er sich und horchte dabei zur Flurtür hin. Als er im Bett lag, müde und den Schlaf suchend, erschien ihm das alles doch etwas wunderlich, das mit dem Spiel. Hatte es denn wirklich so ausgesehen?

Er ist wie in einen Brunnen gefallen, dachte Fedi und ließ die Kerze noch brennen.


 << zurück weiter >>