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Fünftes Kapitel

1.

Im Mai kehrte Doktor Bovet aus St. Petersburg zurück, wo er für seine Sache gewirkt hatte. Er war von Alexander II. einer längeren Audienz gewürdigt worden und hatte ihn für seinen Plan gewonnen, für diese mit so großer Energie aufgegriffene Idee, internationale Kriegslazarette unter neutraler Flagge zu schaffen. Bovet traf ganz plötzlich in Berlin ein, früher, als man ihn erwartet hatte. Und er war ganz verzweifelt über den Train, in dem er Tozoli fand. Es war gerade sein Wunsch gewesen, daß der Graf diese Monate in Berlin verleben sollte und nicht in Rom oder Paris. Aber viel schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Sein junger Freund war in Schulden geraten, ermattet von durchwachten Nächten und von einer langen Reihe froher Feiertage und war der Mittelpunkt eines Kreises junger Leute ohne Herkunft, die alle aus seiner Börse lebten. Bovet machte dem Doktor Müller und Herrn von Kreutzberg in aller Höflichkeit einige Vorwürfe. Die entschuldigten sich, erklärten, sie besäßen keinen Einfluß auf den Grafen und lehnten jede Verantwortung ab. Nach einigen heftigen Auftritten verzieh Bovet natürlich, da er mit leidenschaftlicher Neigung an dem jungen Manne hing. Graf Tozoli, der katholisch und sehr fromm war, ging zur Beichte und versprach, ein anderer Mensch zu werden und gegen seine Sünden anzukämpfen. Der Protestant Bovet erreichte das, dessen lebendige Gläubigkeit und christliche Gesinnung auf Tozoli stets einen großen Eindruck machten, obgleich er sonst allem Nichtkatholischen feind war. Sie reisten nach Genf.

Richard befand sich in einem Zustande der Ermüdung und doch war er nicht erschöpft und konnte nicht ausruhen. Noch immer blieb der Reiz der Neuheit diesem Leben, das sich abspielte, so nahe den Vielen, die nichts ahnten; immer wieder faszinierte die abenteuerliche Buntheit der Beziehungen und Zusammenhänge, und die Gefahr nahm den Stunden das Eintönige, das Alltägliche. Doch bisweilen ward er überdrüssig seiner Empfindungen, die so leicht aufloderten, deren Flamme aber, wie im Ungestüm eines zu hastigen Windes, nicht hell und rein brennen konnte. Er wollte Stärkeres, Dauer.

In seinem Verkehr mit Dubois hatte sich einiges geändert. Richard merkte, daß seine Kühlheit ihn etwas verstimmte, aber er hatte eben nicht anders sein können und niemals im Leben war er ein guter Schauspieler gewesen. Das etwas Schlaffe an Dubois und namentlich das Gleichmäßige an ihm, ärgerte Richard bisweilen; so trat Dubois jedesmal, aber auch jedesmal, wenn sie sich wiedersahen, schweigend und erfreut auf ihn zu, nahm seine rechte Hand, hielt sie mit warmem Druck und sagte alsdann lächelnd: Ah, der Herr Musikus! Zurzeit besuchte ihn Richard übrigens nicht oft. Dubois hatte es mehrmals ausgesprochen, daß er sehr präokkupiert wäre durch seine novellistischen Arbeiten. Ob er die nur vorschützte, ob er ankämpfte gegen eine Neigung, die nicht mit gleicher Stärke erwidert wurde, wußte Richard nicht.

Fast in jeder Woche einmal speiste Richard in größerer oder kleinerer Gesellschaft bei der musikverständigen Baronin Budberg, die sich seiner freundlich angenommen hatte. Aber der Verkehr im Salon brachte doch kleine Unbequemlichkeiten mit sich und zusammen mit Doktor Müller, von Kreutzberg und vielen anderen war es behaglicher. Meist traf man sich, jetzt wo Tozoli verreist war, im Café Waßmann und in der Nacht häufig in einer Konditorei der Friedrichstraße unweit der Kommunikation an der Stadtmauer. In diesem streng abgeschlossenen Kreise lernte Richard eine Reihe von seltsamen und schnörkelhaften Menschen kennen. Geschah auch des verbindenden Interesses bisweilen mit keinem Wort Erwähnung, so bestand doch sogleich eine freundschaftliche Gesinnung unter allen und die Kameradschaft, die so durchaus geboten war, nahm dem Umgang die leidigen Förmlichkeiten.

Mit Dubois und Rat Lorenz, noch anderen Herren und einigen Damen zusammen hatte Richard bei der Baronin Budberg zu Mittag gespeist. Es war etwa vier Uhr nachmittags, als er aus der Bellevue-Straße kam und längs dem Tiergarten auf das Brandenburger Tor zuschritt. Schon seit Minuten beobachtete er die Gestalt eines Schülers vor ihm. Er setzte die Füße sicher und leicht, ging ganz langsam, meist mit gesenktem Kopf. Bisweilen nur warf er ihn zurück in den Nacken und sah hinauf in die jungen Baumkronen und dann zur Seite in den mittäglich hellen Park mit seinen lichten Flächen und dem maifrischen neuen Rasen in der Sonne. Und dann blickte er wieder auf seinen Weg. Er trug einen kleinen runden Hut, ähnlich wie ihn die Priester haben, und hielt eine Schulmappe unter dem Arm. Richard überholte ihn und eilte ein Stück vorwärts. Dann trat er ein wenig zur Seite, wartete und ließ ihn auf sich zukommen. Und er kam mit seinen zierlichen, festen Schritten, von denen Richards Augen sich endlich losmachten. Er war schlank, sauber und fein gekleidet und sah etwas trotzig aus und als er ganz nahe war, hob er den Kopf ein wenig und warf einen kurzen, unfreundlichen Blick nach dorthin, wo Richard stand. Richard ging ihm wieder nach, doch fehlte ihm der Mut, ihn ein zweites Mal einzuholen und anzuschauen.

Nicht für die halbe Welt könnte ich das, dachte er, erfreut, erschrocken und mit einem langem Atemzuge in der Brust. Und er folgte ihm wieder. Unter den Linden blieb der junge Mann vor einem Schaufenster stehen und blickte während einiger Minuten in die Auslage. Richard trat hinzu und guckte nun ebenfalls hin auf die Chemisetts, Shawls, Negligée-Schuhe und Hosenträger. Dann drehte er den Kopf langsam und unmerklich und streifte ihn mit einem schnellen Blick, der eine Sekunde lang auf dem Antlitz ruhte und rasch über die Gestalt lief. Und er sah wieder durchs dicke Glas hindurch und starrte eine Krawatte an, die mit großen hellen Flecken punktiert war.

Nach einigen Schritten blieb der Gymnasiast wieder stehen, diesesmal vor dem Fenster eines Antiquars, der unter anderem eine Menge altrömischer Münzen in seiner Auslage hatte. Richard konnte bemerken, daß es die vornehmlich waren, die das Interesse des Jungen erregten.

An einer Querstraße wurden sie getrennt. Er war schon drüben auf dem Trottoir, als plötzlich ein mächtiger Lastwagen heranrasselte und aus irgend einem Grunde mit einem Ruck gerade auf dem Übergang anhielt und den Weg versperrte. Es erwies sich, daß mehrere Säcke verloren waren und die Fuhrknechte sprangen ab und liefen, um sie wieder zu holen und aufzuladen. Neben Richard stand ein Bäckerjunge, der vor Vergnügen einen gellenden Pfiff ausstieß. Richard kam nicht auf den Gedanken, einfach um den Wagen herumzugehen. Erstaunt und verwirrt sah er zu. Als die klobigen Rosse endlich wieder anzogen und in Trab fielen, eilte er hinüber. Doch er hatte ihn aus den Augen verloren.

Er ging rasch nach Hause und setzte sich ans Klavier. Doch er spielte nicht, erhob sich nach wenigen Minuten und tat ein paar unruhige Schritte. Dann nahm er Hut und Mantel und eilte fort. Er war ganz damit zufrieden, als er sich wieder im Tiergarten befand und die Richtung auf Charlottenburg einhielt. Er wollte sich alles noch einmal ins Gedächtnis rufen, das ganze Bild von ihm. Aber er erinnerte sich nur noch an die Augen und an den zierlichen Nacken und an die Farbe der Haare unter dem runden Hütchen. Sie waren bräunlich gewesen, nicht sehr dunkel. Er verfolgte seinen Weg mit einem Eifer, als hätte er irgend etwas besonders Wichtiges in Charlottenburg zu tun. Nun, jedenfalls würde man dort zu Abend speisen können, wie sonst irgendwo in der Welt. Er war froh, allein zu sein und mit einem gewissen Vergnügen dachte er daran, daß Doktor Müller und andere, mit denen er sich verabredet hatte, ihn gerade zu dieser Stunde im Café Waßmann erwarten mochten. Doch plötzlich entwich seine Freude. Seine Schritte verlangsamten sich, nicht mehr so zielbewußt ging er des Wegs und er blickte mit Kleinmut in das Gewirr der Baumstämme, von denen der Abendsonnenschein wegglitt. Aber nach wenigen Minuten kam wieder Kraft in seine Muskeln, seine Schritte wurden fest und beherzt und im Weitergehen dachte er: Und wenn ich ihn auch niemals wiedersehen sollte, niemals! nur zu wissen, daß es so etwas gibt.

Am nächsten Tage wartete Richard von drei Uhr ab in der Nähe der Bellevuestraße. Es war wieder hell und warm und keine Wolke am Himmel. Er wird nicht kommen, dachte er. Gewiß, er ist nur zufällig einmal hier vorübergegangen.

Doch er kam. Er hatte dasselbe Hütchen auf und trug Bücher unter dem Arm wie tags zuvor. Schon von weitem erkannte Richard seinen Gang.

Ganz langsam schritt Richard ihm entgegen. Dann fingierte er eine kleine Überraschung, vertrat ihm den Weg, rückte den Hut etwas und sagte die kleine Phrase her, die er sich Wort für Wort zurechtgelegt hatte.

– Sammeln Sie nicht vielleicht Münzen? fragte er. Sie standen doch gestern vor der Schibatzkischen Auslage. Seine Stimme bebte und er verlor nach den wenigen Worten sogleich den Atem.

Erschrocken war der Junge stehen geblieben. Er schwieg und besah Richard mit großen Augen. Dann öffnete er die Lippen ein wenig. Aber sie schlossen sich gleich wieder und er stand da, ernst und sehr beunruhigt.

Richard erzählte: Ich sah Sie gestern zufällig vor dem Antiquar unter den Linden. Ich besitze nämlich eine Menge alter Münzen und möchte sie gern los werden, weil ich abreise. Ich muß nach Afrika reisen. Die Händler zahlen doch nichts. Wollen Sie sich nicht meine Sammlung ansehen?

– Ja, haben Sie sie denn mit sich? fragte er ganz erstaunt.

– Nein, das nicht. Sie sind bei mir zu Hause. Wenn Sie vielleicht einmal Zeit hätten?

– Ist es weit?

– Nein, gar nicht weit. Charlottenstraße. Vielleicht kommen Sie mit mir?

Sie gingen einige Schritte nebeneinander. Dann fragte er etwas mißtrauisch und zögernd und es schien, daß er stehen bleiben wollte: Was sind es denn für welche?

Richard erzählte. Es wären größtenteils französische und päpstliche. Auch besäße er eine sehr wertvolle und seltene russische Münze, ein 50-Kopekenstück aus Gold, ein ganz flaches Dingchen. Solche hätte der Petersburger Hof vor etwa hundert Jahren prägen lassen, namentlich für die jungen Offiziere. Denn es wäre Sitte gewesen, daß man beim Hazardspielen keine Silberstücke setzen dürfe. Und so hätte die Kaiserin dafür gesorgt, daß die jungen Leute bei Hof mit Gold spielen konnten, ohne jedesmal eine größere Summe zu riskieren. Richard sprach lebhaft und erreichte es, daß er aufmerksam zuhörte, hin und wieder eine Frage einwarf und daß ein Schweigen vermieden wurde. Sie unterhielten sich sehr ernsthaft und gingen ganz langsam.

Als sie da waren, bat Richard ihn, Platz zu nehmen, holte das Kästchen mit den Münzen, öffnete es und stellte es vor ihn auf den Tisch. Doch sein junger Gast warf fürs erste noch keinen Blick darauf. Er saß etwas schräg und unbeholfen auf dem Stuhl, strich sich mit der Hand durch das feine braune Haar, senkte rasch den Nacken und guckte auf seine blanken Stiefel. Dann erhob er sich plötzlich, tat eine kleine Verbeugung und sagte: Mein Name ist Karl Ziegler.

Auch Richard stellte sich vor.

Hierauf schwiegen sie und Karl war etwas verlegen geworden und ganz rot.

Mit erheuchelter Sicherheit setzte er sich wieder und sah nun nach der Sammlung. Stück für Stück entnahm er dem Kästchen, drehte und kehrte die Münzen mit vielem Ernst, um die Inschriften zu lesen und tat sie dann wieder hinein ohne ein Wort zu sprechen. Das Rot, das sich auf seine Wangen gelegt hatte, entwich langsam und die Lippen waren geschlossen. Leicht angelehnt ruhte die Gestalt im großen Lehnstuhl, der halbleer blieb. Die Beine hatte er mit freiem Anstand übereinander geschlagen, auf dem Knie balancierte das blaue Kästchen. Die Stiefel mit den hohen Schäften saßen fest und stramm an seinen Füßen, die Knöpfchen blitzten und alles an ihm war fein und zierlich und ein Atemzug von Kraft entströmte seiner Schlankheit. Bisweilen warf er einen kurzen Blick auf Richard, der einige Schritte entfernt stand und sich nicht rührte.

– Warum wollen Sie Ihre Sammlung denn nicht nach Afrika mitnehmen? fragte Karl endlich.

– Es ist doch beschwerlich auf der Reise. Und ich bin das Zeug überhaupt überdrüssig. Könnten Sie irgend etwas davon brauchen?

Karl lächelte. Es geschah zum ersten Mal. Der steife Ernst, den er bisher nicht abgelegt hatte, war mit einem kleinen Hauch fortgeblasen von seinem Antlitz.

Es schien nämlich, daß Karl an ein Mißverständnis glaubte. Ich kann Ihnen nichts abkaufen, sagte er, sich entschuldigend. Ich habe nicht genug Geld dafür. Höchstens können wir einiges tauschen. Aber meine Münzen zu Hause sind lange nicht so wertvoll wie Ihre.

Sogleich sagte Richard, daß es ihn natürlich sehr freuen würde, die Sammlung zu sehen und es ward ausgemacht, daß Karl am nächsten Tage gegen sechs Uhr kommen und seine Münzen mitbringen sollte.

Sie plauderten etwas. Karl, der das Klavier bemerkt hatte, bat ihn, ein wenig zu spielen, vielleicht den Radetzky-Marsch. Richard versuchte es, brachte das Stück aber nicht ordentlich zusammen.

– Morgen werde ich es können, ich hole mir die Noten, sagte er.

Er stand auf. Er müsse jetzt gehen, man erwarte ihn zu Hause.

Richard begleitete ihn ins Garderobezimmer. Er begriff die Gefahr und wußte, daß es leicht geschehen konnte, daß sie sich nicht mehr wiedersehen würden.

– Also morgen um sechs kommen Sie mit Ihren Münzen? fragte er.

– Ja, um sechs.

– Vielleicht werden Sie auch nicht kommen, sagte Richard schnell und mit gemachter Schärfe im Ton.

Er blickte ihn an, unschuldig und neugierig. Vor Erstaunen vergaß er seine Hand aus der Richards zu ziehen, schlaff und ohne Druck blieb sie liegen.

– Ja, warum soll ich denn nun nicht kommen? fragte er ganz betroffen.

– Ich dachte bloß, daß Ihre Eltern Ihnen vielleicht nicht erlauben viel auszugehen, so zu irgend Jemandem – überhaupt –

Er brach ab.

– Ach so, das meinten Sie. Nein, meine Eltern sind gestorben. Ich lebe ganz allein bei meinem Onkel und mache so ziemlich was ich will. Nur am Abend um acht muß ich immer zu Haus sein. Mein Onkel spricht sehr wenig mit mir. Wir unterhalten uns gar nicht. Ich erzähle ihm auch absolut gar nichts mehr, weil er nicht fragt. Er ist Professor und liest den ganzen Tag. Adieu. Auf Wiedersehen.

Und er nahm seine Bücher, schob sie unter den Arm und eilte hinaus.

Es war noch vor sechs, als er am nächsten Tage wieder eintrat. Er schien nicht mehr befangen zu sein und der würdige Ernst, den er sich während seines ersten Besuchs gewahrt hatte, beliebte ihm nicht mehr. Er kam rasch herein, machte eine kleine Verbeugung und vergaß in seiner Lebhaftigkeit, Richard die Hand zu reichen. Sogleich lief er an den Tisch vor dem Sopha, zog ein Beutelchen aus der Tasche und stürzte den Inhalt aus.

– Da sind sie. Aber es ist nichts mit ihnen anzufangen. Lauter Jux. Ich hatte sie schon ein ganzes Jahr lang nicht mehr angesehen und in der Kommode liegen lassen. Sonst hätte ich gleich gestern gesagt, daß es sich nicht lohnt. Sie sind alle zusammen keinen Taler wert.

Er sprach rasch und war ganz geschwätzig. Richard trat hinzu und sah hin. In der Tat, es war nichts an diesen Münzen, nur eine Menge wertloser Kupferstücke lag da. Doch er meinte höflich, es wäre gewiß manches Gute darunter und begann im Häufchen herumzukramen.

Karl schlug in die Hände und lachte ihn an. – Tun Sie doch bloß nicht so, rief er. Sie sehen es doch gleich, daß nichts damit ist.

Und Richard lachte ebenfalls und gab es auf, die Sammlung interessant zu finden.

– Um wieviel Uhr reisen Sie ab?

– Wie?

– Aber Sie wollen doch nach Afrika.

Richard beherrschte sein Gesicht nicht sogleich.

– Natürlich, Sie haben mir das nur so aufgebunden, rief Karl etwas enttäuscht, gleichzeitig aber sehr befriedigt von seiner eigenen Schlauheit. Ich habe es ja auch nur zuerst geglaubt. Ich weiß nicht warum, aber gleich heute morgen, als ich aufwachte, dachte ich: Vielleicht ist es garnicht wahr. O jeh! Was Sie für Geschichten erzählen.

– Warum sind Sie heute so lustig, so gut aufgelegt, fragte Richard.

Er war etwas betroffen und dachte nach. Dann erzählte er, sie hätten heute in der Schule etwas ganz Verrücktes angestellt.

– Ich kann es mir denken. Wahrscheinlich haben Sie irgend einen armen Lehrer halbtot geärgert. So etwas liebte auch ich sehr, als ich noch Schüler war.

– Wo denn?

– Zu Hause, in Rußland.

Als er hörte, daß Richard aus Rußland wäre, wollte er sogleich einiges über Wolfsjagden hören. Und Richard schilderte, wie die Tiere eingefangen würden und geknüppelt. Die Bauern wüßten es im voraus ganz genau zu bestimmen, nach welcher Seite hin die Wölfe ausbrechen, nachdem man sie ins Dickicht hat laufen sehen. Es würden nun Netze gezogen, dichte doppelte Netze aus starken Schnüren, über tausend Schritte etwa. Dann scheucht man die Tiere auf, das Rudel stürmt heran und prallt dagegen. Sie können sich nicht durchs Strickwerk durchbeißen und werden erschlagen. Einmal allerdings hätte Richard es gesehen, wie ein alter weißer Wolf mit einem erstaunlichen Satz hinübergesprungen wäre über das Netz. Es käme auch zuweilen vor, daß die Tiere sich in den Schnee hineinwühlten und unten durchschlüpften.

Den weißen Wolf mußte Richard weitläufig und ganz genau beschreiben.

– Wirklich, Sie sind aus Rußland, so weit her. Dann haben Sie gewiß Heimweh, es ist doch hier wahrscheinlich alles ganz anders und es muß Ihnen alles so fremd vorkommen. Ich habe mich früher schrecklich gequält mit dem Heimweh und wollte immer nach Hause zurück, aufs Land zu meinen Eltern. Jetzt sind sie gestorben. Ich war zuerst ganz verzweifelt, als ich nach Berlin kam und bei meinem Onkel leben mußte. Ach, Berlin war so schrecklich, es regnete immerfort und überall die vielen fremden Menschen. Ich konnte am Abend gar nicht einschlafen und dachte immer nach Hause. Gott sei Dank schickte mir Mama immer bouls de gomme und so was und so hatte ich wenigstens einen kleinen Trost, wenn ich im Bett lag.

Er lächelte und schwieg. – Nun weiter, erzählen Sie doch weiter, bat Richard. Ihm gefiel die Art, in der Karl sprach, er ließ ihn nicht aus den Augen und wollte sich ein jedes Wort einprägen und es im Sinn behalten.

Aber Karl ward plötzlich verlegen und die Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wurde, machte ihn befangen. – Was ist da noch zu erzählen, es ist nichts weiter, sagte er.

– Nun, ich meine, was sie dann erlebten – –

Er zuckte die Achseln und lachte. – O jeh! Gar nichts, rief er. Sie tun gerade so, als hätte ich eine lange Geschichte angefangen. So war es doch gar nicht.

Und er sprang auf und schritt hin und her im Zimmer, betrachtete sehr aufmerksam die Kupferstiche an den Wänden und die unschöne Alabastervase auf dem Ecktisch. Sie gingen in die kleinere Nebenstube und setzten sich dort auf den Divan. Weil das Gespräch nicht gleich wieder fließen wollte, stand Richard auf und holte seine große lederne Mappe vom Schreibtisch. Stück für Stück reichte er Karl. Es war alles von Richard, Wald und Feld, Ausblicke aus der Heimat und eine Menge von Blättern, auf denen er seine Mutter gezeichnet hatte. – Aber es ist mir nicht so recht gelungen, sagte er. Sie sollten meine Mutter einmal sehen. Gerade das Ernste und Freundliche zusammen habe ich nicht treffen können.

Er legte die Papiere ganz langsam wieder aufeinander und schob sie in die Mappe. Dann ging er an seinen Schrank und holte eine Weinflasche und zwei Gläser. Doch es war nur noch sehr wenig vom süßen, braunen Malvasier in der Flasche und so füllte er nur das eine Glas und sie tranken abwechselnd daraus. – Es ist nur schade, daß wir auf diese Weise nicht anstoßen können, sagte Richard und sie lächelten. Die Fenster standen auf und bisweilen füllte ein kurzer Luftzug die Gardinen, deren Falten sich spannten und straffer wurden und sich dann wieder fügten. Der Abendwind strich auf sie zu und weither und leise klang ein taktfester Militärmarsch, während sie ein paar Augenblicke lang schwiegen.

Von Minute zu Minute fürchtete Richard, daß er aufbrechen würde und gehen. Aber er war nicht dazu fähig, ihn mit einem gleichgültigen Gespräch zu unterhalten, und als er ein wenig geredet, sprach er langsamer und leise und Karl ward sogleich angesteckt und fiel in denselben unfesten Ton und sie konnten nicht heraus aus der Halbstille, die sie gefangen hielt. Karl lehnte sich bequem zurück und doch war er unruhig, und wußte nicht, woher ihm diese Scheuheit kam. Und mit kleinen Atemzügen sah Richard hin auf ihn, der so plötzlich da war in seinem Leben.

– Sie sind sehr fleißig? Müssen Sie immerfort Klavier spielen, viele Stunden am Tage?

– Je nachdem. Heute habe ich gar nichts getan. Ich habe immerzu nur darauf gewartet, daß Sie kommen sollten.

– O jeh! Aber deshalb konnten Sie doch – –

Er schaute mit einem raschen Seitenblick nach Richard, dann brach er ab.

– Es war heute ganz unmöglich für mich zu arbeiten.

– Ich hätte ja früher kommen können, sagte Karl und wurde etwas rot.

Man hörte die Soldaten wieder spielen, der festliche Rhythmus war augenblicks in ihren Pulsschlägen und sie schwiegen, während alle die hohen Häuser da draußen mitzuklingen schienen.

– Es ist so, als könnte man die Kolonnen sehen, meinte Richard. Wohin gehen sie übrigens?

– Sie kommen zurück vom Felde.

– Wie heißt der Marsch?

– Das weiß ich nicht, sagte Karl. Aber ich kenne jeden Ton. Solche Musik ist so sehr aufregend und es ist nichts schrecklicher, als wenn sie abbricht. Ich kann das gar nicht ertragen.

Richard blickte ihm lebhaft ins Gesicht. – Weil es während des Spiels da drinnen so tapfer und gar so stolz wurde? fragte er und preßte die Hand aufs Herz. Und weils dann aus ist mit einem Ruck, wenn die Musik aufhört?

Karl nickte und sagte: Es ist jedesmal so, als fiele man von einem Turm in eine kalte Pfütze und man muß sich schämen, obgleich das ebenfalls so dumm ist.

– Alles das kenne ich, rief Richard laut und die Freude klang auf in seiner Stimme. Und dann rasch: Ich habe eine Menge von Bekannten in Berlin. Aber es ist so langweilig, solche Besuche zu machen. So mit Ihnen zu sein, das ist etwas ganz anderes. Es gibt Niemanden in Berlin, mit dem ich so gern zusammen bin, wie mit Ihnen.

Das Stückchen Zeit, währenddem Karl hierauf schwieg, dauerte ein wenig. Dann fragte er: Wollen wir Du sagen?

– Ja doch, gewiß. Aber weil wir uns erst so kurze Zeit kennen, werde ich Dir ganz seltsam vorkommen und etwas verrückt. Weißt Du, daß Du nichts tun kannst, was mir nicht gefällt. Glaubst Du mir auch alles, was ich sage? Sprich doch.

– Du siehst ja so aus und bist so, daß ich Dir jedes Wort glauben muß.

Und er sah auf ihn und wandte sich zu Richard und legte ihm seine Hände auf die Schultern, im Verlangen nach einer körperlichen Berührung und im Gefühl, noch nicht genug gesagt und getan zu haben, um zu erweisen, daß auch er gut Freund sein wollte.

– Wenn Du mich doch mit Dir nehmen könntest, rief er. Und gleich darauf, verlegen über seine Worte: Ich sprech ja schon lauter Unsinn, wir bleiben doch da.

Richard zog ihn an sich und preßte die heißen Wangen an seine Brust. Nach einigen Sekunden befreite sich Karl aus der Umschlingung, sprang auf und stellte sich hin. Er blickte zu Boden, sehr erschrocken. Doch als er Richards Blick auf sich fühlte und ihn über seine Gestalt gleiten spürte, mußte er sich schämen und um nicht gesehen zu werden, warf er sich zurück in die Arme Richards, der ihn umfing und dessen Atem der Duft der Jugend erfüllte.

2.

Es war schon dunkel geworden und hatte längst acht Uhr geschlagen, als sie in den kleinen Salon hinübergingen. Richard steckte die Lampe an und eine Kerze. Während sie beim Abschied verweilten und mit kurzen leisen Worten sprachen, öffnete sich die Seitentür des Nebenstübchens und Heinz Bölsche trat ein. Er tat ein paar Schritte vor, dann, als er bemerkte, daß Besuch da war, machte er kehrt und zog sich eilig zurück, ohne zu grüßen. Richard war sehr betroffen, er hatte ihn für den ganzen Abend fortgeschickt.

Kaum während einer Sekunde waren sie dagestanden und hatten sich angesehen, Karl und Heinz.

Sogleich fragte Karl: Wer war das?

– Mein Diener.

– Aber wozu braucht ein so junger Mann einen Diener?

Richard versuchte zu lächeln. Es gäbe doch immerhin allerlei zu tun, er müsse doch Jemanden haben, der ihm die Kleider reinige und den er schicken könnte, das Essen zu holen. Und dann fing er rasch an von andern Dingen zu sprechen. Doch Karl hörte durchaus nicht zu. Und so mußte er denn endlich schweigen.

– Es ist nicht wahr, daß es Dein Diener ist, sagte Karl. Ich werde niemals mehr zu Dir kommen.

Seine Stimme brach ab mit einem zornigen, schluckenden Laut und er lief zur Tür. Doch Richard kam ihm zuvor, erfaßte die Klinke mit der einen Hand und packte rasch mit der anderen seinen Arm, während Karl seine beiden Hände rasch in die Taschen versenkte, wie um Richard nicht zu berühren.

Er redete hastig auf ihn ein und bat und sprach unaufhörlich und wurde immer ängstlicher. Zuletzt wiederholte er nur noch immerfort, daß er schon so wie so entlassen wäre, der Diener, daß er schon morgen in der Frühe fort müsse in einen anderen Dienst.

Trotzig und böse stand Karl auf dem Fleck und ließ sich halten und ließ sich umklammern und rührte sich nicht und gab kein Wort. Er hatte den Kopf ganz tief gesenkt und nahm die Hände nicht aus den Taschen.

Da ließ Richard von ihm und ging einen Schritt zurück. Und verzweifelnd hob er seinen Arm gegen die Stirn und fing an zu weinen.

Als er befreit war von der Umschlingung, hatte Karl im ersten Augenblick hinaus wollen aus der Tür. Nun blieb er doch stehen. Er ward unschlüssig. Es vergingen Minuten. Und endlich näherte er sich etwas und sagte, aber noch nicht ganz freundlich: Nun ja, wenn er so wie so fort sollte.

Richard ward seiner nicht gleich wieder Herr und nur mit schwachem Druck hielt er die Hand, die Karl ihm hinstreckte.

– Es ist ja gut, sei nicht mehr traurig. Also ich komme morgen. Jetzt muß ich weg, ich werde sonst gescholten.

– Bleibe noch, bat Richard. Noch einen Augenblick will ich Dich dahaben. Ich war so erschrocken.

– Aber es ist ja schon alles gut, o jeh!

– Wir brauchen ja nichts mehr zu reden, gewiß, es ist alles gut, aber bleibe noch, nur zwei Minuten.

Und Richard schob ihn in den großen ledernen Armstuhl und kniete hin vor ihm und legte seine Stirn ihm in die Hand und verweilte so, bis Karl ihn umschlang, um ihn aufzuheben und sagte: Sei wieder froh, Richard, Lieber, ich will Dich ja niemals mehr kränken. Und ich muß Dir sagen, wenn ich so fortgelaufen wäre im Zorn, ich wäre ja später ganz verzweifelt darüber gewesen. Aber sei nur ruhig, ich komme morgen ganz bestimmt, ich versprech Dir's.

Er ging mit ihm durch die abendlichen Straßen und begleitete ihn bis in die Nähe des Hauses, in dem Karl mit seinem Onkel lebte. Etwa hundert Schritte davor blieben sie stehen und sprachen mit einander und nahmen immer noch nicht Abschied. Denn sie waren auf dem weiten Wege ganz redselig geworden und Karl erzählte allerlei aus seiner Schule und von seinen Lehrern, von denen er auch nicht einen besonders leiden mochte.


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