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Zwölftes Kapitel

Fedi sprang eilig aus der Droschke und lief die Treppen hinauf. Richard war nicht zu Hause. Er ging zum Schreibtisch, nahm das nächste beste Stück Papier und schrieb: Trotzdem Du telegraphiert hast, ist Deine Mutter doch gekommen. Sie wollte nicht direkt zu Dir und fühlt sich nicht wohl im Hotel. Sie ist bei mir, komm so schnell wie möglich.

Beim Hinausgehen hörte er klingeln und traf auf dem Flur Herrn von Kreutzberg. Sie erkannten sich sofort, obgleich sie einander nur einmal im Leben begegnet waren.

– Ist er nicht zu Hause? fragte Kreutzberg und trat einen Schritt näher. Ich habe soeben eine erschütternde Nachricht erhalten. Dubois ist gestorben.

Er erzählte, daß man ihn in einem Zuge nach Hannover gefunden hätte, tot. Man wüßte noch nichts Näheres. Vielleicht ein Schlaganfall.

Und etwas hastig ging er an ihm vorbei in Richards Zimmer und sah sich dort um, als wollte er warten. Fedi folgte ihm.

– Sie denken natürlich auch gleich an die andere Möglichkeit. Ich ahne nicht, ob er Unannehmlichkeiten in dieser Zeit gehabt, ich bin soeben aus dem Münchener Kurierzuge gestiegen. Eines ist allerdings auffallend. Ich begab mich sofort in sein Haus, um, coûte que coûte, alles Kompromittierende an mich zu bringen. Ich nehme an, daß Lorenz schon auf der Hochzeitsreise ist. Ich kam auch nicht zu spät, die Familie war noch nicht da. Aber es war nichts zu finden. Ich wußte, wo er die betreffende Cassette verwahrte, sie war unverschlossen und leer. Das sieht nach Vorbereitung aus. Hat es irgend etwas gegeben?

– Mir ist nichts bekannt, sagte Fedi. Ich lebe ganz zurückgezogen und arbeite zum Examen. Dubois hab ich vor drei Wochen etwa zum letzten Mal gesehen.

Kreutzburg schaute an ihm vorbei und während er sprach, sah er mit einem langen, leeren Blick auf die Straße hinunter. – Wenn er wirklich Hand an sich gelegt hat, so würde der Körper sogleich verwesen, sagte er leise. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt war, daß Dubois unter dem Deckel seiner Uhr stets Gift bei sich trug, ein paar helle, tötliche Blättchen. In den letzten Jahren sprach er seltener darüber. Ein Gift ohne Namen, das von der Wissenschaft nicht registriert sein soll. Als Dubois ein Junge von zwanzig Jahren war, hat es ihm eine exotische Persönlichkeit geschenkt, ich erinnere mich noch an ihn, ein schmächtiger, brünetter junger Mann, der sich Consul Braunstein nannte. Reich, aber von dunkler Herkunft. Der schenkte es ihm, ja. Er wollte Dubois zu einer Reise nach Südamerika überreden. Aber es kam vordem irgendwie zum Bruch. Es war nicht zu erfahren, was sich zwischen den Beiden abgespielt hat. Es ist merkwürdig, sonst kenne ich jeden Punkt aus dem Leben von Dubois. Ja, was ich also sagen wollte, dieses Gift soll die Wirkung haben, daß die Leiche sogleich zerfällt.

Herr von Kreutzburg schwieg und starrte noch immer an Fedi vorbei. Plötzlich gab er sich einen Ruck und reichte ihm mit einem verbindlichen, müden Lächeln die Hand. – Ich empfehle mich. Bitten Sie Richard, daß er gegen Abend bei mir vorspricht, sagte er.

Doch Fedi bemerkte, daß Richard und ein anderer Herr die Straße heraufkamen. Es war Uhrmacher Krauß.

Mit einer stummen Handbewegung wies er auf die Beiden und wandte sich vom Fenster ab. Es war ihm nicht angenehm, daß Richard in dem Aufzuge, in dem er sich befand, und in dieser Gesellschaft den Tod Dubois' erfahren würde.

Es verstrichen einige Minuten bis die Flurtür anschlug. Richard ging auf Fedi zu und gab ihm die Hand, dann auch Herrn von Kreutzberg, über dessen Anwesenheit er sich garnicht zu wundern schien. Darauf trat er, ohne den Mantel abzulegen, ans Fenster und sah hinaus. Herr Krauß war auch mitgekommen, er blieb in der Tür stehen. Mit einem Blick erkannte Herr von Kreutzberg, daß Richard es schon wußte. Er fragte: Sie haben gehört? Ich war eben dort. Man sagt, ein Schlaganfall.

– Jawohl, erwiderte ohne sich zu rühren Richard und schwieg dann.

Krauß war nähergetreten. Seine Augen liefen erstaunt von einem zum andern. Er schien nicht recht zu verstehen, was vorging.

– Wieso denn »jawohl«? fragte er aufgeregt mitten im Zimmer stehend. – So, Sie waren schon dort? Aber ich habe ihn gestern noch getroffen. Eben erst fand ich Löwenwolde und erzähle ihm die Geschichte. Er begreift es nicht.

– Sie glauben an Selbstmord? äußerte Herr von Kreutzberg.

– Ich glaube überhaupt an gar nichts, rief Krauß, die Sache ist geradezu fabelhaft. Das heißt, natürlich Selbstmord. Aber nicht so, wie Sie glauben, es muß etwas ganz Unheimliches passiert sein. Wer hätte das je gedacht? Ich habe ihn gestern noch auf der Friedrichstraße getroffen. Das heißt, ich habe natürlich nicht mit ihm gesprochen. Aber jetzt nehme ich bestimmt an, daß er den Verstand verloren hatte, ich meine wirklich den Verstand. Löwenwolde scheint es nicht zu glauben. Aber ich bin ganz sicher.

Er schwieg und wollte offenbar ermuntert werden, zu erzählen. Herr von Kreutzberg war etwas nervös geworden, zupfte sein Ohrläppchen und fragte: Was haben Sie für Anhaltspunkte?

Doch als Krauß gerade beginnen wollte, verließ Richard das Zimmer plötzlich und begab sich, ohne Fedi anzusehen, in die anstoßende Schlafstube, deren Tür offen blieb. Es war Fedi nicht entgangen, wie blaß Richard aussah, und zudem hatte er bemerkt, daß er im Vorübergehen das auf dem Schreibtisch liegende Papier an sich genommen hatte. Er dachte daran, ihm zu folgen, blieb aber, da Krauß unbeirrt redete und das, was er sagte, in der Tat im höchsten Grade erstaunlich war.

Es stand demnach fest, daß Dubois am Tage vor seinem Tode um fünf Uhr nachmittags zum Skandal sämtlicher Passanten mit drei auf das Auffallendste gekleideten und zudem völlig betrunkenen Loretten in einer offenen Droschke durch die Friedrichstraße in der Richtung nach dem Norden gefahren war. Er hatte dabei, während die Leute stehen blieben und auf ihn zeigten, in der verbindlichsten Weise aus dem Wagen heraus gegrüßt, es geradezu darauf anlegend, von Bekannten gesehen zu werden. Krauß, der mit einer Schwarzwälder Pendüle unter dem Arm vorbeikam, war Zeuge gewesen, wie ein alter Herr, Konsistorialrat Brauer, den er von Ansehen kannte, sich unter dem Gejauchze der Straßenjugend in ein Café flüchten mußte, weil Dubois ihm, tief den Hut ziehend, zugerufen hatte: Guten Abend, Herr Konsistorialrat.

Dergleichen war niemals erhört worden. Wie Krauß erzählte, wäre es ihm geradezu in die Glieder gefahren. Er hatte natürlich geglaubt, daß Dubois betrunken gewesen sei, schon weil die Mädchen es waren. Doch als er am anderen Tage das Weitere hörte, wußte er gleich, daß es das nicht sein konnte. Seine Bewegungen beim Grüßen waren nicht die eines Betrunkenen gewesen, sondern durchaus korrekt und sogar gemessen ernst, was um so unheimlicher wirkte. Auch bemerkte man, daß er den Mädchen, die sich außerordentlich gut zu amüsieren schienen, sich immerfort anstießen und bei jedem Gruß in ein schallendes Gelächter ausbrachen, durchaus nicht die der Situation entsprechende Beachtung schenkte, sondern ganz steif zwischen ihnen dasaß. Erstaunlich, daß die Polizei keine Veranlassung gefunden hatte einzuschreiten. Ein ungeheuerlicher Skandal. Krauß hatte die ganze Nacht und den ganzen Morgen daran denken müssen und war mittags in der Geschäftspause gleich aufgebrochen, um Näheres in Erfahrung zu bringen.

– Ich dachte natürlich sofort an Löwenwolde, sagte er, und suchte ihn, war auch vor einer Stunde schon einmal hier. Aber er weiß auch nicht mehr als ich. Ist es nicht unglaublich?

Kreutzberg, der sich gesetzt und sehr aufmerksam zugehört hatte, zuckte ausweichend und ratlos die Achseln. Krauß trat dicht vor ihn hin und faßte ihn am Rockknopf. Er konnte sich durchaus nicht beruhigen.

– Sie meinen vielleicht, doch betrunken? Ich dachte es natürlich zuerst auch. Aber, barmherziger Gott, mag man so betrunken sein, wie man will, man läßt sich doch deshalb nicht mit Weibern ein! Nein, die Sache verhält sich anders. Er war auch gar nicht betrunken, er sah anders aus, so ganz eigentümlich, ängstlich und gewissermaßen verzerrt. Und dann bedenken Sie die Tageszeit! Es ging also folgendermaßen zu: Es hatte vor kurzem dreiviertel fünf geschlagen, ich komme gerade mit meiner Pendüle aus der Jägerstraße, da sehe ich zu meinem Chagrin – – –

Richard stand in der Tür der Schlafkammer. Er hielt das Papier noch immer in der Hand. Mit wenigen starken Schritten ging er auf Krauß zu und sagte ziemlich leise: Wie ich bemerke, sind Sie im Begriff, die Sache zum elften Mal zu erzählen. Ich bedaure, Ihnen nicht weiter zuhören zu können, ich muß ausgehen. Adieu.

Krauß schaute in völliger Verblüffung zu ihm auf. Richard wartete einige Sekunden, dann legte er ihm beide Hände auf die Schultern und schob ihn rückwärts. Bei der Berührung wurde Krauß lebendig, er befreite sich und verfügte sich zum Ausgang. Auf der Schwelle blieb er stehen und rief: Bitte sehr, ich wollte schon gehen, ich möchte Sie durchaus nicht länger behelligen. Ich wollte es Ihnen nur erzählen, denn ich glaubte, Sie wüßten vielleicht etwas. Übrigens schien es Sie im Anfang auch sehr zu interessieren. Jedenfalls frage ich heute abend bei der Kommunikation wieder nach.

Herr von Kreutzberg hatte sich erhoben und schickte sich gleichfalls an, aufzubrechen. – Krauß ist in der Tat ein Schwätzer, bemerkte er reserviert mit höflichem Ton. Und nach einer Pause sehr ernsthaft: Wenn Sie mich vielleicht in den nächsten Tagen einmal aufsuchen wollen, lieber Löwenwolde, so kommen Sie bitte zwischen fünf und sieben nachmittags. Ich würde mich freuen.

Er umschloß Richards Hand schnell mit der seinen und hielt sie sekundenlang mit freundschaftlichem Druck, dann machte er Fedi mit Förmlichkeit sein Kompliment und wandte sich.

Als sie allein waren, sah Fedi ihn an, forschend und teilnahmsvoll. – Du hast gelesen? fragte er.

Richard tat ein paar Schritte durchs Zimmer – Und ich war so sehr dagegen, daß sie käme, erwiderte er. – Nun, es ist gleich. Wenigstens bin ich Dir verbunden, daß Du sie nicht hierher geführt hast.

Seine Stimme klang abgespannt und müde, er blieb stehen und ließ einen langen, wie zerstreuten Blick über einige Stühle und dann an seinem Anzug heruntergleiten. – Übrigens werde ich mich umziehen müssen und mich waschen.

Er begab sich in die Kammer. Fedi fiel plötzlich etwas ein und er ging ihm bis zur Tür nach. – Höre, Richard, sprach er hinein, die Hauptsache ist, daß Du dort ruhig und überlegt bist, das ist jetzt wichtiger als alles andere. Es ist gar nicht so eilig, lasse Dir lieber Zeit, mir scheint, es ist das Beste, ich fahre ganz einfach voraus und sage, ich hätte einen Brief dagelassen. Es kann gut eine Stunde dauern, bis Du kommst, ich halte sie schon hin. Laß Dir nur Zeit.

Er lauschte noch einen Augenblick auf Antwort, dann nahm er an, daß Richard einverstanden sei und ging. Unten wartete noch sein Wagen.

Als er zu Hause war und seinen kleinen Salon betrat, erhob sich Frau von Löwenwolde langsam und richtete sich auf.

– Er war nicht da. Er wird vom Mittagessen noch nicht zurückgekommen sein, ich hab ihm Nachricht dagelassen. Ich denke, spätestens in einer Stunde kommt er wohl.

– Störe ich Dich nicht, liebes Kind? Du willst vielleicht ausgehen. Ein so vielgereister Mann wie Du, kann es natürlich gar nicht begreifen, daß man diese Hotelzimmer nicht wunderschön findet. Im Grunde moquierst Du Dich wohl ganz ordentlich über mich?

Fedi lachte und widersprach.

– Na, wer weiß, sagte sie und setzte sich langsam. Aber wenn ich Dir doch beschreiben könnte, was das für eine Nacht war. Ich hab es ja niemals gewußt, daß es Menschen gibt, die so schnarchen können. Ich kann Dir sagen, die ganze Wand zwischen uns bebte. Ich finde es überhaupt peinlich, daß man in den Hotels immer so nahe neben fremden Menschen leben muß. Aus Neugierde fragte ich das Stubenmädchen heute morgen nach meinem greulichen Nachbarn. Und denke Dir, sie behauptete, daß es ebenfalls eine alte Dame gewesen wäre. Ich konnte es gar nicht glauben.

Sie lachten. – Wir haben ja auch bessere Hotels in Berlin, zum Beispiel Hôtel de Petersbourg, sagte Fedi.

– Das Bett war ja vorzüglich. Was für ein Gedränge gestern Nacht auf der Station. Eins, zwei, drei hatte dieser Hausknecht vom Dresdener Hof meine Bagage in der Hand und lief davon. Man konnte gar nicht nach, ich dachte sogar einen Augenblick daran, daß er mich am Ende bestehlen wollte und fortlaufen mit den Sachen.

– Wenn man nur gewußt hätte, daß Sie kommen. Ich hätte Sie so schön vom Bahnhof holen können, liebe Tante.

Fedi war mit Löwenwoldes nicht verwandt. Aber wenn eine ältere Dame einen von klein auf kannte, ward ihr gegenüber diese Anrede in Livland bequem und natürlich gefunden.

– Im ganzen ging ja alles recht gut, meinte sie. Eine große Beruhigung war es mir, daß ich meine Zofe, die Katti, immer um mich hatte. Allerdings spricht sie nur lettisch und qualifiziert sich also nicht besonders zum Reisemarschall. Aber ein vertrautes Gesicht ist immer viel wert. Sag mir doch, Du lebst jetzt ganz allein? Ohne Stubenflausch?

– Nein, ich bin mit meinem Freund Wilcke zusammen. Kein Balte. Er ist verreist und kommt erst nach einigen Tagen wieder.

Sie erhob sich und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Vor Fedis Bücherschrank blieb sie stehen, neigte den Kopf etwas und lugte durchs Glas. Sie war ziemlich klein von Wuchs und ihr Körper hatte etwas Feines und Gebrechliches im Ausdruck, obgleich seine Haltung jugendlich erschien. Das Antlitz trug ein merkwürdig gleichmäßiges Gepräge und immer stand auf ihm ein wenig Kummer, viel Freundlichkeit und ein ruhiger Ernst, der, auch wenn sie lachte, nicht ganz entweichen konnte. Hörte sie auf zu lachen, dann war die Fröhlichkeit aus dem zierlichen Gesicht jedesmal im Nu weggehuscht und die klugen alten Augen blickten sofort wieder gutmütig und ernsthaft geradeaus. Und ein kleiner Seufzer folgte bisweilen. Sie trug Diamanten im Ohr, sonst an Händen und Armen außer den Trauringen kein Geschmeide. Das Kleid aus brauner Seide war vielfaltig und der Mode zum Trotz ungebauscht. Um den Hals schlang sich eine feine dünne Goldkette, die rechts und links über die Brust fiel; mitten auf ihr mündeten die beiden Linien in ein kleines Schieb-Röhrchen und liefen dann, gemeinsam abbiegend, zur Uhrtasche, die weit unten und ganz an der Seite angebracht war.

Sie bat ihn von Italien zu erzählen und er tat es, obgleich er sah, daß sie immer unruhiger ward und daß es sie anstrengte, aufzumerken.

Als er endlich das Pochen an der Tür hörte, konnte auch er seine Unruhe nicht verbergen. Richard trat ein und blieb an der Schwelle stehen. Er sah nicht gleich geradeaus, sondern schien nach einem Orte zu suchen, wo er seinen Hut hinlegen könnte. Sie ging auf ihn zu, umarmte ihn eilig und betrachtete ihn dann von Kopf bis zu Fuß. Sie schwiegen und er drängte sie leise wieder in den Lehnstuhl zurück, schob einen der kleinen Sessel etwas näher heran und setzte sich zu ihr. Er nahm ihre Hand und küßte sie nochmals zum Gruß. Der ersten Unterhaltung haftete etwas Traditionelles und beinahe Förmliches an, da sie beide bestrebt waren, durchaus keine besondere Bewegung zu verraten. Fedi stand etwas abseits und anfänglich hatte er die Stube verlassen wollen. Aber er bemerkte, daß es Richard lieber war, wenn er blieb, und daß er sie nicht störte bei den abspringenden, kurzen Gesprächen, die ein Wiedersehen mit sich bringt.

Die Nachmittagssonne fiel hell und warm ins Zimmer und lauer, sommerlicher Wind blies durch die Gardine. Doch der gleichmäßige Straßenlärm beunruhigte Frau von Löwenwolde und Richard schloß das Fenster.

– Von meiner Reise habe ich Fedi schon erzählt, sagte sie. Es ging alles recht gut und ich fand es bequemer als ich's mir gedacht hatte, und es war natürlich im höchsten Grade amüsant, mit der Eisenbahn zu fahren. In Königsberg ging es etwas eilig zu beim Umsteigen. Und dann wirklich bis Berlin an einem Tage und ohne Waggonwechsel.

– Aber daß Du allein gekommen bist. Onkel Karl hätte Dich doch begleiten sollen.

– Guter Richard! Ein Landwirt im Juni. Nein, das wäre wohl ein rechter Nonsens gewesen.

– Aber daß Niemand auf dem Bahnhof war.

– Dabei ist jetzt nichts mehr zu ändern, liebes Kind, und ich wollte es so. Übrigens wollen wir uns einen kleinen Plan machen. Heute Abend gehe ich früh zu Bett, denn ich fühle mich doch recht angegriffen. Morgen am Nachmittag aber fahren wir spazieren, in einer bequemen Kalesche. Ich bin sehr neugierig auf Berlin und will mir alles ordentlich ansehen. Fedi wird auch eingeladen und Katti auf den Bock gesetzt.

Fedi hatte mittlerweile Kaffee gekocht und trug nun die Kanne und die Tassen ins Zimmer.

– Das ist mal eine Überraschung, sagte sie und sah ihn lächelnd an. Wollen wir es uns also schmecken lassen. Und von den Sorgen später.

Es entstand ein kurzes Schweigen. Dann entschuldigte sich Fedi, weil nur so wenig Butter da war, und sie begannen mit der kleinen Mahlzeit. Nachdem die Baronin ausführlich aus der Heimat erzählt und Nachricht gegeben hatte von Verwandten und Freunden, bat sie, daß Richard spielen sollte.

Richard stand auf und ging zum Klavier. Das war wie in alten Zeiten. Im hohen Saal mit den gotisch geschweiften Fenstern, durch den man auf den Marktplatz hinausblicken konnte, saßen sie beisammen. Schräg vor der Ecke stand der neue blanke Flügel schon aufgeschlagen. Sie wußte, worauf er wartete, schwieg aber noch und betrachtete ihn. Und es war ein Zeichen traulichsten Einvernehmens, ein Zeichen, daß sie teilnehmen wollte an dem, was ihn bewegte, wenn sie nun bat zu spielen.

Er dachte darüber nach, welches von den alten Stücken er jetzt wählen sollte. Endlich entschied er sich für eine Polonaise von Chopin. Doch war es ihm diesmal nicht möglich, das Verhaltene und Festliche, das im Rhythmus lag, zu treffen; immer mehr ängstigte ihn das Eindrängen wirrer Gefühle; ein feierliches Erbrausen der Klänge ließ ihn jäh erschrecken wie in plötzlicher Klarheit, er schloß unvermittelt und streckte den Kopf vor, überwältigt von Ekel und Scham.

Er wußte, daß ihre Augen in dem Schweigen unverwandt auf ihn gerichtet waren, und das steigerte sein Gefühl bis zu brennender Verzweiflung. Gab es denn in diesem ganzen Leben, über das in dieser Stunde von ihm Rechenschaft gefordert wurde, nichts als Lüge, Heuchelei, Niedrigkeit, aus der kein Ausweg sich bot, als ein Untergehen in Feigheit oder Frechheit? War unter allem, was er in diesen Jahren erlebt, empfunden und erlitten hatte, nichts, das Stand zu halten vermochte vor den stillen, gütigen Augen, die auf ihm ruhten?

Richard hielt den Kopf noch immer gesenkt, doch fast ohne darum zu wissen, begann er von Neuem zu spielen, anfänglich nur mit einer Hand.

Es war eine kleine, ganz kurze Melodie, die mit einer merkwürdigen, flehenden Eindringlichkeit anhob, dann zuversichtlich wurde und dann verging. Doch sogleich tauchte sie wieder auf irgendwo unter den Tönen und die Gänge zogen her und hin mit ihr und trugen sie, bis sie erlahmte, erstarb. Aber wie eine bittende Hand kam das kleine Singen immer wieder und reckte sich hinauf und heftete sich an.

Dies hatte Richard oft gespielt, wenn Karl bei ihm gewesen war.

Zuweilen versteckte sich das Motiv für eine ganze Minute. Aber dann geschah es, daß alles Beiwerk plötzlich erlosch und daß das Lied allein nachblieb und hinklang in leeren Oktaven, mit einer lauten, hohlen Eintönigkeit, die schreiend war und doch gedämpft.

Das sollte jetzt nur die Brücke sein zu irgend einem Schluß, der da kommen mußte. Jedoch inzwischen hatte er den Kopf gewandt und sah sie an.

Sie lauschte andächtig dem Spiel und blickte auf ihn, verwundert, aber mit freundlichen Augen.

Und während er hinschaute auf diese Augen, dachte er an Karl.

Er erhob sich, sah noch einmal auf die Tasten, kehrte sich dann und tat einige unfeste Schritte. Dann kam er hin und setzte sich zu ihr. Fedi ging aus dem Zimmer.

Ein paar Sekunden wartete sie, darauf nahm sie seine Hand und zog ihn näher. Er schwieg hartnäckig, mit verkniffenen Lippen.

– Es hat Dich erregt zu spielen, sagte sie. Aber nun erzähle mir, was ist denn mit Dir, Richard? Du weißt ja, daß Fedi an mich geschrieben hat. Doch Du mußt nicht glauben, daß ich mit Fedi schon über Dich gesprochen habe, das habe ich nicht getan, nicht das kleinste habe ich gefragt. Ich wollte das nicht. Nur über gleichgültige Dinge haben wir miteinander geredet. Niemand ist zwischen uns. Aber Du sagst mir jetzt, was es ist.

Richard versuchte zu lächeln.

Nach einer kleinen Pause begann sie von neuem: In seinem Brief schreibt mir Fedi, daß Du krank wärest, nervös und leidend und weiß Gott was alles. Aber es ist nicht so, das sah ich ja gleich, als Du zur Tür hereinkamst. Was ist denn nun eigentlich? Hab' keine Heimlichkeiten vor mir, hörst Du, das würde mich ganz ärgerlich und traurig machen. Ich strecke meine Hand nach Dir aus, um Dich zu mir zu ziehen, so stark ich kann. Was spieltest Du eben? Lieber Richard, hast Du nicht irgend einen Kummer gehabt?

Er schüttelte rasch den Kopf und wollte etwas lächeln.

Ganz fest und ganz scharf sah sie ihn an und dann rief sie schnell: Nein, nein, nein. Lasse das nur. Du sollst Dich jetzt nicht zurückhalten wollen. Du machst mir nichts weiß. Ich verbitte mir das, hörtest Du, ich verbitte es mir.

Sie brach ab und verstummte und sah an ihm vorbei in die Ecke, als sammelte sie sich für einen letzten Versuch, für den die Worte zu finden nicht leicht war. Endlich sagte sie, noch immer ohne ihn anzusehen: Du mußt einmal daran denken, lieber Richard, daß ich nicht nur Deine alte Mutter, sondern auch eine alte Frau bin. Ihr nehmt uns in gewissen Dingen manchmal zu schwer. Ich will sagen, Ihr legt vielleicht manches in uns hinein, was nicht in uns ist, und später seid Ihr erstaunt und traurig, weil Ihr es nicht so findet. Wenigstens hat mir geschienen, als ob gerade die Besten von Euch irgendwann einmal diese Empfindung gehabt hätten. Wenn man so etwas in einem langen Leben öfters mit angesehen hat, dann könnte man bisweilen geradezu glauben, daß es besser wäre, wenn Ihr nicht so viel erwarten würdet. Aber es hat vielleicht doch sein Gutes, und niemand, der das durchmacht, braucht sich deswegen vor einer alten Frau zu schämen. Ihr sollt nun einmal durch dieses Feuer, um so zu werden, wie wir Euch haben müssen. Und dem Schönen, das Ihr Euch im Anfang ausgedacht habt, braucht Ihr deswegen doch nicht ganz zu entsagen, es kann wiederkommen. Wenn Ihr nur reinen Herzens geblieben seid, kommt sehr vieles davon später wieder, wenn auch in anderer Weise. Verstehst Du mich auch, was ich sage, Richard?

Richard verstand wohl. In jedem Wort und im Beben ihrer Stimme fühlte er den Anstrom drängender Liebe. Und zugleich spürte er das groteske Mißverständnis, das sein Leben in feste Schleier hüllte und alle Wege, die hinausführten, auch zu dem nächsten Herzen, wie spurverwehender Sand überdeckte. Seine Mutter streckte ihre Hand nach ihm aus, ratlos, weil er noch immer schwieg, und legte sie auf seine.

– Hast Du mich verstanden, Kind? fragte sie nochmals. Ist es das?

Er erwehrte sich hastig und fast rauh der Berührung, er wollte die Nähe ihrer Hand unter solcher Voraussetzung nicht ertragen. Und ein Aufleuchten von boshaftem Trotz kam in seine Augen. – Nein, Du bist wirklich auf falschem Wege, sagte er. Es ist nicht so. Du legst Dir da allerhand zurecht und es ist doch ganz anders. Es ist nur – – –

Sein Trotz schlug um, als die Erinnerung an ihn herantrat. Mit leisen, fast geflüsterten Worten sprach er: Es ist nur, daß Jemand gestorben ist, den ich so gern gehabt habe. Und daß ich die Gedanken daran nicht los werde. Sie haben ihn mir weggenommen, und ich hab es geschehen lassen, anstatt ihm zu helfen. Ich habe mich betrügen lassen und geglaubt, daß es nicht so kommen würde. Ich wußte nicht, was ich tun mußte, das war das Schlimme. Man hat ihn geschlagen, ich weiß es, wenn er es auch nicht schreibt. Ich habe noch einen Brief von ihm aus dem rauhen Hause, sie haben ihn geschlagen und beschimpft den armen Jungen, einen wehrlosen Knaben. Es lohnt nicht, davon zu sprechen. Es ist ja doch nichts mehr zu ändern. Ich hatte auch schon angefangen zu vergessen. Aber ich weiß nicht warum, wie ich Dich wiedersah, fiel es mir wieder ein. Über alles hab ich ihn geliebt.

Er schwieg. Er ward sich dessen bewußt, was er gesagt hatte. Und er stand auf, betroffen und nicht ganz ruhig.

Er versuchte einen harmlosen Ton zu finden und sprach, mit der Hand seine Haare glättend: Ich komme schon darüber hinaus. Frage jetzt nicht mehr, Mama. Soll ich noch etwas spielen? Von Schumann? Nicht wahr, ich spiele noch etwas?

Sie hatte sich ebenfalls erhoben. Sie stand da und rührte sich nicht und fragte: Im rauhen Hause? Einen Knaben? Den Du so sehr geliebt hast?

Und dann sprach sie leise, wie hilfesuchend, und für sich hin: Ich kann es ja nicht verstehen. Ich verstehe es nicht.

Plötzlich schien sie zu begreifen. Sie erinnerte sich wohl, daß sie ein- oder zweimal in ihrem Leben hatte davon reden hören. Und vielleicht fielen ihr die knappen Worte der Bibel ein.

Heftig erschreckend sah sie ihn an und sofort las sie auf seinem Antlitz. Ihr Entsetzen wuchs, ihre kleine, zierliche Gestalt richtete sich auf. Dann duckte sie sich etwas. Ihr Mund öffnete sich völlig, so daß die Oberzähne frei wurden.

Während einiger Sekunden trug ihr Gesicht einen andern Ausdruck, einen sehr freundlichen, merkwürdig verzerrten.

Sie hob die Arme ein wenig, wie um Richard in sie einzuschließen und flüsterte: Es war niemals ein Falsch in Dir, Richard, ich habe immer das an Dir geliebt, immer warst Du wahrhaftig, immer – – –

Sie schwankte plötzlich, er fing sie auf und schob sie in den Lehnstuhl zurück. Ihr Antlitz neigte sich und ward bedeckt von völliger Blässe. Mit einem halblauten Schrei rief er nach Fedi, der sofort eintrat.

Er blickte hin. – Es ist eine Ohnmacht, sagte er, lief zu ihr, löste den Kragen, nahm ihre Hand und beugte sich über sie.

Richard drängte hinzu und fragte immerfort ganz leise und mit bebender Stimme. Dringlich flüsternd bat Fedi um Ruhe.

Eine Minute ging hin. Es war kein Laut im Raum. Fedi kehrte sich und sah Richard an. – Es ist ein Herzkrampf. Sie ist tot.

Er tat einen gellenden, gezogenen Schrei. Dann sah er rasch auf den blassen, stillen Kopf, der sich leise zur Seite geneigt hatte und schräg auf der Lehne lag. Und dann lief er weg, ins Nebenzimmer.

Fedi eilte ihm nach, in Angst um Richard.

*


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