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Achtes Kapitel

1.

Im Mai erhielt Richard von Soroko einen Brief, der ihm Karls Tod meldete. Er wäre an einer Säftevergiftung gestorben, einen besonderen Namen hätte seine Krankheit nicht gehabt. Er hätte nur wenige Tage gelitten und wäre dann an einem andauernden Bluterbrechen zugrunde gegangen. Der Professor sei nicht bei der Beerdigung gewesen und überhaupt Niemand von seinen Angehörigen.

Soroko schrieb kalt und sachlich, erzählte nichts Näheres, erwähnte auch nicht, wo Karl gestorben war. Der Schluß des Briefes lautete: Ich glaube, daß ich zu Ihnen kommen werde, denn ich will mit Ihnen über etwas sprechen.

Richard legte das Schreiben beiseite und ihm war so, als träfe es ihn nicht so sehr, als erführe er den Tod eines Lieben, der längst und für ewig verschollen war. Wenn wir uns auch wiedergesehen hätten, wir würden uns fremd geworden sein, dachte er.

Doch als er aufstand, erinnerte er sich plötzlich an eine Geste von Karl, an eine rasche Handbewegung, die er bisweilen ausführte, und Richard glaubte den warmen frohen Blick des Jungen auf sich ruhen zu fühlen. Und es war nicht mehr möglich, sich den Schmerz nicht einzugestehen.

Nein, es wäre keine Fremdheit zwischen ihnen gewesen und nicht eines einzigen Wortes hätte es bedurft bei einem Wiedersehen.

Und er duckte plötzlich den Kopf und preßte ihn in den gebogenen Arm und drückte die Augen fest gegen das Tuch. Und dann richtete er sich auf und sah zum Fenster hinaus in die leere Luft.

Während der ersten Wochen nach der Trennung war die Erinnerung an Karl stündlich bei ihm. Dann war alles verblaßt und matter geworden. Und nur wenn der Rausch des Alkohols ihn allein antraf, hatte ihn die laute, schüttelnde Sehnsucht gepackt.

Und in den letzten Monaten war es ganz seltsam gewesen. Ungefähr so – er dachte fast niemals an Karl, aber es war ihm in jedem Augenblick bewußt, daß er ihn vergessen hatte. Und eine jede Gesellschaft genoß er hastig und mit Hingebung.

2.

Es war nach einigen Wochen, als Richard sich zu Tozoli begab, in der Hoffnung, von ihm etwas Geld leihen zu können. Wenn Tozoli, für den er ja auch oft eingesprungen war, zurzeit nur vierzig Taler aufbrachte, so wäre Richard wenigstens im Augenblick geholfen. Sein Hausherr drängte mit der Miete.

Jedoch traf er ihn nicht daheim. Er stieg die Treppen wieder hinab und blieb vor der Tür stehen, mißmutig und unschlüssig.

Die Geldsorgen wurden in der Tat sehr unangenehm. Wenn er die einzelnen Posten zusammenrechnete, so waren es rund siebenhundert Taler, die er im Laufe der nächsten Wochen bezahlen mußte. Für einen Wechsel von 250 Talern hatte der verstorbene Dirigent Müller kaviert.

Ohne sehr peinliche Auseinandersetzungen zu riskieren, ließ sich von Hause nichts beschaffen. Fedi stand sich finanziell zurzeit nicht gut, da der Aufenthalt in Italien für ihn recht teuer gewesen war und er in Berlin ebenfalls seine Ausgaben hatte.

Auf keinen Fall aber wollte Richard auch nur einen Pfennig von Dubois leihen, der, freigebiger mit guten Ratschlägen, seine Börse nicht ohne Zögern zu öffnen pflegte. Sehr deutlich noch erinnerte sich Richard an die bedenkliche Szene, die sich zwischen ihnen etwa vor einem Jahr abgespielt hatte. Nein, auf keinen Fall zu Dubois gehen.

Er entschloß sich dazu, Eisenschmidt aufzusuchen. Man könnte ihn um 50 Taler bitten. Nur auf vierzehn Tage. Ein solches Anliegen war vielleicht nicht allzu ungewöhnlich.

Ganz zufällig hatte er diesen Herrn, einen stillen, ernsthaften Mann von etwa vierzig Jahren, vor einigen Monaten kennen gelernt. In einer altmodischen Konditorei, die Richard bisweilen aufsuchte, um ungestört Zeitungen zu lesen. Auch Eisenschmidt war eifriger Zeitungsleser und so waren sie bei häufigem Austauschen der Blätter ins Gespräch gekommen. Und dann ins Politisieren.

Einmal hatte ihn Eisenschmidt zum Abendessen zu sich eingeladen. Sie speisten einfach aber sehr behaglich und tranken einen vorzüglichen Rotwein. Da es nicht an den kleinen Anhaltspunkten fehlte, versuchte Richard es mit einem jener Gespräche, die äußerlich ein gewöhnliches Gepräge tragen, bei denen aber auf jeden kleinsten Tonfall hingehorcht wird, die voll tückischer Hinterhalte sein können und bei denen alles verloren ist, wenn nötigenfalls Deckung und Rückzug nicht gelingen. Es ist, als ginge man von zwei verschiedenen Punkten aus in einen dichten Wald hinein. Aber es darf nicht auch noch so leise gerufen werden, der Fuß wird ganz zart aufgesetzt, kein Läubchen an den Bäumen darf gestreift werden, denn ein offener, voller Atemzug könnte beweisen, wo man steht. Es muß so kommen, daß die Blicke sich plötzlich treffen, ohne daß man sich auch nur eine Sekunde zu früh verraten hätte durch die schleichenden Tritte, die den Weg fanden.

Jedoch schon nach einer halben Stunde des Tastens sah Richard, daß Eisenschmidt bereits in der Dämmerung vieldeutiger Phrasen heftig erschrak und daß er wollte, daß der Wald dunkel und Stamm an Stamm zwischen ihnen bleiben sollte.

Eisenschmidt gehörte zu den Junggesellen, die eingezogen und völlig reserviert leben. Fragen, die nur irgendwie auf seine persönlichen Verhältnisse Bezug nahmen, pflegte er geflissentlich und trotz einer ihm sonst anhaftenden Verlegenheit, sehr entschieden zu überhören. Er beschäftigte sich mit religiösen und astronomischen Studien und bewies auf diesen Gebieten einen Sammeleifer, wie er selten ist. Neben zahlreichen Bibelausgaben befanden sich auch buddhistische und islamitische Religionswerke sowie talmudische in seinen Schränken. In zwei aparten Zimmern war eine Sammlung von ungefähr vierzig Fernrohren untergebracht. Es war ein Herr von ziemlich gewöhnlicher Erscheinung, klein, blond und sehr zuvorkommend im Wesen.

Richard traf ihn zu Hause. Doch sofort nach der Begrüßung gab er den Gedanken, von ihm Geld zu leihen, endgültig auf.

Denn da sie sich wochenlang nicht gesehen hatten, war Eisenschmidt offenbar der Meinung gewesen, daß diese Beziehung abgebrochen sei. Richards Besuch kam ihm so unerwartet, daß es ihm diesesmal nicht möglich war, in der gewohnten Reserve zu bleiben. Die Freude färbte seine Wangen und er ward des Bebenden, Hastigen in seiner Stimme nicht gleich Herr.

Unvorbereitet und sehr betroffen stand Richard da. Nein, es ließ sich nicht wohl machen, daß man ihn jetzt anpuffte.

Es war eine merkwürdige Stunde, die er bei ihm verlebte. Eisenschmidt führte ihn durch alle Räume, zeigte ihm seine Sammlungen und erklärte sie und bemühte sich aufs Eifrigste, ihn nach besten Kräften zu unterhalten. Dann ließ er sich von Richard erzählen und hörte alles mit teilnehmender, lautloser Aufmerksamkeit an. Hierauf tranken sie einen außerordentlich wertvollen, hundertfünfzigjährigen Tokayer aus den berühmten Warschauer Vorräten. Bei alledem gab er Richard auch nicht das kleinste liebenswürdige oder freundschaftliche Wort und vermied seine Nähe ängstlich. Und dann war plötzlich ein Moment da, in dem Richard ganz deutlich fühlte, daß seine Gegenwart quälend empfunden wurde. Eisenschmidt ward immer redseliger und unruhiger und sein Wesen nahm etwas völlig Unbeholfenes an. Richard sah ihn leiden und kehrte sich ein wenig abseits, weil er denn doch nicht anders konnte als etwas lächeln.

In der Tat machte Eisenschmidt nicht den geringsten Versuch, ihn zu halten, als Richard aufbrach.

Er geleitete ihn in das Garderobezimmer und half ihm in den Überzieher schlüpfen. Er sprach nicht ein Wort von einem Wiedersehen. Er schien es sogar so einrichten zu wollen, daß er Richard nicht die Hand zu geben brauchte. Die Augen auf den Boden richtend verbeugte er sich fortwährend und es machte den Eindruck, als könne er gar nicht erwarten, daß Richard nun endlich zur Tür hinaus wäre.

Er ging heim.

Gerade vor dem Hause, in dem er wohnte, stand ein schmächtiger, blasser Knabe von ungefähr dreizehn Jahren. Er schaute sehr aufmerksam auf Richard und bog dabei den Kopf mit dem braunen Mützchen ein wenig auf die Seite, was besonders kindlich aussah. Seine Haare waren blauschwarz, die blutlosen, feinen Lippen hatte er zusammengekniffen und die Augen ganz weit aufgemacht.

Richards Schritte wurden immer kleiner und sich wundernd blickte er ihn scharf an. Darüber schien der Knabe zu erschrecken, er ging rasch zur Seite, drehte ihm den Rücken zu und machte einen kleinen Buckel.

Richard zögerte etwas, dann trat er ein und ging über die beiden Stiegen bis vor seine Tür. Dort blieb er stehen und horchte. Leise und schnell folgte ihm Jemand. Man hörte keine Tritte, nur das Holz knackte ein paar mal. Und dann waren sie da im Halbdunkel des Flurs und schauten ihn an, die beiden dunklen Augen im blassen, leidensreichen Kinderantlitz. Nach einem kleinen Schweigen fragte Richard: Wen suchen Sie?

– Sind Sie der Baron Löwenwolde?

Er rief im Flüsterton und rührte sich nicht von der Stelle.

– Ja, ich bin es. Kommen Sie doch näher.

Der Knabe tat ein paar hastige Schritte und blieb dicht vor Richard stehen. Er spähte zur Seite und zurück in den dunklen Korridor und war wie geängstigt von einem Verfolger. Erregt und mit bebender Stimme flüsterte er: Ich muß Ihnen etwas Schlimmes sagen, Karl Ziegler ist sehr schwer krank gewesen. Und dann ist er gestorben.

– Ich wußte es schon.

– Ach, Sie wußten schon. Er war sehr überrascht und für einen Augenblick ganz aus der Fassung gebracht.

Dann sagte er: Und ich soll Ihnen einen Brief von Karl abgeben. Nur mir allein hatte er erzählt, daß er hin und wieder etwas aufschreibt. Die anderen Jungen durften nichts merken, weil es unter ihnen solche gibt, die vielleicht aus Neugierde den Brief gestohlen hätten. Ich bin erst vorgestern entlassen worden, drei Wochen nachdem er starb.

– Wo ist er gestorben?

– Wo? In Horn bei Hamburg, im rauhen Hause.

Richard kniff die Lippen zusammen und ward stumm und der Knabe sah in seine erschrockenen Augen. – Ach, das wußten Sie nicht? sagte er. Er ist über fünf Monate dort gewesen. Ich habe nur während einer Woche mit ihm zuweilen reden können, denn als der Inspektor sah, daß wir miteinander auskamen, wurden wir gleich separiert. Als er schon krank war, kam es durch einen Zufall noch gerade so, daß er mir den Brief geben konnte. Er sagte mir, ich sollte den Brief in jedem Fall besorgen, auch wenn er sehr krank würde. Ich glaub' aber, er dachte dabei, daß ich den Brief nur ja auch hinbringe, wenn er stirbt. Er genierte sich bloß von seinem Tode zu reden.

Richard sah noch immer geradeaus, stumm und ohne sich fassen zu können. Karl war also dort geblieben. Er begriff es nicht.

– Bitte, geben Sie mir eine Schere, sagte der Kleine.

– Wie?

– Ich habe den Brief nämlich der Sicherheit wegen schon dort in mein Gilet eingenäht. Ich hab' ihn auch in Berlin noch nicht herausgenommen, weil es vorkommt, daß meine Eltern mich absuchen.

Richard schloß die Tür zu seiner Wohnung auf und sie traten ein. Er holte eine Schere aus dem Schlafzimmer. Der Junge knöpfte seine Weste auf, kehrte die Innenfläche ans Licht und durchschnitt hastig und sich beeilend das Futter. Er zog einen großen mit Bleistift beschriebenen Bogen hervor.

Unsicher und schnell und ohne aufzublicken sagte er: Es war in der Anstalt nicht möglich ein Kuvert zu bekommen.

Richard schaute ihn an und fragte ganz unwillkürlich: Dann haben Sie den Brief wohl gelesen?

Er wollte rasch etwas erwidern. Doch er brachte kein deutliches Wort heraus. Dann kniff er plötzlich die Lippen zusammen und seine Augen suchten den Boden. Er war rot geworden und verschränkte die Finger in peinlichster Verlegenheit.

– Es ist ja nichts dabei, sagte Richard.

Doch der Knabe schämte sich noch immer. Und nach einem ungeschickten Kratzfuß strich er leise, die Augen immer auf den Boden richtend, zur Tür hinaus.

– Adieu, mein Guter, adieu. Ich danke Ihnen, rief Richard ihm nach.

3.

Vierter Januar. Jetzt bin ich schon 3 Monate ohne Dich und ich kann es nicht aushalten ohne Dir zu schreiben. Es ist aber nicht zu wissen, wann Du den Brief bekommen wirst, denn ich kann ihn nur absenden, wenn einer von den Jungen entlassen wird. Und viele sind so, daß man ihnen nichts anvertrauen kann und sie würden ihn aus Faulheit wegwerfen. Ich bin in Horn bei Hamburg, die ganze Zeit schon, Du weißt wohl gar nichts von mir und wirst es gar nicht begreifen können, wo ich geblieben bin. Aber es war ja nicht möglich, Dir Nachricht zu geben. Du hast mich doch noch nicht vergessen. Wenn ich nur mehr an Dich denken könnte, aber zuweilen ist's unmöglich. Es ist unbegreiflich, wie mein Onkel darauf gekommen ist, wer sollte ihm was gesteckt haben? Natürlich hab' ich Deinen Namen verschwiegen. An einem Dienstag gegen ein Uhr Nachts wollte ich aus dem Fenster, aber er hatte nur so gemacht, als wäre er schlafen gegangen. Das Schrecklichste war die Reise hierher und die ersten Tage und einiges werde ich Dir niemals erzählen und Du mußt versprechen, daß Du mich nie danach fragen wirst. Einmal kam der Direktor und der Inspektor und wollten, daß ich ein Schriftstück schreibe, in dem ich verspreche auf mein Ehrenwort, daß ich nie wieder so schimpfliche Dinge tun werde. Mein Onkel soll das so wünschen. Und ich soll darin auf mein Ehrenwort erklären, daß ich Dich nie wiedersehen will. Wenn ich das alles hinschriebe und mich brav halten würde, würde ich nach einem Monat wegkommen von hier, sagten sie, aber nicht nach Berlin, sondern aufs Land zu einem strengen Pastor. Ich wollte es auch tun und alles schreiben, weil es sonst ganz unmöglich ist, von hier zu entfliehen. Verstehst Du, ich wollte es aus List tun, weil ich nicht nötig finde, gegen diese Menschen anständig zu sein. Aber sie fingen an, mir etwas so Gemeines zu diktieren, daß ich wütend wurde und plötzlich nicht mehr konnte und das Papier zerriß und hinwarf. Ich bekam aber nur Arrest und dann Kostabzüge. Ich muß jetzt aufhören, es ist Morgen und man klingelt zum Beten. Lieber, lieber Richard, ich schreibe Dir nur, weil ich Dich bitten will, daß Du auf mich wartest. Denn wenn ich älter bin, kann mir niemand mehr etwas sagen und ich komme zu Dir.

Zweiter Februar. Es ist schrecklich, daß ich den Brief noch immer nicht abschicken kann. Man hat auf den Jungen, der gestern entlassen wurde, so aufgepaßt, daß es unmöglich war ihm etwas zuzustecken. Was wirst Du denken, wenn ich Dich so lange ohne Nachricht lasse. Ich bin ganz verzweifelt darüber. Es ist auch möglich, daß man diesen Brief fortnimmt, denn es wird immerfort nachgesucht nach verbotenen Dingen. Was ich Dir schreibe, muß ich mir erst ganz genau im Kopf ausdenken und dann muß ich es rasch hinschmieren im Abort. Das ist die einzige Möglichkeit. Wie komisch. Ich weiß nicht, ob ich das alles später vergessen werde. Gott sei Dank bin ich ziemlich gesund, aber ich bin zuweilen am Abend so sehr müde, daß ich gleich einschlafe und nicht einmal an Dich denken kann.

Zehnter März. Ich habe Dir nicht mehr geschrieben so lange, weil ich Dir nichts erzählen will vom Leben hier. Ich habe eine wehe Hand, aber die Schmerzen sind nicht so schlimm. Es fällt einem hier alles so schwer und in den Stunden vergißt man gleich wieder, was man lernt. Denn es ist nicht möglich mit dem Kopf dabei zu sein, bei der Arbeit. Man hat mich sehr gequält, aber ich werde es später vergessen. Erbarme Dich doch, Richard, und warte nur. Nach anderthalb Jahren bin ich achtzehn. Außerdem ist es schon nicht Sitte, daß man länger als zwei Jahre hier behalten wird. Es ist schrecklich, daß man niemals allein ist und daß man immer den Lärm von so Vielen anhören muß. Und in der Nacht immer die Atemzüge von den andern, daß man gar keine eigene Luft hat und es zum Ersticken ist. Denk Dir, daß ich noch kein einziges Gedicht habe machen können, solange ich hier bin. Es fehlt sozusagen jede Sammlung dazu. Eines habe ich angefangen, aber es wurde nichts daraus. Natürlich sind es nur die äußeren Umstände, denn so etwas kann doch nicht von innen plötzlich aufhören. Es muß doch wiederkommen, später. Ich denke immerfort darüber nach. Nicht wahr, es kommt wieder?

Zwanzigster März. Noch immer kann der Brief nicht fort, es ist Niemand da, der entlassen wird und sozusagen zuverlässig ist. Ich denke jetzt seltener an Dich und an Berlin, aber wenn es geschieht, dann ist es viel stärker und wie ein Brennen. Es sind erst fünf Monate vergangen, noch neunzehn ohne Dich. Richard, ich will Dir doch sagen, daß ich zuweilen sehr weinen muß. Am Ende werde ich mich gar nicht mehr freuen können auf Dich, ich bin schon jetzt halbverrückt, scheint mir oft. Alles fängt an nebelhaft zu werden und es ist ja schon so lange her. So vergiß mich doch nur nicht unterdessen. Es ist zu dumm, was sie sich ausdenken. Ich habe den Sinn erst neulich begriffen, durch eine freche Anspielung von einem Wärter. Denk Dir, daß ich nämlich fortwährend eiskalte Bäder nehmen muß. Das geschieht sozusagen Deinetwegen. Ich soll nicht auf dumme Gedanken kommen und Dich ordentlich vergessen. O jeh, wie komisch! Von dem Moment an, wo ich das Papier mit dem albernen Versprechen zerriß und auf den Boden warf, haben diese ewigen Bäder angefangen. Ich glaube doch zuweilen, daß ich nicht robust genug bin, habe einen ganz wehen Kopf. Wenn ich nur irgend eine Nachricht von Dir haben könnte, so würde ich ja alles aushalten. Aber so ist es wirklich sehr schwer. Bitte, bitte hab' keinen anderen Freund.

Fünfter April. Ich hatte einen ganz netten Jungen gefunden, erst dreizehn Jahr alt, aber nicht mehr so recht wie ein Kind, sondern sehr klug und entwickelt. Als wir häufiger mit einander sprachen, hat man es aber so eingerichtet, daß wir uns nicht mehr sehen können. Falls er im Mai fort geht, kann es aber doch noch so auskommen, daß er den Brief besorgt. Er heißt Franz Dipner. Ich glaube, daß er ebenfalls deswegen hier ist. Ich fühle mich krank, aber es ist nicht sehr quälend und ich bin froh darüber, daß mir in letzter Zeit wieder alles so deutlich geworden ist und daß ich mich genau erinnern kann an vieles Einzelne mit Dir zusammen. Und auf einmal sind mir die symphonischen Etüden eingefallen und ich hab sie immerfort deutlich im Ohr. Namentlich den Anfang, der so heilig klingt. Lieber Richard, wie spielst Du schön. Immerfort muß ich daran denken. Es ist jetzt Ende April und sehr gutes Wetter und ich darf etwas öfter in den Garten. Mein Magen ist nicht gut, obgleich ich in letzter Zeit wenig Kostabzüge hatte. Ich weiß und weiß nichts von Dir und zuweilen kann ich das nicht mehr ertragen. Was soll ich denn noch schreiben? – –

Richard stand auf. Aber er fiel wieder in den Stuhl zurück und saß da, still und erschüttert und wandte den Kopf langsam zur Seite. Dann erhob er sich und begann unstät und leise im Zimmer hin und her zu gehen.

Bisweilen blieb er stehen und schaute auf irgend einen Gegenstand.

Er fing an auf sich einzureden und sichs zu sagen und es sich vorzuhalten, daß er auch gar nicht hätte helfen können. Nein, das wäre gar nicht möglich gewesen und nicht daran zu denken.

Aber er wußte, es lag nichts daran, daß er sich von dieser Tatsache überzeugte. Denn ganz zuletzt verhielt es sich doch anders. So, daß Karl sich ihm befohlen hatte. Und Richard bestellt war für ihn. Daß es dafür zurzeit keine Verträge gab unter den Menschen, befreite nicht von dem Gefühl versäumter Pflicht.

Nach einiger Zeit ging er wieder zum Tisch und nahm den Bogen. Und jetzt ward er von den Einzelheiten gequält und das Blut wollte ihm nicht aus dem Gesicht strömen, während er las.


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