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Er erwachte davon, daß Richard sich auf sein Bett setzte und ihn ein wenig an der Nase zupfte. Erschrocken fuhr er auf und tastete mit den schlaftrunkenen Händen, um sich zu stützen und nicht wieder auf den Rücken zu fallen. Wo warst Du? fragte er.
– Das werde ich Dir schon erzählen, versprach ihm Richard und blickte ihn an, wie es Fedi schien, mit besonderer Aufmerksamkeit, doch konnte er nicht recht sehen, die Augen juckten ihm noch vom Schlaf.
Richard sprang auf, ging ans Fenster, schlug die Gardinen zur Seite und öffnete. Es ward hell, dünne, reine Schneeluft strömte ins Zimmer und auf den Boden legte sich der Sonnenschein. Richard wandte sich, blickte aufs Bett und war ganz stolz auf dieses Wetter. – Sieh doch, wie das heute wird, rief er.
Fedi lag auf dem Rücken und schaute zur Decke hinauf. Er schwieg.
Richard lächelte etwas verlegen. Dann kam er auf ihn zu, setzte sich wieder aufs Bett und sagte: Du darfst Dich nicht darüber ärgern, daß ich gestern so weglief, hörst Du. Anfänglich wollte ich gleich wiederkommen.
Er brach ab und erfaßte mit seinen kühlen Händen Fedis Arm und hielt ihn. Sein Körper duftete und war noch durchzogen vom Winde und der Schneeluft und von seinen geröteten Wangen kam ein frischer Hauch, strich über's Bett und füllte den Atem des Erwachten. Fedi sah in die hübschen, grauen Augen, die an ihm hafteten und ihn nicht losließen.
Er behauptete, durchaus nicht ärgerlich gewesen zu sein. Allerdings hätte er sich ein wenig gewundert, gewartet übrigens nicht besonders lange, kaum eine halbe Stunde. Richard betrachtete ihn und glaubte es ihm nicht. Aber er lächelte bloß und sagte: Du wirst schon alles sehen. Dann ging er in seine Stube, die nebenan lag, schloß seinen Schrank auf und fing an, seine Kleider zu bürsten.
Einige Minuten wartete Fedi, dann fragte er: Nun also, wo warst Du denn?
– Ich erzähle Dir schon später, rief ihm Richard zu. Wir wollen etwas spazieren gehn, dann unterwegs …
Fedi war gekränkt. Aber auf keinen Fall wollte er das merken lassen. Daß sich Richard womöglich noch mehr einbildete! Er sprang aus dem Bett und begann sich anzukleiden und, um nur ja nicht wie ein unruhiger oder neugieriger Mensch auszusehen, lobte er das Wetter mehrmals mit lauter Stimme und fing irgend ein Gespräch mit Richard an, wobei er sich sehr lebhaft anstellte. Erstaunt kam Richard näher, bis zur Schwelle, und blieb stehen mit der Bürste und einem Paar schwarzer Hosen in der Hand. Aber Fedi tat ihm nicht den Gefallen, ein zweitesmal zu fragen oder irgend wodurch zu bekunden, daß er sich in einer gewissen Spannung befände. Eifrig betrachtete er sich im Spiegel, kämmte sich und pfiff dazu. Nachdem sich auf Richards Miene ein gutmütiger Spott geäußert hatte, ging er wieder.
Als sie fertig waren und auf der Straße, bemerkte Fedi, daß Richard ihn ernsthaft und auf eine ganz merkwürdige Weise ansah – so etwa, wie man sich Jemanden besieht, über den man soeben etwas Erstaunliches und ganz Neues gehört hat. Was will er denn von mir? dachte Fedi und bemühte sich noch immer unbefangen und durchaus nicht neugierig zu erscheinen. Als sie unter den Linden waren, wollte er nach rechts, um den Tiergarten zu erreichen, es sollte doch ein Spaziergang werden.
Aber Richard bestand darauf, daß sie nach der andern Seite abbogen, aufs Schloß zu. Fedi begriff sogleich nach den ersten Schritten, daß sie auf irgend ein Ziel losgingen, und er ward mißtrauisch und aufgeregt. Weil Richard gut gelaunt und lustig gewesen war, als er nach Hause kam, deshalb brauchte man durchaus nicht anzunehmen, daß es sich um irgend etwas Spaßhaftes handeln würde. Ach nein, die Situation war vielleicht ganz anders. Aber was ist es denn nur? Wohin laufen wir? fragte er sich. Mehrmals war er entschlossen, stehen zu bleiben und nicht einen Schritt weiter zu machen, ehe er nicht alles wußte. Aber dann wollte er sich wieder nichts merken lassen. Übrigens war er nicht mehr in einer Verfassung, in der er hätte unbefangen und mit gleichgültiger Miene plaudern können. Er schwieg. Auch Richard sprach wenig, und sie gingen immer schneller. Sie kamen am Schloß vorbei, dann eilten sie über die Cavalierbrücke und weiter. Wenn sie sich einer Ecke näherten, wußte Fedi bis zum letzten Augenblick nicht, ob sie einbiegen würden.
Vor der Tür eines Ladens blieb Richard stehen. Fedi schaute atemholend auf. Sie befanden sich vor dem Antiquariat Rosenkranz.
Komm nur, rief Richard und stieß die Tür auf. Fedi war so enttäuscht und verblüfft, daß er sich zuerst nicht vom Fleck rührte, dann ging er ihm nach.
Herr Rosenkranz beachtete sie nicht. Er saß an seinem Schreibpult, rechnete und brummte bisweilen ganz leise. Richard sagte, daß er noch einmal wiedergekommen wäre, um nach dem Buch eines gewissen Nachmeier zu suchen, der vor etwa fünfundvierzig Jahren über den Kontrapunkt geschrieben hätte. Rosenkranz nickte stumm mit dem Kopf und wies auf das Rückzimmer.
Sie begaben sich dorthin, Richard schob die Tür zu und so befanden sie sich allein in der zweiten, größeren Hälfte des Lagers. – Danach willst Du jetzt suchen? fragte Fedi, beinahe zornig.
Richard machte: Ssst. Dann nahm er ihn beim Ärmel, führte ihn bis zum Tisch und rückte ihm einen Stuhl zurecht. – Ich war nämlich heute morgen schon einmal hier, um nachzulesen, sprach er ganz leise, während er die kleine hölzerne Leiter aufstellte. Schon um neun Uhr, gleich nachdem ich weggegangen war von Dubois.
So heißt er also, dachte Fedi und wunderte sich über diesen Namen, obgleich er nicht ungewöhnlich klang. Er begriff gar nicht, warum Richard so leise sprach. Seine geflüsterten Worte blieben ihm Silbe für Silbe im Ohr, während Richard oben auf der Leiter stand und den Arm lang ausstreckte.
Fedi sah schweigend zu, wie er hinunterstieg. Richard hatte ein dickleibiges Buch in der Hand, einen Teil eines encyclopädischen Werkes. Er blätterte, dann legte er den Band aufgeschlagen vor Fedi hin und deutete auf die Stelle, wo er zu lesen beginnen sollte.
Aber Fedi tat das nicht sogleich. Sein Blick haftete noch während einiger Sekunden an dem Richards.
Dann beugte er sich vor und las. Nach den ersten fünf Zeilen begriff er. Und obgleich er so etwas durchaus nicht erwartet hatte, wunderte er sich gar nicht. Aber seine Gedanken entliefen der Gegenwart und aus den Schlupfwinkeln des Gedächtnisses, in die die Zeit sie versenkt hatte, entsprangen Szenen aus der Kindheit und den Jünglingsjahren und drängten heran.
Betäubt durch diesen Anprall von Erinnerungen starrte er auf Richard, der ihn eifrig beobachtete und in vollen Zügen das Glück dessen genoß, der Jemanden von Grund aus überrascht. Fedi senkte den Kopf wieder. Aber es geschah nicht, um weiterzulesen, seine Augen liefen hin und her auf dem Tisch, und er war bemüht, sich zu besinnen, um schnell urteilen zu können.
Etwas ängstlich schaute er auf die Tür.
Dann sah er Richard an und fragte mit halber Stimme: Du hast ihm erzählt von uns?
– Er hatte sich schon so wie so seine Gedanken gemacht, erwiderte Richard. – Er hat nämlich Dich auch gesehen, zusammen mit mir, schon bei Habel.
Fedi erinnerte sich des Herrn, der ganz allein Champagner getrunken hatte. Das war also derselbe, der später mit Richard unter den Linden stand.
– Er heißt Dubois?
– Ja, Dubois. Nach einer kurzen Pause sprach Richard: Und wir meinten immer, daß das nur noch eine Zeitlang nachbleibt nach der Schule. Lies nur weiter.
Nach wenigen Sekunden glitten Fedis Augen wieder vom Text ab. Er sah auf die Wand, an der an einem groben, schief eingeschlagenen Nagel ein Handbesen hing. War es denn wirklich so? Irgend ein Fremder kam –
Aber er wollte das nicht fragen. Natürlich war es nicht anders. Übrigens beherrschte ihn plötzlich kein anderes Gefühl, als das der Neugierde. Und er las den ganzen Artikel zu Ende ohne aufzusehen und seinen Atem beschränkend.
Als er fertig war, lehnte er sich mit einem Ruck zurück und blickte auf Richard.
– Nun?
– Aber so ist es doch gar nicht, sagte Fedi. Das meiste ist ja überhaupt gar nicht wahr. Ob es denn keine andern Bücher gibt?
– Ich glaube nicht. Das heißt, Dubois erzählte mir, daß auch beim Philosophen Schopenhauer etwas steht. Aber ich hab vergessen, wo in seinen Werken. Er soll nicht besonders schimpfen.
Die Tür öffnete sich und Herr Rosenkranz trat ein. Richard ging ihm rasch entgegen, während Fedi erschrocken, jedoch mit einer ganz unauffälligen Handbewegung und scheinbar unbefangen das Buch zuklappte.
Richard erzählte, daß sich über den verschollenen Komponisten Nachmeier nichts hätte finden lassen. Rosenkranz brummte nur, er war ins Zimmer gekommen, um selbst irgend wonach zu suchen und schenkte den jungen Leuten gar keine Aufmerksamkeit.
Sie grüßten kurz und verließen das Antiquariat. Es war etwa halb zwölf Uhr und die Sonne stand hell am Himmel. Der Schnee ward eilig vom Fahrdamm gekehrt und aufgeladen, droben auf den schrägen Dächern lag er noch weiß und rein und flimmerte. Sie gingen dem Tauwinde entgegen. Fedi dachte an nichts andres, als an diesen erstaunlichen Artikel. Durchaus wollte er mehr erfahren.
Während sie sich den Linden näherten, erzählte Richard von Dubois. – Er ist früher irgend etwas gewesen, ich glaube Richter oder Offizier, er sagte es mir nicht ganz deutlich, vielleicht hab ich es auch vergessen. Jetzt lebt er ganz frei und schreibt hin und wieder Novellen für Westermanns Monatshefte. Es ist mir sogar, als hätte ich irgend etwas von ihm gelesen. Erinnerst Du Dich nicht vielleicht? Er kennt Gustav Freytag und Paul Heyse, auch Spindler. Jedenfalls muß er sehr viel Geld haben, er hat ein kleines Haus ganz für sich, ein ehemaliges prinzliches Jagdschloß ganz an der Grenze von Berlin nach Wilmersdorf zu. Dort lebt er allein mit einem Diener. Er hat mich heute zum Essen eingeladen. Du kommst auch mit.
Fedi war im höchsten Grade verwundert und geradezu erschrocken. Er wollte nicht hin. Richard überredete ihn: Was soll denn das? Daß du keine Visite gemacht hast! Aber ich bitte dich, das paßt doch garnicht für einen solchen Fall. So denke doch nach. Er lud mich ein, ich erzählte, daß ich Dich nicht allein lassen wolle, und er sagte gleich, daß er natürlich Dich auch erwartet. Es ist doch überhaupt alles ganz anders, ganz anders. Du wirst schon sehen.
Fedi gab endlich nach. Aber schweigsam ging er des Wegs neben Richard, der etwas verlegen wurde.
Fedi wußte eigentlich nicht, ob es ihm recht war, daß sich das ereignet hatte, und er fragte sich, wie es denn in Zukunft sein würde. So, daß Richard öfters mit Dubois zusammentraf? Als sie zu Hause waren und sich zum Essen ankleideten, wurde er immer stiller. Richard hantierte geschäftig mit seinen Sachen, seine Laune drückte auf Fedi. Er war gefällig und vertraulich gegen den Freund und war gerade so, wie Fedi ihn liebte. Aber er war es, wie um eine Schuld auf diese Weise abzutragen.
Doch die Zeit rückte vor und Fedi erwartete zuviel des Neuen von den nächsten Stunden, als daß es ihm möglich gewesen wäre, seine Gedanken dauernd auf einen Punkt zu richten.
Als sie fertig waren und sich gegenseitig gemustert hatten, schlug es halb drei. Zeit genug also, um zu Fuß zu gehen. Auf Richards Rat band sich Fedi noch im letzten Augenblick eine andere Schleife vor, eine graue, helle, deren Enden ein wenig über die Weste fielen. Dann brachen sie auf.
Nach wenigen Minuten entschlossen sie sich doch dazu, einen Wagen zu nehmen. Es traf sich, daß sie an einen Kutscher kamen, der sehr schnell fuhr und das Pferd fortwährend peitschte und antrieb. – Es ist unangenehm, wir werden zu früh kommen, sagte Fedi und hatte die Uhr alle Augenblicke in der Hand. Als sie am Ziel waren und ausstiegen, betrachtete er das Anwesen, während Richard bezahlte. Es war wie ein behaglicher Landsitz. Frei und bequem stand das Haus, ein hölzernes, stattliches Gebäude von ältlicher Bauart im weitläufigen Garten. Das Dach fiel sehr steil ab und reichte weit vor, die Fenster des zweiten Stockwerks beschirmend. Aus den Schornsteinen zog spärlicher Rauch in den kalten leeren Himmel hinaus.
Sie durchschritten den Garten und schellten vor dem altertümlichen Holzportal, dessen beide Hälften mit je einem grobgeschnitzten, unter dem Kinn geflügelten Engelkopf verziert waren. Dubois selbst öffnete ihnen und begrüßte zuerst Fedi, den Richard vorgeschoben hatte. Er sagte sofort einige Worte und drückte ihm fest und freundschaftlich die Hand, sie mit der seinen umschließend. Richard winkte er bloß zu und ging dann höflich zwei Schritte rückwärts, um den Gästen mehr Raum zu gönnen, während sie die Straßenkleider ablegten. Fedis Baschlik wollte sich nicht an der Knagge befestigen lassen und fiel immer wieder zu Boden, bis Richard ihn ergriff und ihn auf einen Stuhl warf. Als der Diener kam, ein ältlicher, bartloser Mann, waren sie im Begriff ins Nebenzimmer zu gehen. Dubois rief ihm sehr laut zu, es wäre schon gut, die Herren hätten schon abgelegt und erwähnte darauf mit einem entschuldigenden Lächeln der Schwerhörigkeit des sonst so brauchbaren Friedrich.
– Übrigens bin ich nicht geneigt, diese Eigenschaft bei einem Diener besonders tadelnswert zu finden, fügte er hinzu, während er die Ankömmlinge in ein größeres Gemach führte und sie bat, sich Plätze zu wählen.
– Wie werden Sie es halten? fragte er Fedi. – Rauchen Sie noch vor Tisch oder sind Sie kein so passionierter Verehrer der Papyros wie Ihr Freund.
Er wandte sich schnell zu Richard: A propos, ich habe mich gestern getäuscht. Ich hatte doch schon von diesen Dingern gehört. Man kann sie sogar irgendwo hier in Berlin kaufen, ich will mir das merken. Aber heute müßt Ihr Euch selbst bedienen, meine Herren, und mich noch dazu.
Fedi holte seine Tasche heraus, bot an, und sie rauchten.
– Für mich ein ganz neues Vergnügen, sagte Dubois und betrachtete neugierig das dampfende Röllchen in seiner Hand.
Er unterhielt sich mit Fedi. Seine Förmlichkeit war nicht steif und schien nur da zu sein, um möglichst rasch herauszukommen aus den Anfängen einer Bekanntschaft, die Dauer haben sollte. Es geschah der abgezirkelten Höflichkeit Genüge, und dann war in wenigen Minuten ein Hin und Her der Rede entstanden, das die erste Oberflächlichkeit schon abgestreift hatte. Dubois wählte seine Wendungen sehr behutsam. Von diesem Zwang, diesem fortwährenden Verhalten im Sprechen erholte sich sein im Grunde lebhaftes Temperament bisweilen durch eine unmotivierte Bewegung, eine rasche zierliche Geste, von der man eigentlich nicht wußte, was sie bedeuten sollte.
Richard setzte sich an den Flügel und spielte leise. Dubois wandte sich von Fedi ab und sah hin. – Ah, unser Herr Musikus, sagte er sehr freundlich und lehnte sich zurecht, um zuzuhören. Aber Richard schüttelte rasch den Kopf. – Ich freue mich nur über den schönen Ton, den das Klavier hat, rief er. Ein andres Mal spiele ich wieder ganz ordentlich.
Es ward geschellt, Dubois entschuldigte sich und ging ins Garderobezimmer. Fedi lehnte sich zurück, und sah durch die niedrigen breiten Fenster in den Garten hinaus. Dann blickte er in der Stube umher, in der es zu dunkeln begann. Die Stühle, Sessel und Sophas waren mit rotem Sammet überzogen, der sich fest über die schwellenden, rundlichen Kissen spannte. Die Lehnen wurden überall von geschweiften Leisten umrahmt, auf ihrem blendenden Weiß lief nahe der Kante ein vergoldeter Streifen. Auch die Decke des ganz leeren Tisches, an dem Fedi saß, war weiß, aus dicker, harter Seide. Auf allen vier Seiten hing sie weit über und berührte fast den Boden, ohne daß irgendwo auf ihr ein Muster sichtbar wurde, ein Aufsatz und ohne daß sie einen Saum hatte, der sich deutlich für das Auge abhob. Es war wie ein großes, viereckiges Stück Helle, das man ins Zimmer gestellt hatte, in dem es dämmerte und das geräumig aussah, weil dem Blick nichts andres begegnete als rot, weiß und gold.
Der Diener kam, um die bronzierten Lampetten anzustecken. Fedi stand auf und trat auf Richard zu, der leise und nur mit einer Hand spielte.
– Von wem? fragte er.
– Erard. Ich hab gestern Nacht über eine Stunde oder noch länger auf ihm gespielt. Chopin und Lohengrin. Ich bin in der Nacht immer am besten aufgelegt. Es ist doch was andres, wenn man sein eigener Herr ist im Domizil.
– Ja, bei uns zu Hause sind immer die übrigen Mieter, sagte Fedi.
Dubois führte die Gäste ins Zimmer. Es waren Doktor Bovet, ein junger Graf Tozoli, beide aus Genf und Rat Lorenz, ein Berliner. Nach der Vorstellung folgten einige Augenblicke allgemeinen Stummseins. Richard klappte das Klavier zu. Gerade als Doktor Bovet auf ihn zutreten wollte, um ihn anzureden, ward zu Tisch gerufen.
Das Speisezimmer stieß an den Salon, man gab Doktor Bovet und seinem jungen Freunde den Vortritt, Dubois und Fedi beschlossen den kleinen Zug. Geredet wurde französisch. Fedi war dadurch in einige Verlegenheit gebracht, er hatte gar nicht an diese Möglichkeit gedacht und gleich zu Anfang geschah es, daß sein Nachbar, der Rat Lorenz ihn etwas fragte, ohne daß er ihn recht verstand. Er stapelte eine längere Antwort zusammen, die mit Verwunderung angehört wurde. Rat Lorenz war sehr amüsiert, er strich sich mehrmals den kleinen blonden Spitzbart, beugte sich vor und sagte leise: Ich tue nämlich auch bloß so, und es ist mir sehr unbequem. Aber der Doktor versteht keine drei Worte deutsch.
Richard beherrschte die fremde Sprache völlig, und noch ehe die Suppenteller abgetragen waren, befand er sich in lebhafter Unterhaltung mit dem Grafen, der sich sehr eifrig mit ihm beschäftigte und Richards ganze Aufmerksamkeit für sich allein beanspruchte. Graf Tozoli hatte ein kindliches, lautes Wesen an sich, das Fedi sehr unnatürlich erschien. Aber er erinnerte sich nicht, jemals einen Italiener gesehen zu haben. Vielleicht ist das gar nicht persönlich, dachte er, sondern immer so bei dieser Nation und muß so sein. Er konnte gar nicht müde werden, ihn zu beobachten und erschrak geradezu, wenn Graf Tozoli auflachte und den großen Mund mit den vielen weißen Zähnen öffnete und mit einem überaus starken Akzent auf der ersten Silbe ausrief: Dio mio. Und doch ist er schön, meinte Fedi bei sich nach einem langen Examen und sah auf die schwarzen Haare über der braunen Stirn.
Dubois bemühte sich die Führung der Gespräche an Doktor Bovet zu bringen, und als ihm das gelungen war, ward es stiller an der Tafel. Der Doktor hatte eine leise und eindringliche Art zu reden und sprach mit einem Ernst, der sich sofort Gehör verschaffte. Dabei blickte er immer fast geradeaus und wandte sich mit seinen Worten nur selten an irgend eine Person. Offenbar sicher darin, daß alles auf ihn hinsah, vergewisserte er sich nicht weiter von der Aufmerksamkeit seiner Umgebung, sondern war allein damit beschäftigt, dem, was er sagen wollte, die beste Ordnung zu geben. Es war eine feierliche, anmaßende Art zu reden und zu sein, die Weise eines Menschen, der es gewohnt ist, daß man ihm viel Raum gönnt. Dubois fragte einiges über Napoleon III., den Bovet persönlich kannte und über den er sich nun in längeren Ausführungen verbreitete. Nicht genug rühmen konnte er die weitsichtige Klugheit dieses außerordentlichen Mannes, der das Glück wie mit den stärksten Ketten an sich gefesselt hätte. Er kam auf einen Ausspruch zu reden, den der Kaiser kurz vor dem Tage von Solferino getan hatte, und so fing er an von der Schlacht zu erzählen. Bovet war als Arzt im Feldlager gewesen. Und er erzählte von Tausenden, die elend und in Qualen starben und denen zu helfen gewesen wäre. Nicht genug Ärzte, Verbandplätze, Baracken, Spitäler, kein leicht für den Feind erkennbares Abzeichen.
Bovet mochte finden, daß es bei einer behaglichen Tafel nicht schicklich wäre, lange bei diesen Erinnerungen zu verweilen, er schloß seine Ausführungen und stieß mit Dubois auf den Fortschritt an. Auch jetzt, wie er sich im Geplauder hierher und dorthin wandte, haftete ihm eine gewisse Feierlichkeit an, doch ward sein Wesen geräumiger, und er gefiel sich sogar in kleinen anzüglichen Wortspielen. Er selbst jedoch lachte niemals.
Fedi hatte seine Befangenheit zum größten Teil abgestreift, sich in die ungewohnte Sprache hineingehört und saß da und beobachtete alles. Er erriet, daß in diesen Räumen heute eine besonders gemessene Stimmung herrschte, an der man festhielt aus Rücksicht für einen hervorragenden Mann, der dem Gastgeber ziemlich fremd war. Alle schlugen einen sehr höflichen Ton an, wenn sie das Wort an Doktor Bovet richteten, alle, Rat Lorenz, natürlich auch Richard und Fedi selbst und nur sein junger Freund, der Graf, tat es nicht immer. Im Übrigen herrschte eine ganz besondere Art von Gleichstellung; es wunderte Fedi wie die älteren Herren mit den Jünglingen sprachen – garnicht ein bischen von oben herab oder mit der billigen, unausweichlichen Ironie derer, die schon etwas sind im Leben. Außer Richard kannte er Niemanden von der Gesellschaft, und es waren nicht einmal alle Deutsche. Aber er spürte die Atmosphäre einer Loge und fühlte etwas wie Zugehörigkeit.
Nach Tisch blieben Rat Lorenz und Fedi im Salon, in dem die Anderen nur einige Minuten verweilten, bevor sie ins anstoßende Kaminzimmer hinübergingen. Der Rat lehnte sich bequem zurück, schlug die Beine übereinander, spähte mit seinen blauen Augen behaglich umher und knöpfte sich den Leibrock los. Er strich sich durch den Spitzbart, kramte mit kleinen weißen Händen in einer Zigarrenkiste und sagte: Jetzt kommt die Siesta und der Kaffee. Ich habe eine große Liebe für die französische Sprache, aber eine unglückliche. Hin und wieder macht auch Dubois einen Schnitzer. Aber Ihr Freund, der Baron Löwenwolde spricht fein. Die Sprache der grande nation greift meine Kehle an, sogar wenn ich stillschweige und zuhöre. Ich bin ganz heiser geworden, allein vom Aufpassen.
Er hustete etwas.
– Wer ist es eigentlich? fragte Fedi.
– So? Das wissen Sie garnicht. Das werde ich Ihnen gleich erzählen. Der Doktor Bovet ist sozusagen ein Philanthrop. Und außerdem ein Mensch mit einer kolossalen Energie. Er will, daß in Kriegszeiten mehr für die Verwundeten geschieht und setzt Himmel und Hölle für seine Pläne in Bewegung. Wahrscheinlich wird er in den nächsten Tagen vom Könige empfangen werden, in längerer Audienz; er will ihm einen großartigen Vortrag halten. Verstehen Sie, er strebt so einen allgemeinen Zusammenschluß an, so was Internationales. Sämtliche europäische Regierungen sollen sich verbinden und sich gegenseitig Garantie geben auf Neutralität der Lazarette sogar in nächster Nähe vom Schlachtfeld. Napoleon hat er für seine Idee gewonnen. Nun ja, ein Organisationstalent. Und der Graf Tozoli ist so was wie sein Sekretär. Wie gefällt er Ihnen? Der Graf natürlich.
Fedi war um eine Antwort verlegen und blickte zur Seite ins Kaminzimmer und suchte Tozoli mit den Augen. Doch von seinem Platz aus konnte er nur Richard sehen, der mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen irgend Jemandem zuhörte. Wer von ihnen spricht denn jetzt mit ihm? fragte sich Fedi.
– Wunderbare Augen, nicht wahr? Diese Italiener haben doch schon gleich so was Famoses, meinte der Rat. Er dämpfte seine Stimme. – Ich weiß nicht, ob sie schon lange zusammen sind, die beiden, aber es macht entschieden den Eindruck, ganz entschieden. Ich will meine Quelle nicht nennen, aber jemand, der es ganz genau wissen kann, hat mir versichert –
Er brach ab, Dubois war auf sie zugetreten. Er erkundigte sich, ob seine Gäste wohl versorgt wären mit Kaffee, Likör, Rauchwerk und setzte sich. Er wollte allerlei über baltische Zustände wissen und Fedi erzählte.
Nach wenigen Minuten kam der Diener und gab dem Hausherrn ein stummes Zeichen. Etwas verwundert und sehr schnell erhob sich Dubois und folgte ihm. Er schloß die Tür hinter sich. Nach einer kleinen Weile öffnete sie sich wieder und Dubois rief aus dem Garderobezimmer mit halblauter Stimme: Lorenz, einen Augenblick.
Doch der Rat konnte sich nicht dazu entschließen, aufzustehen. Er hatte sich zurückgelehnt, hielt die Zigarre in der rechten Hand, die Kaffeetasse in der linken, und war dabei, von Tozoli zu erzählen.
– Was gibt es denn? fragte er ungeduldig.
Die Tür hatte sich wieder geschlossen. Plötzlich tat sie sich auf und es erschien ein Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, der sehr adrett gekleidet war und sogleich einen schnellen Bückling machte, von dem man nicht wissen konnte, wem er galt. Er kam rasch näher.
– Du bist es! rief Lorenz erfreut, gleichwohl aber etwas geringschätzig. Der Ankömmling begrüßte zuerst Fedi. Wie einem alten erprobten Freunde drückte er ihm tapfer und fest die Hand, vergaß jedoch seinen Namen zu nennen.
– Es ist Fritz Krah, mein Sorgenkind, erklärte Lorenz und betrachtete ihn aufmerksam und sorgfältig von Kopf bis zu Fuß. Dann fragte er: Nun sag doch mal, wo kommst Du denn her? Was fällt Dir denn ein? Du solltest doch erst am Abend kommen. Wir haben ja noch nicht fünf Uhr.
– Ich muß was besprechen mit Euch, sagte Krah. Nachher lauf ich gleich wieder weg und davon.
Dubois kam aus dem Garderobezimmer. Er überzeugte sich mit einem Blick davon, daß die Herren in der Nebenstube seiner im Augenblick nicht bedurften und sich lebhaft unterhielten und trat dann sehr schnell auf Lorenz zu. Er sprach dringlich und leise: Hör mal, wir müssen einen kleinen Rat halten. Da ist etwas sehr Dummes passiert mit dem Friesendorf, dem Schafskopf. Weißt Du von ihm?
– Ich erinnere mich. Es ist ein Photograph.
– Aber nein, er ist Zahnarzt. Man hat ihn auf die Polizei geladen, zweimal, das zweite Mal ist er nicht gekommen.
Ein wenig erschrocken stellte Lorenz die Kaffeetasse, die er noch immer in der Hand gehalten hatte, vor sich auf den Tisch. – Fangen sie also doch wieder an, sagte er ärgerlich und schlug sich auf die Knie. Fast ein halbes Jahr hatte ich von keinen Kollisionen gehört.
– Und jetzt ist Haftbefehl ergangen, erzählte Fritz Krah. Verstehe nicht, wie es möglich ist, daß Ihr noch nichts wißt, es stand ja in den Zeitungen. Ich war natürlich gleich gestern abend da, kenne ihn ja ganz gut. Er weinte fürchterlich, drehte sich immerfort in die Runde und wollte natürlich nach Hannover ins Ausland abreisen und auf dem Molkenmarkt hat er sich bloß blamiert, anstatt grob zu werden. Im Augenblick hat er sich versteckt, ich weiß nicht, wo.
Es erfolgte ein kurzes Schweigen. Fedi betrachtete Herrn Krah. Er war nicht groß, von guter Gestalt, und hielt sich stramm aufrecht. Seinem derben Gesicht haftete ein einfacher, freundlicher Ausdruck an, namentlich wenn er den Mund schloß. Seine Augen und das Offene in seinem Wesen nahmen für ihn ein.
– Ich meinesteils zweifle nicht im Geringsten daran, daß sie Haussuchung machen werden, sagte Dubois.
– Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen? fragte der Rat verdrießlich.
Dubois brauste auf. – Er ist ein Idiot, dieser Friesendorf. Ein kompletter Cretin. Immer dieselbe Dummheit. Er schenkt einem Friseurlehrling eine goldene Uhr. Irgendwo am andern Ende der Stadt oder in Potsdam werden welche gestohlen. Dem Barbierherrn fällt es auf. Man treibt den Jungen in die Enge, und gleich in der ersten Aufregung erzählt er, daß sie ihm geschenkt ist und wer sie ihm geschenkt hat. Voilà tout.
Rat Lorenz steckte sich eine neue Zigarre in den Mund und meinte: Was können wir dabei tun. Abwarten und Kaffeetrinken.
– Aber Krah weiß ja, daß er verduftet ist, ohne das Geringste mitzunehmen oder zu vernichten, widersprach Dubois sehr lebhaft. – Du mußt wissen, was das für ein Mensch war. Ich kenne seine Wohnung aus der Zeit, als ich solche Bekanntschaften mehr kultivierte. Friesendorf hatte eine wahre Sammelwut. Alles was ihn und andere Leute kompromittieren konnte, speicherte er sorgfältig in seinen Schränken auf, Stammbücher, Locken, Briefe, Andenken. Denke an den Prozeß Malzan. Einem wollten sie an den Kragen und nach der Haussuchung wurden rund fünfundachtzig verhaftet.
– Das ist aber auch schon sehr lange her, sagte Lorenz. Allerdings weiß man ja nie so ganz genau, was für ein Wind in den höheren Regionen weht.
Dubois schwieg einen Augenblick, dann sagte er langsam, die Anrede betonend: Du kennst Dinkelbühl.
Lorenz sprang auf und tat ein paar Schritte. – Auf keinen Fall gehe ich zum Polizeidirektor. Er verheimlicht sich vollständig und sehr streng. Niemand ist wirklich sicher über ihn. Niemandem hat er sich decouvriert. Ich würde ja riskieren, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Nee, Dubois, das geht nicht! Ich klopfe ihm lächelnd auf die Schulter, und er packt mich ebenfalls lächelnd am Kragen. Nettes Rencontre! Außerdem ist er ein sehr zugeknöpfter Mensch, ich unterhalte auch gar keine näheren Beziehungen zu ihm, habe ihn sogar mehrmals im Gespräch heftig geärgert. Dumm sieht er aus und hat eine blaue Nase. Bloß eine Stammtisch-Bekanntschaft.
– Aber wir müssen irgend etwas tun – entschuldige!
– Aber Du brauchst Dich garnicht zu entschuldigen, sagte Lorenz, offenbar gereizt darüber, daß man ihn drängte. – Ich befinde mich ja genau in derselben Situation wie Du.
Dubois wandte sich mit aufgeregter Vertraulichkeit an Fedi. – Sie müssen wissen, so etwas schiebt sich nämlich wie eine Lawine. Die Beziehungen können verfolgt werden auf Jahre zurück. Wenn eine größere Menge einvernommen wird, so ist gar nicht mehr zu berechnen, was alles zur Sprache kommt. Es ist wie ein Stein, der ins Wasser klatscht, und nun ist auf einmal ein Ring auf dem Spiegel und weitet sich und umfaßt immer mehr und schließt überall.
– Es wird wieder keine andere Möglichkeit geben, sagte Lorenz plötzlich.
Dubois sah ihn rasch an. – Es ist das Beste, rief er schnell. – Ich dachte auch gleich daran. Es kann ja sein, daß wir uns unnütz beunruhigen. Aber in dieser Lage des Lebens ist es stets mein Prinzip gewesen, alles, was möglich ist, zu tun, um sich zu decken. Es darf nichts versäumt werden. Wenn er die Sache in die Hand nimmt, dann ist sie tot. Das ist sicher. Außerdem helfen wir auch dem Friesendorf. Aber ich kann nicht gut fort im Augenblick.
Fedi erriet, daß sie über Jemanden sprachen, der eingeweiht war, aber dessen Namen man gleichwohl in seiner und Herrn Krahs Gegenwart nicht nennen wollte. In der Tat machte Fritz Krah ein überaus neugieriges, erwartungsvolles Gesicht, verhielt sich mäuschenstill und lauschte mit großen braunen Augen. Zu fragen wagte er offenbar nicht. Doch kein Name fiel.
– Ich muß für alle Fälle orientiert sein, sagte Lorenz. Wie heißt er mit Vornamen? Johann? Gut. Und Photograph?
– Nein doch, rief Dubois ungeduldig. Warum soll er denn Photograph sein? Zahnarzt! Ich sagte es doch schon zehnmal.
– Gut. Also doch Zahnarzt. Wo geboren? Wie alt? –
Herr Krah dachte nach. – Sagen wir fünfzig Jahre. Aber ich habe keinen Schimmer, wo der Mensch geboren ist. Warum nicht in Berlin?
Rat Lorenz setzte sich an den Schreibtisch. Er suchte nach Papier und erzählte, daß er unter diesen Umständen eine Visite bei der Baronin Budberg absagen müsse, noch im letzten Moment, was sehr fatal wäre. Er bat Fritz, den Brief sogleich hinzutragen.
– Unmöglich! rief er. – Ich bin zur Gräfin Bernsdorff bestellt. Es ist ein größerer Auftrag, und ich muß gleich hin, solche Kundschaften darf man nicht verlieren. Erst das Geschäft und dann das Pläsier. Er lachte, weil er bemerkte, daß die Redensart nicht paßte, und eilte ins Garderobezimmer.
– Das ist mir sehr unangenehm, sagte Lorenz und setzte die Feder ärgerlich ab.
Fedi erbot sich. Die beiden Herren sahen sich etwas überrascht an. Aber er stellte ihnen seine Dienste so einfach und schnell bereit zur Verfügung und wie etwas im Augenblick so Selbstverständliches, daß sie nicht einmal anfänglich aus Höflichkeit widersprachen.
– Sehr freundlich von Ihnen, sagte Dubois. – Sie sehen, es herrscht ein kleiner Kriegszustand, der uns entschuldigt. Er hatte seine Unruhe, wenigstens äußerlich, abgestreift und sprach wieder, wie es sonst seine Art war, gemessen und langsam. Er empfahl sich und ging zu den anderen Gästen ins Kaminzimmer. Lorenz schrieb seinen Brief zu Ende, reichte ihn Fedi und bat, das Geld für die Droschke einstweilen auszulegen. Ihr Aufbruch sollte der übrigen Gesellschaft nicht auffallen, und sie gingen leise einer nach dem andern aus der Tür. Lorenz warf sich rasch seinen Pelz um, dann blieb er stehen, rührte sich nicht und sah etwas gedankenlos zu, wie Fedi sich ankleidete. Plötzlich ungeduldig werdend, setzte er sich mit einem Ruck und etwas schief den Castorhut auf, rief: Allons! und eilte dem Ausgang zu. Fedi folgte ihm. Der Garten war von drei Laternen etwas spärlich beleuchtet, doch lief in ihrem Schein ein gerader Weg vom Hause bis zur Zauntür.
Sie fanden jeder einen Wagen und fuhren ab. Fedi lehnte sich zurück und fröstelte vor Kälte und vor Erregung. Fortwährend drückte er seine Hand an die Brust, um gewiß darüber zu sein, daß der Brief noch in der Tasche war. Dann fiel ihm ein, daß dieser Brief ja nichts anders enthielt als ein paar gleichgültige Entschuldigungen, daß der Auftrag, den man ihm gegeben hatte, überhaupt ganz unwichtig war und von seiner Ausführung garnichts abhing. Er fing zu rauchen an, sah aus dem Fenster und dachte darüber nach, in welcher Weise Dubois wohl den anderen Gästen die Abwesenheit Fedis und des Rats erklären würde. War es peinlich, die Wahrheit zu erzählen? Wenn Bovet und Graf Tozoli auch in Berlin leben würden, dann wäre wahrscheinlich nichts weiter dabei: Darauf also schien es anzukommen.
Aber warum ist mir denn gestern nichts aufgefallen? fragte er sich überrascht. Er ließ vor einem Kaffeehause halten, sprang sehr entschlossen aus dem Wagen, trat ein und verlangte die Tribüne vom gestrigen Abend.
Sie war noch da, wurde ihm gebracht, und er las die Notiz über Friesendorf. Mit der Nase fällt man darauf, und man sieht es nicht, dachte er, trank rasch seine Limonade aus und bezahlte.
Es dauerte über eine Stunde, bis er den Auftrag ausgeführt hatte und von der Fahrt wieder zurück war. Er ging rasch durch den halbdunkeln Garten, die Hunde im Zwinger hatten die Pforte öffnen hören und schlugen an. Im Garderobezimmer befand sich Niemand, doch während Fedi ablegte, traf Herr Krah ein. Er hauchte in seine kalten Hände und meinte, daß er froh wäre, mit seinen Kommissionen fertig zu sein. Sie gingen zusammen in den Salon. – Aber wo sind denn die Herren? fragte Fedi und spähte ins erleuchtete Kaminzimmer, in dem es ganz still war.
– Wahrscheinlich oben. Sie werden schon kommen.
Fedi erinnerte sich einer Redewendung, von der man in den Ostseeprovinzen behauptete, daß sie in Sachsen und in Preußen gebräuchlich wäre und sagte: Ich bitte um die Titulatur. Herr Krah sah ihn höchst betroffen mit seinen braunen Augen an und machte den Mund etwas auf. Dann lachte er, zupfte sich an der Nase und rief: Ja, wissen Sie das denn nicht! Ich bin ein Schneiderbock.
Fedi wurde verlegen, merkte es und errötete nun ganz und gar und verlor die Fassung. Aber Herr Krah schien durchaus nicht beleidigt zu sein, wie Fedi befürchtet hatte. – Ich verstehe nicht, warum Sie das so wundert, sagte er nur.
– Mich? Aber warum soll es mich wundern? Nein, ich dachte bloß –
– Sie kennen das alles wohl noch nicht so recht, meinte Krah.
Und er schlug einen belehrenden Ton an: Sehen Sie mal, zu was hab ich nötig mit Leuten, wie der Dubois und der Lorenz sind, auf der Straße herumzulaufen? Sagen Sie mal?
Fedi versuchte das Gesicht zu machen, das Krah im Augenblick wahrscheinlich sehen wollte.
– Also. Im Hause natürlich, wenn man unter sich ist, das ist was anders. Aber sonst heißt's: Konzessionen, und gegrüßt wird einfach nicht. Seit wann kennen Sie Dubois und Lorenz?
– Erst heute – –
– So. Lorenz hat mir so allerlei Bildung beigebracht. Anfangs ging es mit der Schneiderei nicht vorwärts, und ich war faul. So, aus Bequemlichkeit. Aber mit der Zeit hab ich die Sache gelernt und hab jetzt meine feste Kundschaft. Zuweilen nur, wenn es ganz besonders darauf ankommt, dann hilft mir Lorenz. Er ist nämlich großartig fürs Zuschneiden und versteht es sogar, Neues zu erfinden.
– Wer? Rat Lorenz?
– Na ja doch! rief Krah. Dann sagte er etwas ärgerlich: Hören Sie mal, Sie sind wohl noch nicht lange in Berlin? Sie wundern sich ja über alles und sind wie mit einem Ruck hier hereingeschneit.
Dubois kam aus dem Speisezimmer, trat auf Fedi zu und dankte ihm für die Besorgung des Briefes. – Die anderen Herren ließen sich nicht halten und sind ausgeflogen, erzählte er. Auch Ihr Freund Richard. Ich glaube, sie wollten ins Friedrich Wilhelmstädtische Theater, um Jean piccolo und Jean petit zu sehen.
– Die werden sich nachher aber einen guten Abend machen! rief Krah. – Hopla! Der junge Graf soll ja die Ressourcen von Berlin schon an allen Ecken und Enden heraus haben.
– Aber ich bitte Dich! Doktor Bovet ist doch nicht in Berlin, um Abenteuer zu suchen. Quelle idée!
– Na ja, aber Tozoli. Den Doktor wimmeln sie einfach ab und dann – – –
Doch Dubois fand diese Bemerkungen offenbar ganz naseweis und ungehörig und schnitt Herrn Krah mit einer ärgerlichen Geste das Wort ab. Dann wandte er sich an Fedi: Ich hoffe, Sie bleiben noch ein wenig. Sie wollen doch nicht gar auch ins Theater?
Fedi dankte und sagte, er hätte es nicht eilig. Er war sehr enttäuscht darüber, daß er Richard nicht mehr antraf. Aber auf keinen Fall wollte er ihm so gewissermaßen nachlaufen.
Man erwartete Lorenz von Minute zu Minute, doch niemand sah nach der Uhr. Dubois unterhielt sich ungezwungen und heiter und verriet keine Unruhe. Es schien Fedi, daß er es nachträglich bedauerte, bei der Angelegenheit Friesendorfs eine Ängstlichkeit bekundet zu haben, die bei seinem dezenten, ausgeglichenen Wesen etwas unvornehm ausgesehen hatte. Während einer kurzen Pause im Gespräch holte Krah ein dickes Buch aus dem Kaminzimmer und setzte sich damit vertraulich und freundlich und ohne ein Wort zu sprechen zu Fedi aufs Sopha. Es war das magasin pittoresque, und sie begannen zusammen die Bilder zu besehen. Als sie den Band durchblättert hatten, erhob sich Fritz Krah, trug ihn wieder ins Kaminzimmer, kehrte gleich darauf mit einem polierten Kästchen in der Hand zurück und nahm wiederum seinen Platz neben Fedi ein. Er schlug den Deckel zurück und schüttete alles aus. Es war eine Sammlung altmodischer Visitenkarten, die auf das Prächtigste mit Guirlanden, Amoretten, Blümchen und sinnigen Versen bedruckt waren. Eifrig gab er Fedi Stück für Stück in die Hand. Und Fedi freute sich über diese einfache Art, gefällig zu sein, ebenso wie über die hübschen Karten und betrachtete ein jedes von den zierlichen Blättchen aufmerksam und mit großem Interesse und legte es dann auf ein Häufchen zur Seite. Dubois ging auf und ab und verweilte bisweilen neben ihnen und sah seinen jungen Gästen über die Schulter.
Endlich hörte man Jemanden ins Garderobezimmer eintreten. Fedi und Krah wandten die Köpfe, Dubois blieb nahe an der Tür stehen und wartete. Lorenz kam ganz langsam und hauchte sich in die kalten Hände, genau in der Art, wie es Krah vorhin getan hatte. Dann sagte er, hinein in das allgemeine Schweigen und den Blick auf den Boden heftend: Die Geschichte war schon aus.
– Erschossen? fragte Dubois und tat einen Schritt nach rückwärts.
– Ja. Bevor ich den Betreffenden, an den wir dachten, aufsuchen wollte, ging ich an den Stammtisch zu Habel, weil ich hoffte, den Polizeidirektor dort zu finden. Ich wollte ihn ganz vorsichtig aushorchen. Er war auch dort. Die allgemeine Konversation drehte sich bereits darum. Von einer Haussuchung ist natürlich nicht mehr die Rede. In den Zeitungen wird kein Wort stehen. Das heißt, vielleicht irgend etwas von Irrsinn. Das ist ja neuerdings Mode geworden.
– Schimpfte man?
– Nein, nicht viel. Nur die üblichen Zoten. Da ich schon einmal da war, mußte ich natürlich ein Stündchen in der Gesellschaft verweilen. Es wäre vielleicht aufgefallen, wenn ich nicht wenigstens eine halbe Bouteille getrunken hätte.
– Aber wann denn? fragte Krah.
– Am Vormittag, ungefähr um elf Uhr. Im Tiergarten. Aus Äußerungen des Polizeidirektors entnahm ich, daß man seine Schwester und seinen Schwager avisiert hat. Vermutlich sind sie schon angekommen aus Potsdam. Es wird also für alles gesorgt werden, Du brauchst nicht hin.
Man fragte noch einiges, dann wurden die kleinen Pausen immer länger. Aber niemand wollte von anderen Dingen zu reden anfangen, und so ward es ganz still.
Fritz unterbrach das Schweigen. – Spielen Sie Whist, Herr von Fedi? Oder L'ombre?
»Herr Bertran« korrigierte Dubois und ohne »von«.
– Na ja, wie soll ich denn das wissen! Balten sind doch so oft adlig.
Nein, Fedi verstand nicht, Karten zu spielen.
– Aber Sie müssen es doch lernen. Zuerst sehen Sie zu und nachher spielen Sie mit.
Krah stand auf, um den Kartentisch zu holen. Dubois wandte sich zu Fedi: Was meinen Sie, wollen wir dem Jungen zu Gefallen sein? Er läßt einen sonst absolut nicht in Ruhe. Es ist nämlich im Lauf der Jahre ganz traditionell geworden, daß Lorenz, er und ich einmal oder zweimal im Monat eine Tour Whist machen. Er läßt sich sein Recht nicht nehmen. Wenn wir unserer Pflicht Genüge getan haben, essen wir noch einen kalten Bissen.
Fedi war ganz einverstanden und zufrieden, daß er auf diese Weise nicht allein blieb über den Abend.
– Es ist unnütz, daß man den Bengel so verwöhnt, meinte Rat Lorenz. Aber er setzte sich gleichwohl an den Tisch, den Fritz schon aufgeschlagen hatte und zählte die Karten durch.
– Übrigens werde ich Ihnen etwas zu lesen holen, etwas, was Ihnen jedenfalls gefallen wird, sagte Dubois. – Auf die Dauer wird Sie das Zusehen vielleicht langweilen. Er ging aus dem Zimmer und kam nach einigen Minuten mit einem Buch zurück, das in helles Leder gebunden war. Es waren die Begebenheiten des Enkolp, von Heinse verdeutscht.
Die Herren vertieften sich in ihr Spiel. Fedi setzte sich zum Strohmann, näherte das Buch der freundlich summenden Lampe und begann zu lesen. Nach einer Weile unterbrach er seine Lektüre und starrte mitten auf den Tisch, auf eine Treff-Zehn, die da lag. Ob er nicht doch noch ging, um Richard zu suchen. Aber nun hatte er schon zugesagt, hierzubleiben, es wäre doch peinlich. Warum hatte Krah eigentlich gemeint, daß Tozoli und Richard sich Bovets entledigen würden? Fedi fragte sich das ärgerlich. Vielleicht hatte Richard es für ganz selbstverständlich gehalten, daß ich ihm folgen würde, dorthin ins Theater. Nun, es war zu spät.
Es war alles so unbegreiflich schnell anders geworden. Wie mußte es denn nun werden zwischen ihm und Richard? Alles war neu und unfaßlich. Fremde wußten davon und sprachen darüber. Nur für sich waren sie gewesen, und sogar untereinander hatten sie geschwiegen.
Fedi litt, aber er vergaß seine Qual wieder, weil er an so vieles denken mußte. Der verstorbene Friesendorf fiel ihm ein und die goldene Zylinderuhr. Und dann betrachtete er Lorenz, der ein Auge zukniff und mit dem andern in seine Karten guckte und fing an darüber nachzusinnen, wen Lorenz hatte aufsuchen wollen? Wer konnte es sein? Ein Minister? Einer von den Prinzen? Doch alle Gedanken kehrten plötzlich wieder zum alten Roman zurück, den er in der Hand hielt und der ihm sehr gefiel.
Und während Fritz Krah vom Strohmann aus seelenvergnügt sieben Trümpfe abzog, las Fedi weiter in der anmutigen Geschichte, die von einem schönen Knaben handelt, dem sein Erzieher ein Paar weißer Täubchen bescheert.