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Zehntes Kapitel

Als Dubois am nächsten Morgen erwachte, richtete er sich hastig auf, stützte sich in die Ellbogen und blickte hinüber zur Kaminuhr. Gerade begann sie zu schlagen.

Es war noch früh, erst sieben, und er ließ sich wieder zurückfallen in die Kissen. Nach einer Weile wandte er sich und schaute zur Seite, ins Zimmer hinein. In der Nähe eines Sessels, auf dem Boden, lagen Rock und Weste. Er erhob sich sofort, um die Sachen aufzuheben. Er wußte nicht, wie sie dahin kamen und erinnerte sich nicht recht an die letzten Minuten vor dem Zubettgehen.

Er trat ans Fenster, öffnete und sah hinaus auf den Garten. Der Regen strich nieder, man hörte ihn gleichmäßig und leise in den Blättern. Dubois fröstelte in der naßkühlen Luft, die hineinschlug, und eilte ins Bett zurück. Er ergriff das breite, mit Glasperlen verzierte Band des Glockenzuges und läutete zweimal. Nach zehn Minuten erschien Friedrich und trug die heiße Schokolade ans Lager. Erstaunt fragte er, ob der Herr aufstehen würde, aber Dubois vergaß ihm zu antworten.

Als Friedrich gegangen war, tat er einige Züge aus dem dünnen Porzellantäßchen, erhob sich hierauf und schloß das Fenster. Dann begann er, ohne sich angekleidet zu haben, rasch in der Stube auf und ab zu schreiten.

Nach geraumer Weile war er entschlossen und blickte aufmerksam auf das Zifferblatt der Kaminuhr, in Gedanken berechnend, ob die Zeit für alle Fälle ausreichen würde. Als er sich davon überzeugt hatte, ward er plötzlich sehr ruhig in seinen Bewegungen und fing an, sich langsam und sorgfältig zu waschen und anzukleiden.

Es war neun Uhr, als er das Haus verließ. Er fand sogleich eine Droschke, stieg ein und gelangte ungefähr nach einer halben Stunde an sein Ziel. Der Wagen hielt vor einem großen vierstöckigen Gebäude; Dubois lohnte den Kutscher nach kurzer Überlegung ab und eilte durchs Portal und dann die Treppen hinauf. In der zweiten Etage klingelte er. Er traf den alten Bankier Schwartze, mit dem er recht gut bekannt war, schon beim Kaffeetisch, vertieft in die Morgenblätter. Dubois entschuldigte sich der ungewöhnlichen Stunde wegen und brachte sein Anliegen vor.

– Es ist Sonntag, sagte er, es tut mir wirklich sehr leid, daß ich Sie inkommodieren muß.

– Dreitausend Taler, wiederholte Herr Schwartze, faltete behutsam die Zeitungen und schob sie ineinander. Achtzehnhundert hätte ich gerade da, man hat mir gestern abend noch eine Zahlung ins Haus gemacht.

– Das wird leider nicht genügen.

– Dann setzen wir uns ganz einfach in eine Droschke, ich hole meinen Kassierer ab und wir lassen uns das Kontor öffnen.

Doch Dubois war plötzlich anderen Sinns. Mit Lebhaftigkeit, rief er: Lassen Sie nur! Mir fällt ein, achtzehnhundert sind ganz genug. Ich reiche damit.

Der alte Herr war etwas betroffen und blickte rasch auf. – Ja, wie es Ihnen recht ist, sagte er. Nur bitte ich sehr, meinetwegen keine besonderen Rücksichten zu nehmen, ich stehe Ihnen ganz zu Diensten.

Dubois hielt es für angemessen, nicht sogleich wieder zu gehen, Herr Schwartze nötigte ihn zu einer Tasse Kaffee und sie verplauderten einige Minuten. Dann erhob er sich, steckte das Kuvert mit dem Gelde ein und verabschiedete sich.

– Noch einen Augenblick, rief Herr Schwartze und folgte ins Garderobezimmer. Sie haben mir eigentlich gar keinen Auftrag gegeben. Was verkaufe ich denn für Sie? Vielleicht Seehandlungssocietät? Ich denke, das wäre am besten.

Dubois stimmte zu und entschuldigte seine Zerstreutheit.

Gewiß bildet er sich ein, daß ich gespielt habe, dachte er, die Treppe hinabsteigend. Gar so sehr auffällig ist es ja vielleicht nicht. Immerhin wird er sich seine Gedanken machen, daran ist nichts zu ändern. Das ist unvermeidlich.

Er hatte die Absicht gehabt, ganz langsam zu gehen, doch allmählich immer weniger auf seine Schritte geachtet. So gelangte er viel zu früh ans Ziel, schon um zehn Uhr, und er verließ die Konditorei nach einigen Minuten wieder, um noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Als er wieder vor der Tür stand, fehlte noch immer ein gutes Stück an der festgesetzten Stunde. Drinnen in der Konditorei wollte er nicht auf ihn warten, so blieb er auf der Straße und schritt auf und ab.

Richard kam, bemerkte ihn jedoch nicht und trat sogleich ein. Dubois folgte ihm, sie begrüßten sich, nahmen Platz und jeder bestellte ein Glas Rotwein.

Sogleich zog Dubois das Kuvert aus der Tasche, legte es vor Richard hin und sagte: Es sind nur achtzehnhundert, in den nächsten Tagen – –

Richard dankte und wollte ihn unterbrechen, doch Dubois ließ ihn nicht dazu kommen. Rasch hob er die Hände, wehrte ab und rief: Nein, nein, Du sollst schon alles haben, ich sende es Dir nach, schon in den nächsten Tagen.

Dann fragte er schnell: Sage mir, wann willst Du denn abreisen?

– Vielleicht mit dem Nachtzuge.

– Nun, und zu Hause? Du willst arbeiten, fleißig sein?

– Ich denke, daß ich nur wenige Wochen zu Hause bleiben werde. Dann nach Petersburg, aufs Konservatorium.

Dubois tat, als wäre er sehr angenehm überrascht. – So, so, das also! rief er. Darum also handelt es sich, Du hattest mir ja noch gar nicht davon gesprochen. Natürlich mußt Du jetzt vor allem daran denken, mit Deiner Ausbildung fertig zu werden. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Nach Petersburg also? Das ist ja natürlich etwas ganz anderes.

Er schwieg und senkte den Blick. Er hatte gehofft, daß Richard sich der Gelegenheit bedienen und ihm in die Worte fallen würde mit einem Versuch sich zu entschuldigen, zu motivieren. Doch es ereignete sich nichts, was den Charakter der Situation hätte abschwächen können. Richard sah weg über das Kuvert, das noch immer auf dem Tisch lag, und gab sich den Anschein, als beobachte er sehr eifrig ein paar jüngere Herren, die sich laut und mit Hutschwenken begrüßten.

Dubois erhob sich eilig und reichte ihm die Hand. – Du mußt mich entschuldigen, ich habe gerade heute eine Unmenge Kommissionen. Die Welt ist klein, man sieht sich wohl einmal wieder. Glückliche Reise.

Er entfernte sich langsam. Mit einer gewissen Verlegenheit und vielleicht doch noch irgend etwas erwartend, drehte er sich plötzlich um. Aber Richard sah ihm nicht nach.

– Ecrivez – rief Dubois ihm zu und ging rasch zur Tür hinaus.

Er verlangsamte seine Schritte immer mehr, blieb dann endlich stehen, wandte sich und sah zurück. Und ganz plötzlich verlor er jede Fassung, das Blut schlug ihm in die Wangen, er riß seine Hände aus den Taschen und gestikulierte mit ihnen. Der Zorn über die erlittene Kränkung schüttelte seinen Körper und seine zuckenden Lippen sprachen hastig und leise in die Luft.

Er erschrak auf das Äußerste über den Zustand, in dem er sich befand, dazu noch mitten auf der Straße. Er mäßigte sich sofort und hielt ängstlich Umschau nach allen Seiten. Doch Niemand war stehen geblieben, um ihn zu beobachten, die Leute ringsum eilten geschäftig ihrer Wege, unbekümmert um ihn.

Er ging zu Fuß nach Hause. Er brauchte fast eine ganze Stunde dazu und fühlte sich sehr ermattet, als er eintrat. Friedrich erwartete ihn schon mit dem Mittagessen und Dubois setzte sich zu Tisch. Doch speiste er nur wenig, er war noch nicht zu Atem gekommen nach dem weiten Gange und sogleich, nachdem er ein Stückchen Braten gegessen hatte, erhob er sich und ließ die Früchte unberührt stehen. Er begab sich hierauf in sein Arbeitszimmer, um einen Brief zu schreiben. Doch das unterblieb; statt dessen trat er vor den Eckschrank, öffnete die oberste Schublade mit einem kleinen Schlüssel, zog sie hervor und trug sie zum Divan. Sie enthielt Erinnerungen, Tagebücher.

Gleich zuerst kam ihm heute das Bildnis eines jungen Freundes in die Hände, ein kleines Gemälde auf Glas. Es war ein weiches Gesicht, graziös, umrahmt von glatten, braunen Haaren, die über die Wangen fielen. Die Augen trafen den Beschauer mit einem Ausdruck, der nicht ganz ein Lächeln war. Links in der Ecke stand der Name. Und Dubois gedachte der bösen Geschichte, die sich damals in München abgespielt hatte. Ihr Ende war gewesen, daß sich Joachim von Detroit erschoß, weil ihm irgend Jemand auf keinen Fall Satisfaktion geben wollte.

Er suchte nicht nach etwas Bestimmtem, nur eine Laune trieb ihn an, unter diesen halbvergessenen Dingen Umschau zu halten. Er tat alles aus der Schublade und breitete sie auf den Divan hin, Briefe, Silhouetten, Taschenkalender, Daguerrotypen. Ein Berlock fiel ihm in die Hände, ein wertvoller Stein, länglich, unregelmäßig in der Form. In früheren Jahren hatte ihn Dubois häufig an der Uhrkette getragen. Es war ein Geschenk seines Vetters Kreutzberg, der den sehr matten Türkis in Rom gekauft hatte. Seine Rückflächen und die Ränder waren mit Gold umlegt und auf diesem umschließenden Schildchen stand mit winzigen Buchstaben eingraviert: s. p. a. In nicht ungemischter Gesellschaft ließ sich das sehr bequem übersetzen: sempre più allegro. Und nur die Eingeweihten wußten, daß s. p. a. eigentlich bedeutete: Semper pueros amabo.

Er stieß auf ein Päckchen Briefe. Sie waren von Lorenz. Der heiratete nun, und damit würde diese langjährige Kameradschaft jedenfalls erkühlen. Und Dubois erhob sich plötzlich, eilte ans Fenster, sah rasch hinaus, wandte sich dann und preßte die kleinen beringten Hände an sein Antlitz. Er riß sie wieder herab und blickte in die Stube hinein im Gefühl der Verlassenheit.

Waren sie denn nun fertig mit einander? War wirklich alles aus zwischen ihnen nach dieser letzten Stunde?

Dort hatte Richard gestanden im Zimmer, dort ausgeruht und wie oft sich neben die Statue des jugendlichen Satyrs gestellt, die Pose nachahmend.

Doch nur sekundenlang beherrschte ihn das Gefühl einer Wehmut. Dann kamen sie wieder, Bitterkeit und Scham, und er errötete.

Er eilte zum Divan und warf alles zurück in die Schublade, die er dann zum Schrank trug und rasch hineinstieß. Er verließ die Stube, zog im Garderobezimmer seinen Mantel an und ging durch den Garten auf die Straße.

Es fing gerade zu regnen an und die Luft atmete sich lau und staubig. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, ganz unschlüssig und ohne Ziel. Da fiel ihm ein, daß sein Vetter Kreutzberg wahrscheinlich in diesen Tagen aus Italien eintreffen würde, er rief einen Kutscher an und fuhr in die Karlstraße. Der französische Diener öffnete ihm die Tür und sagte, daß er den Herrn erst übermorgen erwarte. Übrigens wäre mir kein Wort über die Lippen gekommen, dachte Dubois, als er die Treppen hinunterstieg. Lebenslang werde ich darüber schweigen.

Doch verstimmte es ihn, daß er seinen Vetter nicht antraf, denn jedenfalls hätte er wegen der Sache mit Ziegler Rücksprache nehmen können. Kreutzberg wußte immer guten Rat, und war man so ganz auf sich angewiesen, so übersah man vielleicht irgend einen sehr wichtigen Punkt. Wenn nur herauszubringen wäre, wie der Professor handeln würde und ob er schon irgend etwas gegen Richard unternommen hätte.

Dubois stand neben der Droschke und wußte nicht, ob er ablohnen sollte oder weiterfahren. Er wollte nach der Zeit sehen, entdeckte jedoch, daß er seine Uhr vergessen hatte. Er wunderte sich darüber und dachte daran, nach Hause zurückzufahren, um sie zu holen. Doch entschied er sich anders, stieg wieder in den Wagen und gab dem Kutscher die Adresse seines Vaters an. Er erreichte das Haus in der Einhornstraße ungefähr um 5 Uhr nachmittags und ging langsam die Treppen hinauf. Fast an jedem Sonntage pflegte er seinen Vater um diese Stunde aufzusuchen.

Er betrat das Kaminzimmer und fand ihn dort im Gespräch mit dem Bankier Schwartze. Obgleich Dubois den Verwalter seines Vermögens für diskret hielt, beherrschte ihn doch ein peinliches Gefühl, als er die beiden Herren begrüßte. Schwartze erschien nicht oft im Hause seines Vaters und nun war er gerade heute da. Es war nicht genau zu berechnen, wie weit das Vertrauen ging zwischen den beiden befreundeten alten Herren. Wenn Schwartze nun doch gesprochen hätte über die dreitausend Taler, die so plötzlich hatten beschafft werden sollen? Ich werde überhaupt unvorsichtig, dachte Dubois und erschrak. Ich hätte die Sache heute morgen gewandter einfädeln müssen.

Es hatte geschellt und nach einigen Minuten betrat Konsistorialrat Brauer die Stube. Die Herren erhoben sich und man wechselte übliche Redensarten.

Er war um einen Kopf größer als die anderen und alles an ihm machte einen übermächtigen und plumpen Eindruck, Hände, Nase, Ohren. Die Füße staken in gewaltigen Stiefeln, die bei jedem Schritt laut knarrten. Sein langes und schmales Gesicht trug einen außerordentlich ehrbaren Ausdruck, und ein höfliches Lächeln, das er bei der Begrüßung durchaus hervorkehren wollte, blieb an den Mundwinkeln haften ohne sich seinem Blick nur im mindesten mitzuteilen. Seine Nase war ganz weggerückt vom Munde, so daß die rasierte Oberlippe keine natürliche Abgrenzung fand. Steif und ernst stand er da in seinem schwarzen Rock und streckte den Kopf in die Höhe. Dann setzte er sich ganz plötzlich. Alle folgten seinem Beispiel. Dubois hatte ihn seit längerer Zeit nicht gesehen und wurde durch die phantastische Häßlichkeit der Erscheinung minutenlang gefesselt. Übrigens wußte er, daß der neue Gast kaum ein Wort an ihn richten würde; denn Konsistorialrat Brauer verabscheute jede Belletristik und würde jedenfalls etwas darin suchen, einen Schriftsteller von Ruf zu ignorieren.

Es ward Kaffee gereicht und sogleich begann Brauer über den neuesten Auswuchs dieser so irreligiösen Zeit zu reden, nämlich über das Tischrücken und den Spiritismus. Es gäbe da eine Gesellschaft in Berlin, die jeden Freitag Abend den Atheisten Heinrich Heine heraufbeschwöre. Immer bedenklicher würden die Formen, die dieser lästerliche Unfug annehme. Man hätte sogar die Dreistigkeit besessen, einen Prediger zu diesen Versammlungen einzuladen.

Bankier Schwartze wies darauf hin, daß man es ja doch mit einer Unternehmung der Wissenschaft zu tun habe. Wahrscheinlich würde sogar Dubois-Reymond hingehen. Es hieße fürs erste – abwarten.

– Um so schlimmer! rief der Konsistorialrat. Um so schlimmer, wenn es die vom lebendigen Glauben losgelöste Wissenschaft ist, die einher stolziert. Und daß sie sich gerade den Freitag ausgesucht haben zu diesem schimpflichen Treiben, gerade den Freitag. Ei, ei, wohin das noch führen wird. Ich sage Ihnen, Herr Kommerzienrat, wer das Holz versucht, den hat der Satan am Schopfe.

Und er schlug mit seinem enormen Zeigefinger auf die Tischplatte.

Doch Herr Schwartze war durchaus nicht eingeschüchtert, blieb aber bei dem anhebenden Wortgefecht entschieden der Höflichere.

Dubois sah auf seinen Vater und wußte ziemlich genau, was der alte Herr sich im Stillen bei diesem Diskurs dachte. Über allem stand für ihn die Moral. Vom lebendigen Gottesglauben des Konsistorialrats hielt er nicht eben gar viel, und die reine Wissenschaft, wie der Freidenker Schwartze sie verteidigte, achtete er gering, denn sie konnte ja unter Umständen unmoralisch werden. Er würde also finden, daß das ganze Gespräch falsch angelegt war, da den beiden Herren der Begriff der unversetzten, absoluten Sittlichkeit abging.

Plötzlich dachte Dubois an Richards Worte. Und wenn es nun einmal dahin kam, daß er es dem Vater gerade ins Gesicht zugestehen müßte?

Mit besonderer Schärfe packte die Vorstellung ihn heute.

Traumhaft schnell und deutlich erblickte er die Situation. Er sah das Antlitz seines Vaters mit geängstigtem Ausdruck ihm zugekehrt, mit einem Ausdruck, der rasch zum Entsetzen anwachsen und dann rasch abgleiten würde von den Zügen. Und von dieser Minute an wäre der Schmerz des harten Mannes unsichtbar und eingeschlossen in festes Schweigen. Und was in seinen Augen stehen würde, hieß: Gehe, alle Dinge sind recht und gut geordnet, es ist kein Raum da für dich.

Die Vision erschütterte ihn, unwillkürlich erhob er sich. Doch die Hand, die ihn stützen sollte, verfehlte die Lehne und so geriet er für eine Sekunde in eine ganz ungewisse Haltung. Man wandte den Kopf, ein wenig erstaunt. Er versuchte darüber zu lächeln, daß er fast ausgeglitten wäre und richtete sich schnell auf. Alle schwiegen. Seinem plötzlichen Aufstehen einen Grund gebend, sagte er: Ich muß nämlich schon fort, ich hatte mich ganz in der Zeit geirrt.

Der alte Herr war etwas befremdet. – Ich erwarte Dich dann vielleicht übermorgen? Nicht wahr? fragte er. Ich werde es Vetter Ackermann sagen, wenn er später kommt.

Dubois war einverstanden. Er wußte, daß sein Aufbruch den Vater verstimmte, weil auf diese Weise für den heutigen Sonntag die Whistpartie mit Ackermann ausfallen mußte. Er verabschiedete sich vom Konsistorialrat und von Herrn Schwartze mit besonderer Liebenswürdigkeit, um sein plötzliches Eilen nicht unhöflich erscheinen zu lassen. Er ging mit langsamen Schritten bis zur Tür, und erst als er sie erreicht hatte, hörte er, daß die Herren ihr Gespräch wieder aufnahmen.

Auf der Straße blieb er stehen und zögerte während einiger Minuten. Dann ging er in die Friedrichstraße und betrat ein größeres Café, in dem er Bekannte zu finden hoffte. Doch traf er Niemanden an. Er setzte sich, erschöpft und sehr erregt. Es war ihm unerträglich allein zu sein, es verlangte ihn nach irgend einer Gesellschaft und fortwährend und sehr gespannt blickte er auf die Tür und ließ sie nicht aus den Augen. Aber zufällig kam heute Niemand von den Literaten, mit denen er befreundet war, und auch nicht sein Verleger, der gestern aus Leipzig in Berlin eingetroffen sein mußte. Dubois redete einige Worte mit dem Kellner, brach das Gespräch aber plötzlich ab, lehnte sich zurück und saß ganz still da.

Dann fiel ihm ein, daß möglicherweise schon in den Nachmittags-Zeitungen eine Notiz stehen könnte. Und mit bebenden Fingern entfaltete er die Blätter und sah überall nach, in der Tribüne, in der Vossischen, in der Gerichtszeitung und in anderen. Aber nirgends meldete man von einem Renkontre im Hotel de Rome.

Damit ist viel gewonnen, sagte er sich. Käme die Sache brühwarm in die Öffentlichkeit, so wäre das weit gefährlicher, als wenn sie allmählich durchsickerte. Befriedigt und aufatmend bestellte er sich Marsala und weiche Eier.

Doch die gute Stimmung dauerte nicht an. Es fuhr ihm plötzlich in den Kopf, daß er versäumt hatte, zu Hause die Schublade im Eckschrank abzuschließen. Ein unbegreiflicher Leichtsinn. Diener konnten treu, ehrlich und anhänglich sein, aber sie waren indiskret und allesamt neugierig. Wenn ihm nun gerade die Briefe von Lorenz in die Hand fielen?

In jedem Fall werde ich ihn entlassen, nahm er sich vor. Ich hätte es längst tun sollen. Es geht überhaupt nicht, daß man jahrelang denselben Diener im Hause hat. Irgend wann einmal muß man ihm verdächtig werden. Den größten Teil der Briefe müßte ich übrigens verbrennen. Was waren denn diese Erinnerungen? Was lag an denen?

Er ließ die Eier, die man aufgetragen hatte, unberührt stehen, trank mit einem Schluck den Wein hinunter und bezahlte. Ungefähr um sechs Uhr abends war er zu Hause nach einer etwas langsamen Droschkenfahrt. Sogleich begab er sich in sein Arbeitszimmer. Er fand den Schlüssel auf dem Boden und überzeugte sich davon, das von dem Inhalt der Schublade nichts fehlte. Er begann hin und her zu gehen und blickte bisweilen rasch nach der Uhr, wie es Jemand tut, den man warten läßt. So verstrichen die Stunden bis zum Abendessen. Er speiste nur wenig und fühlte sich wohler nach der Mahlzeit. Nachdem er die Leitartikel in den Zeitungen gelesen und eine Flasche Rotwein getrunken hatte, lehnte er sich zurück in den Stuhl, schloß die Augen und saß so da, bis die Müdigkeit kam. Aber sie verließ ihn sogleich, als er im Bett lag, und in der Dunkelheit fing er wieder an zu erwägen, zu berechnen. Er machte Licht und trat ans Fenster. Er spähte über den Garten weg auf die halbdunkle Straße, die still und leer war. Dann ging er zum Eckschrank und entnahm dem obersten Schubfach die Kassetten. Er zerriß die Briefe und warf die ganz kleinen Fetzen in den Papierkorb. Auch die Bildnisse, auf denen sich Widmungen befanden, wurden vernichtet.

Tags darauf ließ er sich sogleich die Morgenzeitungen ans Bett bringen. Es war nichts zu finden.

Sehr beruhigt erhob er sich und begann sich mit Lebhaftigkeit und Entschlossenheit zu kleiden. Ich muß durchaus offensiv vorgehen, sagte er sich. Ich muß gesehen werden. Nichts wäre gefährlicher und törichter, als den Vogel Strauß zu spielen. Wer in solchen Momenten nicht auf seinem Platz zu finden ist, macht sich suspekt. Es gilt sich im Sattel zu halten um jeden Preis und nirgends vermißt zu werden. Es ist anzunehmen, daß bis jetzt etwa zweihundert Personen von dem Vorfall gehört haben. Dreißig von ihnen werden sich sofort erinnern, wie intim ich mit dem Baron Löwenwolde verkehrt habe. Vor allen Dingen ist es also nötig, diejenigen Häuser aufzusuchen, in die ich Richard eingeführt habe. Und je nach der Stimmung, die ich im einzelnen Fall vorfinde, heißt es dann handeln.

Rasch griff er nach Papier und Feder und schrieb Baronin Budberg, Professor Hansemann, v. Thalberg, Frau Budde, Redakteur Marni. Es ist günstig, dachte er, daß ich bei diesen Leuten in der letzten Woche nicht vorsprach. So kann ich den Anschein einer harmlosen Visite wahren und überall das Terrain sondieren.

Er ließ von Friedrich eine Droschke holen und fuhr zur Baronin Budberg. Er war hastig geworden, erklomm die beiden Treppen sehr rasch und schellte sofort. Die Zofe öffnete und ging ihn anzumelden, während er das geräumige Garderobezimmer betrat. Nach einer Minute erschien die Baronesse Budberg in der Salontür. Sie war eine junge hochgewachsene Dame von dreiundzwanzig Jahren, blond, schlank, mit großen blauen Augen. Sie grüßte freundlich, kam aber nicht näher und zupfte, wie es schien etwas verlegen, am Medaillon, das an ihrem Halse hing.

– Mama läßt fragen, ob Sie etwas Besonderes mit ihr besprechen wollen, sagte sie.

Das liebenswürdige Lächeln fiel von seinem Antlitz. Er blickte sie an, stumm und fassungslos. Was ging vor? So etwas war doch ganz unmöglich.

– Wir sind nämlich nicht sehr matinal, erklärte sie, noch immer etwas befangen. Sie müssen entschuldigen, aber Mama ist noch im Bett. Ich glaube, es ist erst zehn oder etwas später.

Dubois fing an zu lachen, viel lauter, als es sonst seine Gewohnheit war. Er hatte seine Uhr aus der Tasche gezogen und rief, die Sätze mehrmals wiederholend: In der Tat, wir haben kaum zehn Uhr. Ich muß sehr um Entschuldigung bitten. Meine Zerstreutheit. Ich komme später wieder vor. Bitte zu grüßen.

Er verbeugte sich und ging rasch zur Tür hinaus. Sie war sehr betroffen von diesem plötzlichen Verschwinden, das ihr unmöglich machte, noch einige höfliche Worte zu erwidern. Auf dem Flur blieb er stehen und fuhr sich mit der Hand über die Wangen. Er war noch immer so erschrocken, daß seine Finger bebten. Er eilte in ein Weinhaus der Charlottenstraße, betrat dort das sogenannte Punschzimmer und griff nach den Zeitungen.

Plötzlich schob er die Blätter beiseite. Ich verderbe alles, sagte er sich. Ich befremde die Menschen mit meinem konfusen Betragen. Ich will nicht so von Haus zu Haus gehen. Spießruten laufen. Es ist vielleicht auch nicht das richtige. Man darf nicht voreilig sein und soll die Dinge lieber an sich herankommen lassen.

Er streckte den Arm wieder nach den Morgenblättern aus. Doch gleichzeitig empfand er ein scharfes Prickeln in den Augen, die sich zu füllen begannen, und seine Hände legten sich kraftlos und schwer auf die Zeitungen. Die Migräne war wieder da und er konnte nicht lesen. Es waren diesesmal nicht die gedehnten, bohrenden Pulsschläge, die wehe taten, sondern es ward sogleich die linke Schläfe eingespannt wie in feste eiserne Klammern. Im Nu war der Höhepunkt der Qual erreicht, dann entwich der Druck allmählich, und er konnte endlich einen vollen Atemzug tun. Es schien, daß sich der Anfall nicht sofort wiederholen würde und Dubois hob eine von den Zeitungen ein wenig. Doch er ließ sie wieder fallen, es war ja nichts darin gestanden, er wußte es ja und hatte schon zweimal überall nachgesehen.

Nach einigen Minuten packte ihn die Furcht mit besonderer Heftigkeit, obgleich kein deutliches Bild von einem möglichen Ereignis sich vorschob. Er verschränkte die Finger immer von Neuem und anders und bog sie hin und her. Ein leises Frösteln durchlief ihn. Wenn nur jetzt Niemand kommt, dachte er und wußte, daß eine übliche Freundlichkeit sich seinem Antlitz nicht würde aufprägen lassen.

Er richtete seinen Blick durch die Scheiben auf den Hof. Draußen im Sprühregen standen zwei Männer und sägten Holz. Neben ihnen befand sich ein Knabe, und jedesmal wenn der Klotz in zwei Hälften auseinanderfiel, bückte er sich nach den beiden Stücken und warf sie zum Haufen. Immer wieder ward mit einem metallischen Aufklang angesägt, dann folgte ein jämmerlicher, brummender Ton, der sich immer mehr auszog und ausreckte, bis er plötzlich ganz dumpf wurde und mit einem Ruck aufhörte. Und sogleich schlugen die beiden Halgen aufs Pflaster, der Knabe ergriff sie und warf sie mit schwächlichen Armen zum übrigen Vorrat. Es polterte etwas und die Säge hob wieder an zu klagen. Dubois sah immerfort hin, die Regelmäßigkeit der Vorgänge war wohltätig, nahm Gedanken und Sinne gefangen und erfüllte ihn mit einem gewissen Behagen. Seine Augenlider zuckten nicht und er hielt den Blick unausgesetzt auf der Gruppe.

Doch plötzlich geschah es, daß die beiden Männer mit dem Knaben fortgingen und der Hof war leer. Man hatte nicht bemerken können, ob sie untereinander gesprochen hatten, sich verabredet. Sie waren nicht gerufen worden und es war kein Grund zu erkennen für dieses unerwartete Verschwinden. Und wohin waren sie gegangen, in welcher Richtung alle drei fortgezogen? Dubois hatte nicht darauf geachtet, dieser plötzliche Aufbruch sah wirklich wunderlich aus und etwas Mysteriöses schien ihm anzuhaften. Bewegungslos blickte Dubois noch immer auf den Hof hinaus und erst nach Minuten wandte er den Kopf. Der Ausdruck einer stillen Qual kehrte zurück auf sein Antlitz und befestigte sich in den Mundwinkeln. Er strich sich mit der Hand über die Wangen, stand auf und setzte sich dann sogleich wieder.

Mit festen lauten Schritten betrat Jemand das Punschzimmer. Dubois sah hin, es war Herr von Bandemer. Seine Finanzen hätten sich in letzter Zeit sehr verbessert, erzählte man sich. Doch hatte er bereits ein kostspieliges Verhältnis mit einer Schauspielerin angeknüpft, wie ebenfalls bekannt war.

Sogleich ging er auf Dubois zu, schüttelte ihm die Hand und rief: Freue mich sehr. Wie geht's, wie steht's? Taten Sie es schon? Oder werden Sie es noch tun?

Und er spitzte seinen Vollbart mit wirbelnden Fingern.

– Frühstücken nämlich! fügte er hinzu, fröhlich und laut auflachend.

Er setzte sich zu Dubois, der in der Überzeugung, daß Bandemer schon etwas gehört haben müsse, sofort entschlossen war, sehr liebenswürdig zu sein. Sie bestellten Kaviar und Madeira und fingen zu rauchen an. Und sogleich, nachdem der Kellner aus der Tür gegangen war, ließ Herr von Bandemer seine Finger mit einem schnappenden Knall über den Daumen fahren, wie er häufig tat, wenn ihm plötzlich etwas einfiel. – A propos, rief er, Sie kennen ja auch den jungen Baron Löwenwolde. Habe ihn ja bei Ihnen im Hause getroffen. Wissen Sie schon?

Er weiß nicht, daß ich dabei war, dachte Dubois, und gab sich das Aussehen völliger Harmlosigkeit.

Mit wenigen Worten schilderte Herr von Bandemer den Auftritt. Als guter Erzähler und Freund von Skandalgeschichten jeder Art hatte er sich auch die kleinsten Umstände aufs Genaueste gemerkt. Das Gerücht hatte noch einige Zusätze erfahren. So sollte Richard auf der Straße längere Zeit von einem Polizisten verfolgt worden sein.

Sehr erschrocken und auf das Äußerste erstaunt, hatte sich Dubois in seinen Stuhl zurückgelehnt. – Den Professor Ziegler in der Weise tätlich insultiert? Aber so erklären Sie mir doch vor allen Dingen, warum denn eine solche Effronterie? fragte er nervös und unwillig.

– Ja, das weiß nämlich kein Mensch so ganz genau. Fest steht nur, daß es mit Löwenwolde nicht seine Richtigkeit hat.

– Wie? Was wollen Sie sagen?

Dubois horchte sehr gespannt und Herr von Bandemer gab halblaut zu verstehen, mit wem man es zu tun hätte.

Langsam zog Dubois die Brauen in die Höhe und schloß den Mund. Indigniert saß er da.

Dann entfuhr es ihm: Täuschen Sie sich nicht am Ende?

– Oh nein. Professor Ziegler hat ihn ja im Hotel de Rome mit voller Stimme bezeichnet. Sogleich nachdem Löwenwolde sich aus dem Staube gemacht hatte. Das gesamte Publikum geriet in Wut. In der Tat begreiflich, muß aber doch ein possierlicher Anblick gewesen sein. Unklar bleibt die ganze Sache aber doch. Jemand erzählte, daß die Geschichte mit einem Neffen des Professors zusammenhängt. Scheint auch eine angenehme Pflanze zu sein.

Als Bandemer schwieg, ließ Dubois eine kurze Pause entstehen. Dann sprach er laut und böse: C'est incroyable. Wissen Sie, daß mir das sehr unangenehm ist, sehr peinlich. Ich habe ziemlich viel mit ihm verkehrt, habe ihn zum Beispiel der Baronin Budberg vorgestellt, dem Professor Hansemann. Mein Gott, als er damals vor zwei Jahren aus Rußland kam, er war an mich empfohlen, sehr gut empfohlen. Daß man so düpiert wird.

– Na ja, Sie sind eben hereingefallen. Aber so etwas kann ja schließlich Jedem passieren, meinte Herr von Bandemer. Gott im Himmel, wer kann denn auch auf so eine Idee kommen. Bin ja selbst mehrmals mit ihm zusammen gewesen. Habe nichts Auffälliges bemerkt. Aber ich will Ihnen nur sagen, diese Leute verstehen sich oft ganz famos darauf, einen geradezu sehr anständigen Eindruck zu machen.

– Da haben Sie ganz recht, meinte Dubois. Dann gab er sich einen kleinen Schlag auf die Stirn.

– Also deshalb hat sich Löwenwolde vor seiner Abreise gar nicht von mir verabschiedet, rief er. Ich hörte zufällig daß er fort wäre und wunderte mich über seine Unhöflichkeit. Nun also – bon voyage.

– Bon voyage, wiederholte Herr von Bandemer, wie um das Gespräch abzuschließen. Denn soeben ward Kaviar und Madeira serviert und er begann sorgfältig das Aufgetischte mit den Blicken zu prüfen. Während er sehr behaglich den ersten Happen verschmauste, fragte er: Ihr Herr Papa befindet sich wohl?

– Danke, leidlich. Er hustet ein wenig.

Plötzlich rief Herr von Bandemer mit einem kurzen Gelächter: Wissen Sie schon, daß Heinrich Heine unter die Apotheker gegangen ist?

– Er ist ja schon vor zehn Jahren gestorben, sagte Dubois unaufmerksam und überlegend, wie er um Weiteres zu erfahren, das Gespräch wieder auf Richard bringen sollte.

– Aber nach seinem Tode doch, versteht sich, nach seinem Tode ist er Apotheker geworden. Als Gespenst dreht er Pillen, so verhält es sich. Wir haben in der Metropole neuerdings etwas ganz Famoses, nämlich den magnetischen Verein. Dortselbst erscheint jeden Freitag Abend Heine. Er ist sehr vielseitig geworden nach seinem Tode, er scharrt, er klopft, er wippt, er stampft und spielt ganz allein vierhändig Klavier. Und das Neueste ist, daß er auch Rezepte verschreibt. Es ist unglaublich, worauf sonst ganz vernünftige Menschen nicht hereinfallen. Habe da einen Bekannten, einen gewissen Gehring. Magenleidend. Er suchte Hilfe bei Heinrich. Der empfiehlt eine Mischung, in der salpetersaures Silberoxyd enthalten ist. Wie finden Sie das?

Dubois sah ihm aufmerksam ins Gesicht, doch hatte er nicht recht verstanden. Aber er besann sich sofort, legte Gabel und Messer auf den Teller zurück und rief belustigt und sehr ausdrucksvoll: Köstlich! Was Sie nicht sagen!

Sie lachten, dann entstand eine Pause. Der Kellner trat ein und stellte ein zweites Döschen Kaviar auf den Tisch und Bandemer verlangte nach dem Kourant, um einen Moselwein auszuwählen. Nachdem das geschehen war, erhob er sich und sprach halblaut zu Dubois: Ich sehe da den Baron Seydlitz im Nebenzimmer. Hatte mich mit ihm verabredet. Es ist Ihnen doch recht?

– Ich bitte sehr um den Vorzug seiner Bekanntschaft, sagte Dubois und stand auf. Herr von Seydlitz trat ein und begrüßte die Herren mit festem Händedruck, sich höflich vor Dubois verbeugend. Hierauf setzte er sich, seufzte, tat einen kurzen Fluch und trank ein Bierglas voll Madeira in einem Zuge herunter. – Es geht bergab mit Biegemann, bemerkte er verdrießlich.

Der Baron meinte sich selbst und er selbst hatte sich diesen Spitznamen gegeben, unter dem er in den Kreisen fröhlicher Nichtstuer eine gewisse Popularität genoß. Biegemann studierte seit zwölf Jahren. Er war elegant gekleidet und hatte ein sehr soigniertes Aussehen. Das runde Gesicht mit der scharfen Nase leuchtete in gesunden Farben und drückte Zufriedenheit aus. Der kleine Mund mit den winzigen, angebröckelten Zähnen öffnete sich nur wenig, wenn er sprach oder lachte. Sein Tonfall besaß aristokratische Härte und Eckigkeit, was sich besonders dann bemerkbar machte, wenn er eigens von ihm erfundene Redewendungen gebrauchte. Übrigens liebte er es bisweilen, seine neuen Bekanntschaften während längerer Zeit mit allerhand Possen zu unterhalten, um dann plötzlich durch beträchtliche Kenntnisse auf manchen Gebieten zu überraschen. Da man ihn niemals sonst sah, als wenn er den Becher schwenkte, Karten spielte oder mit Dämchen soupierte, verblüffte das bei diesem Viveur so gar nicht vorauszusetzende Wissen die Leute ganz ungemein und Biegemann freute sich jedesmal über die erstaunten Gesichter der Soliden, der Spießbürger.

Bandemer und Biegemann fingen an, sich ungeniert miteinander zu unterhalten. Sie dachten all der vergnügten Tage, die sie zusammen verlebt hatten und glossierten ihre Erinnerungen mit roh-possierlichen Flüchen und Kraftausdrücken. Sie schienen sich einigermaßen geehrt zu fühlen, daß Dubois mit ihnen zechte und waren sichtlich erfreut, wenn er sich belustigt zeigte über die behagliche und in der Tat originelle Derbheit ihrer Redensarten.

Im Laufe der Stunden überlegte Dubois, ob es ratsam wäre, das Gespräch wieder auf den Vorfall im Hotel de Rome zu bringen. Plötzlich erschrak er und setzte das Glas, aus dem er trank, rasch von den Lippen ab.

O weh, er hatte einen bösen Mißgriff getan. Auf keinen Fall hätte er doch so machen dürfen, als wäre er gar nicht dabei gewesen. Gewiß würde Bandemer gelegentlich erfahren, daß Dubois am Nebentisch gesessen hatte. Und dann mußte er stutzig werden. Jetzt gleich, in jedem Augenblick, konnte sich ein sehr peinlicher Auftritt begeben. Dieser Baron Seydlitz hatte über die ganze Sache vielleicht von anderer Seite gehört, von Leuten, die es wußten, daß Dubois dabei gewesen war, als Richard den Professor insultierte.

Und wenn er nun jetzt davon zu reden anfing? Sich gerade an Dubois wandte, an den Augenzeugen?

Dann war es schlimm.

Und es fehlt mir doch nicht an Routine, dachte er. Aber ich werde unzuverlässig.

Er schob seine Hände unter dem Tisch zusammen, preßte sie aneinander. Sehr aufmerksam hörte er dem Gespräch zu und brachte fortwährend Wechsel in seine Mienen. Nur dableiben, aushalten, sagte er sich. Fangen sie darüber zu reden an, wenn ich fort bin, dann ist viel verloren. So lange ich nicht gehe, gebe ich die Sache noch nicht aus der Hand.

Er rief den Kellner und ließ zwei Flaschen Montebello holen, was von Bandemer und Biegemann mit manchem Schnack und vielen scherzhaften Redewendungen belobt und gutgeheißen wurde.

Dubois trank eilig und in kleinen Schlucken. Es dämmerte und plötzlich hörte er auf dem Hof wieder die Säge, diesen zähen, brummenden Ton, der mit einem metallischen Klang ansetzte und sich hinreckte und sich auseinander zog, bis ein leiser, dumpfer Krach ihn endlich zerhieb. Er wandte den Kopf und blickte hinaus. Doch es war schon so dunkel geworden, daß man nicht mehr deutlich sehen konnte. Übrigens mußte man die Arbeit sogleich wieder eingestellt haben, denn von nun an blieb alles still auf dem Hof.

Der Kellner trat ein und machte Licht. Dubois blickte in die hellen Gasflammen und geriet in einen behaglichen, apathischen Zustand. Die beiden Kumpane, die mehr getrunken hatten als er, achteten nicht sonderlich auf ihn, lärmten und neckten sich.

Eine Zeitlang schaute Dubois in den schräg angebrachten Wandspiegel, der die Gruppe auffing. In seinem Bilde sah alles sehr drollig aus, sie hatten alle drei ganz merkwürdig verzogene Schultern und steckten die Köpfe in höchst lächerlicher Weise in die Luft und drehten sie hin und her. Biegemanns Scheitel lief im Spiegelbilde mit einem besonderen, graziösen Schwung über den Hinterkopf. Nachdem Dubois das alles beobachtet hatte, begann er die Öldrucke an den knallrot tapezierten Wänden zu betrachten. Es schienen Landschaften zu sein, doch fiel das Licht so, daß es unmöglich war irgend etwas zu erkennen, man sah nur ein feuchtes Glitzern inmitten der dicken, goldblitzenden Rahmen.

Es ward eine zweite Mahlzeit aufgetischt und Portwein gebracht, den man zum Champagner zugoß. Auch Dubois speiste mit Appetit und wurde redseliger. Noch ehe man den Braten aufgegessen hatte, kam der Kellner und meldete, daß man den Wagen geholt hätte.

– Wie denken Sie darüber? Ein Momentchen fette Hundertneun? Machen Sie mit? fragte Biegemann.

Wahrscheinlich ein Kartenspiel, dachte Dubois und sagte, er wäre einverstanden. Die Herren wurden beim Bezahlen aufgehalten und er setzte sich ins Garderobezimmer und wartete. Plötzlich ward er ärgerlich. Er wollte fort. Er ging bis zur Tür, blieb jedoch vor ihr stehen.

Sie kamen, man ging hinaus und sie nötigten ihn zum Einsteigen. Als alle drei sich gesetzt und zurechtgeschoben hatten und die schwerfällige Droschke langsam davonrollte, schlug Biegemann ein Partiechen vor und zwar Baccarat auf Ehrenwort, mit Kaufzwang und ohne Karten. Dubois gewann zehn Taler und Bandemer bezahlte seine Schuld unter komischen Verwünschungen. Sobald der Wagen hielt, stiegen sie aus und eilten durch eine sich rasch öffnende Tür in ein hellerleuchtetes Garderobezimmer. Dubois begriff sogleich, wo er sich befand. Ein Rückzug war in jedem Fall unmöglich und er tat also, als hätte er durchaus nichts anderes erwartet. Nachdem man abgelegt hatte, ging es durch einen langen, mit vielen Lampen erhellten Korridor, und zwar schritt er voran, mit festen Schritten und sich laut unterhaltend. Man betrat den Salon, ein großes Gemach, in dem ein vielarmiger Kronleuchter flammte. Der Geruch der Wachskerzen verband sich mit einer seltsamen, schweren Atmosphäre, mit einem Duft nach stark parfümierten Seifen. In einer Ecke stand ein vergoldetes Pianino und davor ein scharlachroter Sessel. Mehrere hell und luftig gekleidete Mädchen, schön gepudert und zurechtgemacht und in Reifröcken tänzelten mit erzwungener Lebhaftigkeit auf und nieder. Bandemer und Biegemann scherzten mit der Wirtin, die eine lange braunseidene Schlepprobe trug und einen funkelnden Diamanten im Haar.

Dubois hielt für rätlich, so zu tun, als wäre er in einer solchen Umgebung durchaus heimisch. In diesem Bestreben ging er, nicht mehr sicheren Schrittes und ein wenig schwankend, über den ganzen Salon auf eine kleine blonde Person zu, verbeugte sich zeremoniös, schüttelte ihr die Hand und küßte sie dann rasch und plötzlich auf die Stirn.

Man hatte seinem Beginnen allseits mit wachsender Verwunderung zugesehen und es erhob sich jetzt ein allgemeines Gelächter. Bandemer lachte andauernd und mit besonderer Vehemenz. Er war ganz entzückt über diesen zierlichen Auftritt und wirbelte vor Vergnügen seinen Bart, der immer spitzer wurde und immer länger zu werden schien.

Dubois setzte sich auf ein Sopha, apathisch und lächelnd. Es ward sogleich ein runder Tisch herangeschoben und alle nahmen Platz. Man brachte Kaffee und Kognak und die Mädchen hantierten und klapperten mit den Tassen. Plötzlich ward eine Tür vom Nebenzimmer aus aufgerissen und ein blonder, sehr ernsthaft dreinschauender Mann eilte mit langen Schritten auf das vergoldete Pianino los. Er setzte sich, schlug gleichzeitig den Deckel zurück und begann in krachenden Passagen und sehr virtuos den Radetzky-Marsch zu spielen. Und im selben Moment wurden die Mädchen von einer kreischenden, lauten Geschwätzigkeit befallen. Das harte, gleichsam pickende Gelächter der Frauen durchtönte mit besonderer Schärfe den Tumult und ernstlich erschrocken ließ sich Dubois in die Lehne zurückfallen und sah in die aufgerissenen Münder ringsum. Seine Nachbarin sagte ihm fortwährend irgend etwas, es schienen immer dieselben Worte zu sein. Ohne zu verstehen, nickte er ihr freundlich zu. Biegemann setzte sich zu ihm und meinte, es ginge in den letzten Jahren in der fetten Hundertneun immer eintöniger her. Hierauf erzählte er von einigen sehr interessanten heraldischen Werken, die vor einem Monat erschienen wären. Erstaunt hörte Dubois ihm zu.

Nach einiger Zeit bemerkte er, daß er mit den Damen allein war im Gemach. Der Mann am Klavier hatte unausgesetzt Walzer gespielt und begann gerade zum zweitenmal den Radetzky-Marsch vorzutragen. Dubois erhob sich um die Herren zu suchen und fragte nach der Rechnung. Er ging aus dem Zimmer, das Mädchen, das er vorhin auf die Stirn geküßt hatte, begleitete ihn. Sie führte ihn in einen ganz kleinen Solon, bat, er möge sich einen Augenblick gedulden und eilte durch eine Tapetentür in ihre Schlafstube. Er spürte den beklemmenden, strengen Geruch eines Parfüms, das er nicht kannte. Er hatte gehofft, Bandemer oder Seydlitz irgendwo zu finden. Ich schenke ihr etwas und gehe dann ohne die Beiden, dachte er.

Sie rief ihn.

Er rührte sich nicht, schwieg und stand da im Halbdunkel.

Da kam sie denn wieder herausgesprungen. Sie hatte einen schleppenden Morgenrock angezogen, der vorne nicht schloß und ihre Büste schimmerte durch einen Besatz von gelben Spitzen. Sie sah frisch und niedlich aus und hielt den hübschen Mund etwas geöffnet. Lächelnd kam sie auf ihn zu und er hob mechanisch die Arme ein wenig. Sie warf sich an ihn und er atmete im weichen Dunste ihres Körpers. Nach einer mit beiden Händen ausgeführten, grotesken Bewegung des Ekels ging er zurück, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und erbrach.

Der helle Teppich war befleckt. Sobald Dubois sich beherrscht hatte, sagte er: Ich werde alles bezahlen.

Ganz wider sein Erwarten zeigte sie sich durchaus nicht ärgerlich.

– Aber wie Du nur auf einmal so gräßlich betrunken bist, mein Goldjungchen, rief sie verwundert. Komm, schlaf Dich aus.

– Nicht heute. Man überschätzt seine Kräfte zuweilen. Champagner und Portwein zusammen, das geht nun einmal nicht.

Er entwand sich ihr und gab ihr einige Goldstücke. Sie war offenbar erfreut über das reichliche Geschenk, guckte ihn aber ernst und verständnislos an, da er wieder ziemlich nüchtern zu sein schien.

– Adieu. Ich komme wieder, schon morgen, sagte er. So ungefähr um halb sieben.

Sie begleitete ihn heiter schwätzend bis an die Haustür, die der Portier lossperrte.


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