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Dort, wo einst zwischen Salismünde und Pernau das Fischerdorf Odenküll lag, hatten sich ein Dutzend Bauern angesiedelt, die sich zum Teil von weit her zusammengefunden. Die Dorfflur war ja auch von Unkraut jeder Art überwachsen, aber sie ließ sich immerhin leichter aufbrechen als die Wildnis. Aus den Trümmern der verbrannten Häuser und aus rohen Balken waren ein paar Hütten hergestellt worden, aus mancherlei Zweigen und harten Brettern die nötigen Gerätschaften. Seit dem großen Einfall der Russen von 1560 gab es hier weder Pferde noch Ochsen mehr, an ihrer Stelle spannte man die erwachsene Jugend vor den Pflug, um so wenigstens den nötigsten Lebensunterhalt zu gewinnen.
Heute, im Frühling 1565, war es Sonntag, aber die Bauern wußten es garnicht. Was ging sie auch der Sonntag an. Auf viele Meilen ringsum war jede Kirche ein Trümmerhaufen und die wenigen religiösen Vorstellungen, die sie besaßen, hatten längst altheidnischen Erinnerungen und wüstem Aberglauben Platz gemacht. Der Tag, an welchem sie, wenn die Umstände es zuließen, rasteten, war der Donnerstag.
Ein alter Bauer trat aus seiner Hütte, warf unter den buschigen, weißen Augenbrauen hervor einen Blick auf den Himmel, einen zweiten auf das Meer, ergriff dann einen vor der Thür liegenden kleinen Pflug, hob ihn auf die 506 Schultern und schritt langsam der Stelle zu, wo ein Stück des Ackers ein paar Zoll tief aufgerissen war. »Ob es sich wohl überhaupt lohnt?« dachte er. »Wenn das Korn reif sein wird, wird sich ja doch irgend eine Streifschar einfinden, es schneiden und es lachend mit sich fortnehmen. Aber wie sonst auch nur das schwarze Brot beschaffen? Netze und Boote werden sie uns ja doch wieder rauben, wie sie sie uns bisher immer wieder wegnahmen. Sollen wir es machen wie die anderen, zu Busch gehen und nächtlicherweile stehlen und rauben? Nein, tausendmal nein. Lieber verhungern.«
Er setzte den Pflug nieder und wartete auf den Sohn und die Tochter, die langsam herankamen. Jedes von ihnen kaute an einem Stück Brot, das aus Spreu mit einem nicht geringen Zusatz von Moos gebacken war. Als sie den Vater erreicht hatten, spannten sie sich willig ein und zogen mit keuchendem Atem den Pflug durch die schwarze Erde. »Vater,« rief plötzlich der Sohn, indem er stehen blieb, »ich sehe Reiter.« Der Vater schützte die Augen mit der Rechten vor der Sonne und blickte scharf nach dem Waldrande hinüber. »Du hast recht,« rief er dann, »schnell Mädchen, schnell in den Graben.«
Das Mädchen spannte sich blitzschnell aus und schlüpfte in den nahen, von dichtem Buschwerk überwachsenen Graben. In diesem wand sie sich wie eine Eidechse fort, weiter und weiter.
Die beiden Bauern blickten unterdessen mit ängstlichen Blicken zu den Reitern hinüber, deren Rüstungen hell in der Sonne glänzten. Es war ein ganzes Geschwader, mindestens dreihundert Pferde stark und sie ritten scharf zu. 507
»Es sind die Hofleute aus der Salismünde,« sagte der junge Bauer. »Was sie nur vorhaben mögen?«
»Es wird wohl der Gast, der den Wolf pflegt aus dem Busch zu treiben, bei ihnen eingekehrt sein,« war die Antwort. »Wehe der Hürde, in die dieses Rudel bricht.«
Zwei Reiter lösten sich von der Truppe und sprengten auf die Bauern zu. Der eine von ihnen war ein älterer Herr mit einer starken Adlernase und einem hageren, gelben Gesicht, der andere ein noch junger Mann mit dunklen Augen und schwarzem Schnurrbart. »Vater,« flüsterte der junge Bauer, »der junge ist der Junker, dessen Eltern sie fingen, als sie uns den Hof verbrannten.«
Der Alte nickte. Auch er erkannte den Junker.
»Heda,« rief der ältere Reiter, »habt Ihr nichts von den Schweden gehört? Sind keine im Felde?«
»Nein, gnädiger Herr,« versetzte der Bauer. »Seit dem großen Frost hat sich kein Schwede hier blicken lassen.«
Der jüngere Reiter betrachtete unterdessen den Bauern aufmerksam. »Hattet Ihr nicht früher einen Hof an der Pernauschen Bucht?« fragte er.
Der Bauer nickte. »Ich hatte den Hof« erwiderte er, »auf dem die Tatern Euch überfielen.«
In dem Antlitz des Reiters zuckte es, aber er überwand sich. Er zog seine Börse und reichte dem Bauern ein Geldstück. Dann wandte er sein Roß. »Der Mann würde uns nicht täuschen,« sagte er, »das Feld ist frei.«
»Kruse,« sagte der ältere Reiter, »wie kamt Ihr eigentlich damals mit dem Leben davon? Ihr habt mir das noch nie erzählt. Die Bluthunde hatten Euch wohl für tot liegen lassen?« 508
Eilhard runzelte die Stirn und zog die Lippen zusammen. Die Erinnerung that ihm weh, aber er antwortete doch. »Wir wollten,« erzählte er, »eben aufbrechen und ich war etwas vorausgeritten. Wie nun die ersten Schüsse fielen, warf ich den Hengst herum und sprengte zurück. Da sah ich, wie ein Tater meines Vaters Schwestertochter, Anna Nötken, die in unserem Hause aufwuchs, am Nacken packte. Da schmiß ich ihm eins über den Kopf, daß er vom Wallach fiel, riß das Mädchen herauf zu mir und brach durch die Bluthunde. Die aber hatten deutsche Büchsenschützen unter sich, die schossen hinter uns her und trafen uns beide. In dem Jagen hatte ich es nicht gemerkt, daß ich verwundet war, aber als das Mädchen die Arme fallen ließ und starb, wurde es mir auch dunkel vor den Augen und ich fiel neben ihm in den Sand und lag da wie tot. Nun war zur selbigen Zeit ein Ordensherr, einer von Voß unterwegs mit seiner Mutgeberin. Die wollten von Fellin nach Pernau, wichen vor den Tatern in die Wildnis und kamen durch das Holz an das Meer. Da hörten sie im Busch eine Gorre wiehern. Das war mein Hengst, der war bei mir geblieben. Wie sie nun herankamen, fanden sie uns beide. Nun war die Mutgeberin früher des von Randen Meiersche gewesen und erkannte mich, denn der Mond stand hell am Himmel. Der von Voß meinte, ich sei tot, und wollte davon, die Mutgeberin aber hat das keineswegs gelitten, sondern ist so lange bittlich in ihn gedrungen, bis sie mich mit sich genommen in die Pernau. Dort aber hat die Meiersche an mir gehandelt, nicht als eine Unehrliche, sondern recht als eine Samariterin, ist auch 509 nicht eher aus der Stadt geschieden, als bis ich wieder habe reiten können.«
»Und wem rittet Ihr damals zu?«
»Christopher Münchhausen. Dem half ich die Bauern niederwerfen vor dem Hause Lode. Hernach aber, da das allgemeine Land aus dem Leime ging, die Münchhausens die Stifte an den Herzog Magnus von Dänemark verkauften, Reval und die von Harrien und Wierland schwedisch wurden, der Herrmeister den Orden aufgab und als ein polnischer Herzog in Kurland saß, die Polen aber über Livland kamen, da ritt ich dem Herzog zu, denn ich dachte, er ist doch immer ein deutscher Herr.«
»Ihr thatet recht,« erwiderte der Rittmeister Heinrich Dücker von Kow, »denn der Schwede ist falsch und tückisch. Wie hat er gegen uns gehandelt, die wir uns doch von ihm bei Tag und Nacht, zu Pferde und zu Fuße allezeit ritterlich haben brauchen lassen? Nicht wie ein Christ, sondern wie ein Türke. Da ward uns erst wunder was für eine Löhnung versprochen, nachher aber, wie sie uns abdankten, da gaben sie uns auch nicht den dritten Teil. Aber will's Gott, so soll der schwedische Judas sein schändliches, lügnerisches Wesen noch heute nacht büßen.«
»Der von Altenbokum hat ganz recht,« meinte Eilhard, »wir Livländer sollten weder für die Schweden noch für die Polen streiten, noch für den Herzog von Kurland, sondern wir sollten als echte Liebhaber des Vaterlandes dem einen wie dem anderen die Wege weisen. Gelingt uns heute der Anschlag und wir nehmen Pernau ein, so werden alle die anderen Hofleute auch zu uns stoßen. Darnach ziehen wir 510 auf Reval. Von da ging das fremde Feuer an, da müssen wir es auch austreten. Sind aber die Schweden aus dem Lande, so sollen uns erst die Pollacken helfen, den Reußen aus dem Stift Dorpat zu bringen. Sind wir dann wieder alle zusammen, so soll der Pole uns wohl in Ruhe lassen und wir richten ein eigen adlig Regiment auf, mit des Königs Statthalter oder ohne einen solchen.«
»Amen, Junker. Will's Gott, so kriegen wir, wenn der Tanz mit den Reußen wieder angeht, auch einen Bojaren gefangen. Dann soll der Großfürst Euren Vater wieder herausgeben und Eure Mutter, wenn sie noch am Leben sind.«
Eilhard schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß sie noch leben,« erwiderte er, »sonst hätte ich doch durch die von Dorpat, bei denen ich allzeit fleißig Umfrage hielt, von ihnen gehört. Die Bluthunde mögen sie alle längst umgebracht haben.«
Dücker gab seinem Roß die Sporen und beide eilten im Galopp dem Geschwader nach.
Als das alte Livland zusammenbrach, da rotteten sich von Haus und Hof vertriebene Edelleute zu Reitergeschwadern zusammen, gaben sich eine Ordnung nach Art der Soldreiter, wählten sich Rittmeister, Leutnants und Fähndrichs und fochten, bald in dieses bald in jenes der Potentaten Dienst, die um Livland mit einander kämpften. Man nannte diese Reiter Hofleute, worunter man früher die Reiter des Ordens verstand, die auf dessen Höfen im Quartier lagen. Aus solchen Hofleuten bestand auch das Geschwader, das heute den Gewaltritt von Salismünde nach Pernau 511 machte. Man wollte die Stadt bei nächtlicher Weile überrumpeln und hatte dazu den folgenden Anschlag gemacht. Ein Teil der von den Schweden entlassenen Hofleute war in Pernau zurückgeblieben. Dieser hatte erfahren, daß der Schlüssel zur Notpforte von dem Ratmann Klaus Zinte aufbewahrt wurde und zwar des Nachts über seinem Bett. Da gaben denn die Hofleute in seinem Hause an diesem Abend ein Gastgelage und hatten dazu die vornehmsten Bürger von Pernau, die zum Teil mit ihnen einverstanden waren, sowie die schwedischen Befehlshaber zu Gast geladen. Davon hatten sie den Hofleuten in Salismünde Nachricht gegeben und diese waren jetzt unterwegs, um rechtzeitig mit den Freunden zusammenwirken zu können.
Der Ritt stellte selbst an die abgehärteten Hofleute und ihre an Strapazen aller Art gewöhnten Pferde unerhörte Anforderungen, aber er gelang und noch vor Mitternacht hielt das Geschwader vor der Notpforte. »Leutnant Kruse,« sprach der Rittmeister Dücker, »seht zu, ob die Unsrigen am Werk sind.«
Eilhard stieg vom Pferde, entledigte sich seiner Reiterstiefel und schlich dann auf den Strümpfen leise der Stadtmauer zu. Ein schmaler Steg führte hier über den Graben zur Notpforte. An diesem Steg fand er bereits zwei der Hofleute. »Es ist alles in Ordnung,« flüsterte der eine. »Die Leute sind toll und voll in ihren Logementen und der ehrbare Klaus Zinte schläft wie ein Bär. Macht aber schnell, damit wir womöglich auch das Schloß gewinnen.«
Eilhard eilte zurück. Gleich darauf bewegten sich die Hofleute wie eine schwarze Schlange über den Steg und 512 verschwanden im Thor. Jenseits desselben fanden sie ihre Genossen mit den nötigen Kienspänen. Man stellte sich auf und fiel dann mit furchtbarem Geschrei in die Stadt. Die Bürger, die entsetzt aus ihren Häusern fuhren, wurden verschont, die Schweden aber niedergehauen. Das Schloß freilich konnte nicht genommen werden, denn es gelang den Schweden die Thore rechtzeitig zu schließen und als sie mit Kanonen in die Stadt schossen, wurde mancher Livländer tot zu Boden gestreckt. Immerhin aber war die Stadt in den Händen der Hofleute und da diese reichlichen Zuzug erhielten, so mußte auch das Schloß nach kurzer Belagerung kapituliren.
Von allen Seiten strömten jetzt die Livländer Pernau zu. Da kam Bernt von Hövelen, einst des Ordens Schaffner mit seiner Fahne, Friedrich Schwarzhof kam und Jürgen Thedingsheim von Randen. Ziriakus vom Harz führte eine Fahne Kurländer herbei, die hatte der Herzog Magnus dort im Stifte Kurland ausgerüstet. Als einem Obersten aber gehorchten alle willig dem von Altenbokum, der ja auch die Seele des Ganzen war. Ihn erkannte auch der Herzog von Kurland als Feldobristen an, als er in seiner Eigenschaft als polnischer Regent von Livland selbst nach Pernau kam.
Diesmal war es auf Reval abgesehen und am elften August lagerte sich das kleine Heer in dem Eichholz. Es war nur gegen tausend Pferde stark und das Fußvolk bestand gar nur aus siebenundzwanzig Landsknechten, aber man rechnete auf Verrat in der Stadt, denn manchen wohlhabenden Bürgers Sohn ritt unter den Hofleuten. Überdies 513 wußte man, daß nur wenig Reiterei in der Stadt lag und mit dem Fußvolk glaubte man leicht fertig zu werden. Vergeblich mahnten Dücker und Eilhard das Lager wenigstens stark zu befestigen, man begnügte sich damit die Landsknechte in die Mühle am Rande des Eichholzes zu legen und um das Lager einen leichten Verhau zu errichten. Innerhalb dieses Verhaues wurden nun schnell Bretterbuden und Zelte aufgeschlagen. Die Lagerfeuer flammten empor, das von allen Seiten herbeigetriebene Vieh wurde geschlachtet, die zahlreichen Rüstwagen bargen Biertonnen in Fülle, deren Inhalt manche Kause füllte, ein buntes Lagerleben entfaltete sich.
»Ich wünschte, der von Altenbokum wäre im Lager,« sagte Dücker mit gerunzelter Stirn. »Seine Gegenwart ist uns wichtiger als eine Reiterfahne, die er uns noch zuführen zu können hofft. Seht, was das nun wieder für ein leichtsinniges Treiben ist! Geht es nicht zu, mehr wie auf einem Jahrmarkt als in einem Feldlager vor dem Feinde? Wir sind unverbesserlich. Nun, Junker, wir wollen jedenfalls gute Wache halten und so scharf ausschauen wie die Krähen.«
»Ich bin überzeugt, daß sie uns über den Hals kommen,« erwiderte Eilhard. »Der Gubernator versteht das Kriegshandwerk aus dem Grunde. Wäre nur erst der von Altenbokum im Lager. Was hilft es, wenn wir die Augen aufthun, die anderen aber machen sie zu.«
Die beiden thaten an ihrem Teil, was sich thun ließ. Sie stellten doppelte Wachen aus, ließen nur die Hälfte ihrer Reiter absatteln und kamen überein, daß bis zur 514 Ankunft Altenbokums immer der eine von ihnen in voller Rüstung wach bleiben sollte.
Als Eilhard kurz vor Einbruch der Dämmerung noch einmal die Wachen abging, näherte sich von der Stadt her ein Parlamentär und fragte an, ob Herr Eilhard Kruse, der Junker von Kelles sich unter den Herren befinde.
»Ich bin der Junker von Kelles,« erwiderte Eilhard. »Was wollt Ihr?«
»Edler Herr,« erwiderte der Parlamentär, »heute morgen traf ein reußischer Bote in der Stadt ein, der hat einen Brief für Euch. Ist es Euch recht, so geleite ich den Mann hierher, damit er Euch den Brief selbst übergeben kann, doch müßt Ihr ihm dann freies Geleit nach Dorpat schaffen.«
Eilhard versprach das und bat den Mann sich zu beeilen. Was konnte der Bote nur bringen? War es eine Nachricht von den Eltern? Lebten sie noch und konnten sie jetzt vielleicht freigekauft werden? Eilhard schlugen alle Pulse. Er hatte sich allmählich an die Vorstellung gewöhnt, ganz allein zu stehen in der Welt und nun sollte er vielleicht doch noch einmal in seines Vaters gutes, offenes Gesicht, in seiner Mutter liebevolles Auge blicken! Die Stunden wurden ihm zu Tagen. Endlich, endlich kam der Bote und wickelte aus einem seidenen Tuch ein Schreiben. Ein Blick auf die Adresse gab Eilhard die Gewißheit, daß sein Vater noch lebte. Er übergab den Boten der Obhut eines seiner Reiter, suchte sein Zelt auf, öffnete den Brief und las:
»An den edlen ehrenfesten, gestrengen Junker von Kelles, Herrn Eilhard Kruse, meinen vielteuren geliebten Sohn.« 515
»Viel teurer, geliebter Sohn! Wie mir der ehrbare, wohlweise Herr Hans Dreier, weiland Bürger zu Dorpat, nun aber meines gnädigen Herren, des Kaisers und Großfürsten Großkaufmann und Gast in Moskau sagt, hat Gott in seiner Gnade dich aus dem Rachen des Todes errettet und dich in allen Fährlichkeiten dieser schlimmen Zeit gnädig behütet und bewahret; dafür ihm gebührender Dank allem zu vor.
»Wie ich bis nach Dorpat gekommen und dort von den Bürgern als von rechten Christen und frommen Biederleuten gespeist, gekleidet und mit fünfzig Dengen begabt worden bin, wird dir der ehrwürdige Pastor Westermann nach seinem Versprechen geschrieben haben. Wie ich nun auf der Post in die Moskau kam, bin ich flugs in ein besonderes Gefängnis, da kein Deutscher gewesen, gebracht, woselbst ich viel Übermut, Hunger und Kummer gelitten und schier von den Läusen aufgefressen worden. Hier habe ich mit großen Schmerzen und unter Vergießung vieler Thränen zu Gott, dem allmächtigen seufzend und ihn um Errettung anrufend und Hilfe, alle die Jahre bleiben müssen. Auch hat niemand von den Deutschen in der Moskau gewußt, wo ich war, noch auch habe ich einige Kundschaft erhalten, ob du und deine Mutter und deine Schwestern noch am Leben.
»Wie nun in diesem Jahre eine stattliche Gesandtschaft der Königlichen Majestät zu Dänemark in die Moskau gekommen ist, um einen ewigen Frieden wegen Norwegen auszurichten und die auch um eine gewisse Grenze der Wiek handeln sollten, ist der Großfürst bekümmert gewesen, wo er doch möchte Bericht haben, wie er die Grenzen setzen und 516 fassen möchte. Da wurde durch Kaspar Elverfeld, einen gefangenen Lizentiaten, der beim Großfürsten in großen Gnaden, angezeigt, man solle mich aus dem Gefängnisse bringen lassen, ich würde wissen Bescheid zu geben. Welches in der Stunde befohlen wurde. Alsogleich werd' ich, wie der liebe Joseph in Ägypten, aus dem Gefängnis genommen und auf der Post von der Moskau in einen Flecken Moschaisk, achtzehn Meilen in sieben Stunden, gebracht, so daß ich mir, da ich doch des Reitens ganz ungewöhnt geworden, Stücke von der Haut geritten und schier um meinen Hals gekommen wäre. Wie ich daselbst angekommen, bin ich den anderen Tag frühe vor den Kanzler Andrei Wassiljewisch gestellet und gefraget, ob ich nicht vor acht Jahren vor einen Gesandten des Bischofs zu Dorpat mit des Herrmeisters Abgesandten bei dem Großfürsten in der Moskau gewesen, welches ich nicht leugnen konnte und zugestand. Darauf ward ich beschuldiget, warum ich mich gegen den Großfürsten als ein Feind gebrauchen lassen und warum ich, dieweil mein Herr und Bischof bei dem Kaiser und Großfürsten geblieben, davon gezogen. Derwegen hätte der Kaiser und Großfürst Macht und Ursache mich zu strafen und um das Leben zu bringen. Der Großfürst aber, als ein milder Herr und Kaiser, wäre geneigt mir das Leben zu schenken und zu begnadigen, so ich ihm treulich dienen wollte. Darauf ich wegen deiner gefangenen Mutter und Schwestern und der schweren Last und Gefängnis, dieweil ich von niemand konnte als allein durch Gott und durch dieses Mittel gerettet werden, antwortete: ›So mich der Kaiser und Großfürst nicht wollte von meinem Glauben bringen, mir Weib und Kind wiedergeben, mich des 517 Gefängnis entledigen und zu ehrbaren Sachen gebrauchen, so wollte ich ihm dienen.‹ Worauf mir bald des Großfürsten Begnadigung angezeigt, ich mit reußischen samtenen seidenen, damastenen und güldenen Kleidern, auch über hundert Thalern begabt, auch den anderen Tag mit der reußischen Rüstung vor den Großfürsten gestellet wurde. Der bot mir die Hand, meldete mir die Begnadigung und befahl mir ihm in Treue zu dienen. Darauf gab er mir zwei Höfe mit hundert Bauern, auch ein stattlich Haus in der gemauerten Stadt Moskau. Darauf hat er nach deiner Mutter und deinen Schwestern schicken lassen, die haben in der Naugart in einer Katorga oder Gefängnis gelebt und sind gar übel gespeiset und gehalten worden, also, daß sie, wie sie zu mir stießen, von mir durchaus nicht erkannt wurden und toten Körpern wegen ihres schmerzlichen Herzleids und Elends nicht ungleich sahen, doch bei allerseits bequemer Notdurft und Ergötzung fein sanft zurecht und zu voriger Gesundheit geführt wurden.
»Gleich wie ich ist auch Herr Johann Taube, der mit unserem gnädigen Herrn dem Bischof in die Moskau geführt, auch nach dessen seligem Abgang wegen dessen fahrender Habe grausam und schändlich ist verklagt und angeschwärzt, gleich als ob er den Schatz des Bischofs über die Seite gebracht, jetzo von dem Kaiser und Großfürsten begnadigt, auch mit 1000 Tschetwert Land – sind bei 300 Gesinde – im räsanschen Stift und mit seinen Gütern so er im Stift Dorpat von seinem Vater selig ererbt, und mit 200 Rubeln ist beschenkt worden.
»Da wir nun solchergestalt aus dem Gefängnis, Hunger, Durst, Schatten des Todes und Jammer zu Ehren gesetzt 518 und mit allen Wohlthaten Gottes wunderbar überschüttet worden, geht meine väterliche Bitte an dich, du wollest, wo du auch bist, mit des Großfürsten Paßbrief, den der Bote für dich hat, alsogleich nach Dorpat reiten, worauf du auf der Post in die Moskau in unser Haus und deiner lieben Eltern Arme wirst gebracht werden.
»Und thue dich hiermit in Gottes stets währende Allmacht, Gesundheit und Glückseligkeit empfehlen.
Dein lieber Vater
Eilhard Kruse zu Kelles.«
Eilhard ließ den Brief sinken und manch heiße Thräne rann ihm über die Wangen, als er der Seinigen gedachte, die »toten Körpern wegen ihres schmerzlichen Herzleids und Elends nicht ungleich« gesehen hatten. Eine heiße, unbezwingliche Sehnsucht nach den Seinigen überkam ihn. Wohl war er während dieser wilden Kriegsjahre ein paar mal in Ösel gewesen, wo die Ahne bei einem von Buxhövden ein sicheres Unterkommen gefunden hatte, aber doch immer nur zu kurzem Besuch. Jetzt aber sollte er den Vater, die Mutter, die Schwestern wiedersehen!
Er sprang auf und ging hinüber zu Dücker. Als er eintrat, erhob sich der Rittmeister von seinem Lager und griff nach seinem Schwert. »Ist der Schwede vorhanden?« fragte er.
Eilhard schüttelte den Kopf und reichte ihm schweigend den Brief seines Vaters.
Der Rittmeister zündete zwei Wachskerzen an und las den Brief langsam durch. Dann reichte er ihn Eilhard. »Und was wollt Ihr thun?« fragte er. 519
»Ich will, sobald der von Altenbokum zurück ist, ihn bitten, daß er mich abdankt und dann zu meinem Vater eilen.«
»Das heißt, Ihr wollt bei dem Unchristen Dienste nehmen und wider Euer liebes Vaterland die Waffen tragen.«
»Nein, das nicht.«
»Was sonst? Meint Ihr denn, daß, wenn Euer Vater ein Bojar geworden, Ihr werdet ein Junker bleiben können? Nein, Ihr werdet auch eine reußische Rüstung anlegen und hinreiten müssen, wohin Euch der Großfürst schickt.«
»Meint Ihr?« fragte Eilhard verwirrt.
Der von Dücker ergriff Eilhards Rechte und drückte sie. »Bleibt bei uns,« sprach er. »Ich weiß wohl, daß Euch die Sehnsucht nach Vater und Mutter das Herz abdrücken mag, aber ich rede Euch doch zu: Bleibt hier. Seht, der von Altenbokum, der doch ein landfremder Westfälinger ist, ist mit nichten, als alles zusammenbrach, in seine Heimat gezogen, sondern ist hier geblieben und tummelt sich wacker, ob wir hier nicht statt des eingefallenen ein anderes Haus aufrichten möchten, darinnen wir und unsere Kinder als Deutsche und Christen sollten wohnen und hausen können. Wollt Ihr nun, der Ihr doch in Livland geboren seid, eher das Schwert in die Scheide stecken als er? Eben jetzt ist treffliche Hoffnung, daß wir die Schweden aus Reval und aus dem Lande jagen und eine livländische, christliche, deutsche Herrschaft aufrichten und bewahren können. Bleibt hier, Junker, ich bitte Euch mit ganzer Seele.«
Der Rittmeister redete noch lange Eilhard zu, so daß dieser wieder schwankend wurde. Er verbrachte die Nacht 520 in den heftigsten inneren Kämpfen. Er entließ schließlich den reußischen Boten mit dem Befehl, in Dorpat acht Tage auf ihn zu warten. Ehe der von Altenbokum im Lager war, konnte er ja doch nicht fort.
Eilhard hatte sich ausgebeten, auch die nächste Nacht Wache zu halten. Das Kriegerleben, das er seit Jahren führte, hatte ihn von seinen Kopfschmerzen befreit. Er war nun ein sehr starker, gesunder Mann. Und schlafen konnte er jetzt doch nicht. Er war nach allen Richtungen hin voll Sorgen, denn er bemerkte, daß die strenge Disziplin, die Dücker und er hielten, bei ihrer Fahne sehr böses Blut machte. Die Junker murrten laut. »Sie könnten nicht einsehen,« sagten sie, »warum denn gerade sie für die Sicherheit des ganzen Lagers sorgen und wachen sollten, während alle anderen schliefen oder zechten und würfelten.« Lange ließen sich diese außergewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln jedenfalls nicht durchführen. Das übrige Heer aber überließ sich der sträflichsten Sorglosigkeit und trieb es wie im tiefsten Frieden.
In der Richtung zur Stadt hin befand sich eine Stelle, an der üppiges Weidengesträuch eine leidliche Deckung bot. Dorthin hatte Eilhard die äußersten Posten vorgeschoben und dort befand er sich, als das Erbleichen der Sterne und der weiße Bogen am östlichen Himmel das Nahen des Tages verkündeten. »Wir müssen jetzt besonders scharf acht geben,« sagte er, »das ist die Zeit, in der einer über den anderen herzufallen pflegt.«
»Da sind sie ja auch!« rief der eine der Reiter. Und in der That, da waren sie, die schwedischen Fußknechte und stellten sich eben vor der Mauer auf. 521
»Schießt Alarm!« rief Eilhard und eilte dann so schnell er konnte dem Lager zu. »Zu den Waffen,« schrie er dort, »zu den Waffen, der Schwede kommt!«
Die Dückersche Fahne war bald im Sattel, Eilhard aber sprengte durch die Lagergassen und trieb auch die anderen an. Die aus schwerem Schlaf Erweckten, – gar mancher war noch ganz betrunken – beeilten sich wenig. »Jürgen!« schrie Eilhard dem von Randen zu, der eben aus seinem Zelt trat, »Jürgen, eilt Euch, der Schwede ist vorhanden!« »Ach was,« erwiderte der Junker, »es lohnt auch wegen dieser Krabaten die Gäule zu zäumen!«
Die Schweden waren unterdessen herangekommen. Sie warfen einen Angriff, den Heinrich Dücker und Eilhard auf sie machten, zurück, beseitigten den Verhau und trieben die Junker in wilder Flucht aus dem Lager. Die Fahne Dücker warf sich noch einmal auf den Feind, jagte mitten durch ihn hindurch und rettete die Landsknechte in der Mühle, aber sie konnte das Geschick des Tages nicht mehr ändern. Als die Reiter sich unter stets neuen Vorstößen vor dem nachsetzenden Feinde zurückzogen, traf eine Kugel den tapferen Dücker in die Stirn. Vergeblich hielten Eilhard und seine Reiter eine Weile die Feinde von ihm fern, sie mußten sich bald überzeugen, daß er tot war.
Die Aufgabe, den Rückzug des Heeres zu decken, nahm Eilhard so in Anspruch, daß er nicht Zeit fand, den Freund zu betrauern. Und es sollte ja auch noch schlimmer kommen. Am folgenden Tage stieß man beim Dorfe Sippa auf Altenbokum, der mit sechzig Reitern heranzog. Er ordnete sogleich die flüchtigen Scharen, um sie wieder zum Angriff zu führen. 522 Als die Schweden die Livländer Halt machen sahen, lösten sie auf gut Glück ein Geschütz und die Kugel warf Kaspar von Altenbokum tot vom Pferde.
Die Schweden, die sehr ermüdet waren und vom Fall des feindlichen Feldobristen nichts wußten, wagten es nicht die Livländer anzugreifen. Sie waren froh, daß man sie in Ruhe ließ und zogen nach Reval zurück. Das livländische Heer aber lief nach allen Richtungen der Windrose auseinander.
Eilhard Kruse ritt nach Dorpat.