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Bonnius und Barbara mochten seit einer halben Stunde aus der Stadt sein, als Frau Katharina, indem sie durch das Speisezimmer schritt, bemerkte, daß die zum Vesperbrot für Barbara bestimmten gebratenen Äpfel noch unberührt auf dem Tisch standen. »Maiken,« sagte sie, »geh hinaus und rufe Bärbchen.« »Ich war schon oben,« erwiderte die Kleine, »aber ich habe Bärbchen nicht finden können.« »Nun sie wird schon kommen,« meinte Frau Katharina, begab sich ins Familienzimmer und nahm neben der Ahne und Anna Platz. »Hast du nicht Bärbchen gesehen?« fragte sie die letztere. »Ich will sie rufen,« erwiderte Anna und erhob sich, aber Frau Katharina hieß sie sitzen bleiben. »Sie muß ja ohnehin gleich kommen,« sagte sie. »Ich trage oft Sorge um Bonnius,« fuhr sie fort. »Er sollte in dieser Jahreszeit nicht bei nächtlicher Weile nur von einem Jungen begleitet durch das Land reiten.« 330
»Nun, auf der Landstraße hat er doch wohl nichts zu befürchten,« meinte die Ahne.
»Ich fürchte, die Tage, in denen die Landstraße so frei war wie der Aagang im Fluß sind vorüber, Mutter,« war die Antwort. »Und dann denke ich auch an die Wölfe. Die haben in diesem Winter so viele Leichen gefressen, daß sie lüstern nach Menschenfleisch sein müssen, wie der Fuchs nach Hühnern.«
»Ich will doch lieber nach Bärbchen sehen,« sagte Anna, stand auf und ging hinaus. Nach einiger Zeit kehrte sie zurück. »Ich kann sie nirgends finden,« sagte sie.
Nun erhob sich auch Frau Katharina und begab sich mit Anna in Bärbchens Zimmer. Es war ganz unverändert, aber leer. Man rief die Mägde herbei und befragte sie, aber keine von ihnen konnte Auskunft erteilen. Sollte Barbara ganz gegen ihre Gewohnheit ausgegangen sein? Nein, denn ihr Pelz hing an seiner Stelle. Man verteilte sich über alle Zimmer des Hauses, aber nach kurzer Zeit fand man sich am Fuße der Treppe wieder zusammen. Nun wurden auch die Diener befragt und das ganze Hauswesen geriet in Unruhe. Es wurde in alle Häuser geschickt, in die Barbara sich möglicherweise begeben haben konnte, man fragte bei den Nachbarn an, niemand wußte etwas von ihr. »Großer Gott!« flüsterte Frau Katharina endlich der Ahne zu, »sollte das Mädchen sich ein Leid angethan haben?« Die Ahne tröstete, so gut sie konnte, aber auch sie war in höchster Unruhe. »Wenn wenigstens Bonnius hier wäre,« klagte Frau Katharina. »Ich will jedenfalls nach ihm schicken.« Sie befahl zwei Dienern sofort zu satteln und so schnell sie 331 konnten nach Kelles zu reiten. »Nehmt den Weg durch das Schloß,« befahl sie »und sagt den Thorwächtern, daß ihr in eures Herren Dienst nach Kelles müßt. Dann werden sie euch schon passieren lassen. In Kelles bittet ihr den Schreiber, so schnell zur Stadt zu kommen, als er irgend kann.«
Frau Katharina begab sich auf die Hoftreppe und blieb dort, bis sie die Reiter aus dem Thor reiten sah. Dann schickte sie die Kinder und das Gesinde, die sie umdrängten fort und kehrte zur Ahne zurück. »Ich zermartere mir vergeblich den Kopf darüber, wo sie sein kann,« sagte sie. »Großer Gott, wie soll ich vor Elert, vor Jürgen, vor unserem Jungen bestehen, wenn – wenn –«
Frau Katharina schwieg und blickte hilfesuchend zu ihrer Mutter hinüber. Sie sah so verstört aus und aus ihrem Blick sprach eine solche innere Angst, daß auch Frau Maria auf das höchste beunruhigt wurde.
Frau Katharina atmete schwer. »Mutter,« keuchte sie, »ich will hinauf auf den Boden. Mit einer Laterne.«
»Katzchen, mußt du selbst gehen? Kannst du nicht jemand schicken?«
Frau Katharina schüttelte den Kopf. Sie biß die Zähne über einander und ging ins Gesindezimmer, in dem alle Dienstboten bei einander standen und leise mit einander flüsterten. »Eine Laterne!« befahl sie. Man brachte eine herbei und eine zitternde Hand zündete den Docht an. Die Hausmeisterin und zwei von den Mägden erboten sich die gnädige Frau zu begleiten, aber Frau Katharina schüttelte den Kopf, ergriff die Laterne und stieg langsam die Treppe 332 hinan. Anna kam hinter ihr her und bat flehentlich sie begleiten zu dürfen, aber sie wurde fortgeschickt.
Auf dem obersten Stufenabsatz blieb Frau Katharina stehen und fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, die ein kalter Angstschweiß bedeckte, dann öffnete sie und leuchtete in den weiten Raum. Der Lichtschein fuhr über die Dachsparren hin, Frau Katharina sah die großen Kasten und Truhen, sonst nichts. Ihr Mut wuchs. Sie trat ein und schritt langsam über die knarrenden Bretter bis an das Ende des Raumes. Es sah hier aus wie immer. Ein lautes: »Gott sei Dank!« kam über die bleichen Lippen der geänstigten Frau. »Bärbchen!« rief sie »Bärbchen!« Der Ton klang unheimlich durch den weiten Raum, aber er fand kein Echo.
Frau Katharina ging wieder hinab und nun wurden die Nachforschungen vollständig organisiert. Ein Raum nach dem anderen wurde durchsucht. Als das geschehen war, wußte man, daß Barbara sich nicht im Hause befand. Die Kinder und das Gesinde wurden nun zu Bett geschickt, die Frauen aber und Anna blieben bei einander und erwogen immer wieder, was aus Barbara geworden sein konnte.
So verging die lange, die schier endlose Nacht. Der Morgen aber brachte höchst seltsame Kunde. Sobald nämlich das Stadtthor geöffnet worden war, trafen zwei undeutsche Diener und der undeutsche Junge, mit dem Bonnius am Morgen des gestrigen Tages zur Stadt gekommen war, im Kruseschen Hause ein. Die ersteren hatten zwei Troßschlitten mitgebracht und erzählten, sie wären gestern Nachmittag mit Christopher zu Roß aufgebrochen, um die 333 neuen Pferde nach Dorpat zu bringen. Unterwegs aber habe Christopher ihnen befohlen, zu Fuß nach Kelles zurückzukehren, dort zwei Troßschlitten herzurichten und mit diesen durch die Nacht nach Dorpat zu eilen. Der Junge seinerseits berichtete, Bonnius habe ihm am Morgen Urlaub gegeben, damit er einen Onkel, der ein Krautgärtner war und in einem der Gärten vor der Stadt wohnte, besuchen könne. Es sei verabredet worden, daß der Junge seinen Herrn um Sonnenuntergang an einer bestimmten Stelle wieder treffen würde, allein der Junge habe dort vergeblich auf Bonnius gewartet. Als er nun wieder in die Stadt wollte, war das Thor bereits geschlossen und die Zugbrücke aufgezogen, so daß er froh war, als es ihm gelang, den Onkel wieder aufzufinden.
Nachdem Frau Katharina die Knechte und den Jungen vernommen hatte, stieg zum erstenmal eine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt in ihr auf. Damit schwand aber auch jede Schwäche und machte der heftigsten Erbitterung Platz. Man hatte ihr Vertrauen auf das gröbste getäuscht, man hatte ihr, ihrem Sohn, ihrem Hause, ihrem ganzen Geschlecht eine tödliche Beleidigung zugefügt. In dem stolzen Herzen der Herrin von Kelles lebte jetzt nur ein Gefühl – der Durst nach Rache.
Sie ließ sich in ihren Pelz hüllen und eilte selbst zum Thorwächter. Hatte Bonnius am Abend allein oder zu zweien die Stadt verlassen? Zu zweien, mit seinem Jungen. Waren sie sehr eilig gewesen? Ja. Sie waren aber erst eingetroffen, als die Zugbrücke eben aufgezogen werden sollte. Hatte der Wächter bemerkt, ob der Junge derselbe war, der 334 Bonnius am Morgen in die Stadt begleitet hatte? Das konnte man nicht wissen, weil der Junge seinen Mantelkragen hoch aufgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht gedrückt hatte. Bonnius hatte gesagt, der Junge habe Zahnschmerzen.
Als Frau von Kruse in ihr Haus zurückkehrte, versicherte der eine der Reitknechte, die Sache mit dem Jungen müßte sich anders verhalten, als dieser angebe, denn er habe selbst gesehen, wie Bonnius hielt und Juhann das Handpferd bestieg.
Die Frau von Kelles nickte schweigend. Dann ordnete sie an, daß sofort der große Schlitten hergerichtet werden sollte, dessen sie sich auf Reisen bediente. Einer der Diener mußte gleich nach Randen. Er sollte Rentsch sagen, daß die Frau von Kelles ihn in einer höchst wichtigen Angelegenheit möglichst bald zu sprechen wünsche. Die Hausmeisterin erhielt den Auftrag, alles für eine größere Reise vorzubereiten.
Alle diese Anordnungen waren auf der in den Hof führenden Freitreppe getroffen worden. Von hier aus begab sich Frau Katharina jetzt in das Zimmer ihrer Mutter.
Frau Maria erschrak, als sie die Tochter eintreten sah, denn noch nie hatten deren Züge einen so starren, herben Ausdruck gezeigt. Die alte Frau stieß das Spinnrad zurück und sprang auf. »Du bringst böse Kunde,« rief sie. »Ist sie tot?«
»O, daß sie tot wäre, die Dirne,« kam es langsam über die Lippen der Frau von Kruse.
»Du rasest! Was ist es mit Bärbchen?« 335
Die Frau von Kelles sank erschöpft in einen Stuhl. »Sie ist fort, Mutter, fort mit Bonnius.«
»Es ist nicht möglich, Katharina, rede, ich beschwöre dich, es ist nicht möglich.«
»Es ist, wie ich dir sage. Sie ist fort mit dem heuchlerischen Schurken. Sie sind beide fort und sie haben unsere Ehre mit sich genommen.«
Die Greisin sank mit einem leisen Schrei auf den Stuhl. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. »Daß ich das erleben mußte!« schluchzte sie.
Die Frau von Kelles erhob sich und trat dicht an die Mutter heran. »Sie sollen es büßen,« kam es dumpf über ihre Lippen, »er und sie. Sie sollen mir alles bezahlen, mit ihrem Herzblut, die Schande und die Sorge und diese deine Thränen. Ich will uns alle an ihnen rächen, Elert, dich, mich, die sie verrieten, unser altes Geschlecht, den gesamten Adel, das ganze Land, die sie beschimpften. Sie sollen uns nicht entwischen. Und wenn sie nach Kitaja flöhen, wir werden sie finden. Gott wird solche Ruchlosigkeit nicht ungestraft lassen.«
»Katzchen,« rief Frau Maria, »laß das unselige Mädchen ziehen. Was wollt ihr thun, wenn ihr sie fangt?«
»Es gibt Säcke genug im Lande, Mutter,« war die Antwort, »und Teiche, die tief genug sind, um in ihnen eine Dirne zu ersäufen.«
»Um Gott, Katzchen, ihr könnt doch nicht eine Thedingsheim ertränken?«
»Wir können es und wir werden es oder ich würde mein Wappenschild mit eigener Hand zerbrechen und es meinem Neffen und meinen Vettern vor die Füße werfen.« 336
Damit ging Frau Katharina davon, Frau Maria aber faltete die Hände und bat Gott in heißem Gebet, daß er ihrer Enkelin Flucht gelingen lassen möge.
Als Rentsch am Abend im Kruseschen Hause eintraf, war auch der letzte Zweifel in bezug auf Barbara und Bonnius geschwunden, denn die nach Kelles geschickten Diener hatten gemeldet, daß der erstere nicht dorthin zurückgekehrt war.
»Rentsch,« sagte Frau Katharina, sobald man den Schreiber zu ihr gebracht hatte, »Ihr werdet schon gehört haben, welch eine heillose Schandthat hier verübt wurde. Der Schurke hat den Augenblick gut gewählt, alle unsere Herren sind in Wolmar. Aber so Gott will, wird ihm das nichts helfen. Ich bin im Begriff nach Wolmar zu eilen. Unterdessen heftet Ihr Euch den Bösewichtern an die Fersen. Spart weder Menschen, noch Pferde, noch Geld.«
»Ach, daß doch der gnädige Junker meiner treuen und ehrlichen Warnung ein Ohr geliehen hätte!« rief Rentsch.
»Von welcher Warnung sprecht Ihr?«
Rentsch erzählte nun, was er schon früher beobachtet zu haben glaubte. Die Frau von Kelles hörte zerstreut zu. »Hätte ich das gewußt,« sagte sie dann. »Aber was hilft es, das: Hätte ich! und wäre ich! hin und herzuschieben. Jetzt heißt es nicht reden, sondern reiten. Ihr seid ein treuer Diener Eures Herrn, Rentsch, ich brauche Euch nicht anzuspornen.«
»Und was soll geschehen, wenn wir sie fangen?« fragte Rentsch, indem er Frau Katharina durch die Stirn anblickte.
»An den Baum mit ihm und ins Wasser mit ihr, Rentsch.« 337
Rentsch verneigte sich. »Also das ist Euer Befehl?« fragte er.
Frau von Kruse dachte einen Augenblick nach. »Haltet sie lieber an einem stillen Ort, bis Euer Junker selbst befehlen kann, was geschehen soll,« sagte sie dann.
»Hat die gnädige Frau mir noch etwas zu befehlen?«
»Nein, nichts. Lebt wohl, Rentsch, und vergeßt nicht, daß Ihr hinter der Ehre Eueres Herrn herreitet.«
Als Rentsch das Zimmer verlassen hatte, spielte ein triumphierendes Lächeln um seinen Mund. »Um der Ehre des Junkers willen,« dachte er, »soll kein Schweißtropfen auf meine Stirn treten, wohl aber soll er es erleben, daß wir ihm die Schwester bringen, gebunden wie eine Landstreicherin, die mit fremden Hühnern davonging, und um den ehrenfesten Herrn Bonnius an einem Baumzweig zappeln zu sehen, lohnt es sich schon all der Mühe.«
In solchen Gedanken schritt Rentsch dem Hause der Thedingsheim von Randen zu. Er ging langsam, ohne sich irgend zu beeilen.
Die Verhandlungen in Wolmar nahmen einen schnellen Verlauf, denn der Einfall der Tataren hatte seine Wirkung gethan. Man erkannte einmal, daß der Großfürst Ernst zu machen entschlossen war, und man sah ferner ein, daß man zur Zeit nicht imstande war, ihm erfolgreichen Widerstand zu leisten. So wurde denn vorgeschlagen, das Geld, das der Großfürst verlangte, schnell aufzubringen und eine neue Gesandtschaft mit demselben nach Moskau zu schicken. Das Stift Dorpat sollte 15 000 Thaler beschaffen.
Als dieser Vorschlag in der Herberge, in der die von 338 Dorpat abgestiegen waren, zur Beratung gelangte, meinte der Kanzler Georg Holzschuher, eine so große Summe werde sich im Stift schwerlich in so kurzer Zeit zusammenbringen lassen, allein diesmal waren Adel und Bürger einig. Wenn der Bischof das Geld nicht zur Hand hatte, waren sie erbötig, es ihm vorzuschießen. Herr Kruse, Fabian Thedingsheim, der ältere, Bruno Thedingsheim, der von Randen, der Bürgermeister Johann Dorselmann, die Dorpater Ratmannen und andere erklärten sich bereit, jeder an seinem Teil zu der Summe beizusteuern. Als der Kanzler unbegreiflicherweise trotzdem Schwierigkeiten machte, wurden die Verhandlungen einigermaßen stürmisch, denn die von Dorpat hatten nicht die mindeste Lust, noch einmal einen Tatareneinfall über sich ergehen zu lassen. »Wenn unser gnädiger Herr uns ohne das Geld vor dem Moskowiter schützen kann,« rief der von Kongota, »so wird niemand von uns dagegen sein, daß es in unseren Taschen bleibt, kann er das aber nicht, so soll er zugreifen und es annehmen und fortschicken. Wir sitzen ohnehin tief genug in Feuer und Kohlen.«
»Was wollt Ihr denn?« rief Johann Taube dem Kanzler zu, »sollen wir uns wieder auf den Orden stützen und uns darüber noch einmal die Hand durchbohren?«
»Der edle Herr verläßt sich noch immer auf den Prozeß, den er wider den Moskowiter vor des Kaisers Kammergericht führt,« spottete Jürgen Thedingsheim. »Ich fürchte nur, der Reuße räumt unterdessen so in unseren Truhen auf, daß wir zum Schluß die Sporteln nicht bezahlen können.«
Auch der Stiftsvogt erhob sich, um gegen jedes Verschleppen der Zahlung zu protestieren, als ihm gemeldet wurde, 339 seine Gemahlin sei soeben eingetroffen und wünsche ihn sofort zu sprechen. Er bat die Herren, ihn zu entschuldigen und eilte auf sein Zimmer.
Als Herr Kruse die Stube betrat, trat ihm Frau Katharina entgegen und drückte ihr geisterbleiches Gesicht für einen Augenblick an seine Brust. Nur für einen Augenblick, dann richtete sie sich auf und wollte sprechen, aber es kam kein Wort über ihre Lippen.
»Was ist es, Katharina?« fragte der von Kelles in atemloser Spannung. »Du bringst schreckliche Kunde. Ist Kelles niedergebrannt?«
»Nein, Elert, nein, aber – aber Barbara ist mit Bonnius davongelaufen.«
Herr Kruse taumelte zurück, aber er faßte sich wieder, ja es flog sogar wie ein Lächeln um seinen Mund. »Das ist ganz unmöglich, Katzchen,« sagte er. »Sie hat Elert noch am letzten Abend gesagt, daß sie, wenn er zurückkommt, ihn mit offenen Armen empfangen wolle.«
»Das mag schon sein,« erwiderte Frau Katharina, »aber es ist trotzdem, wie ich dir sage.« Und sie erzählte, wie sich alles begeben hatte.
»Das arme, unselige Mädchen,« rief Herr Kruse »und der arme, arme Elert!«
»Die nichtsnutzige Dirne! Aber was thun wir? Sollen wir Elert rufen lassen und ihm sagen, daß sein Schatz hinter der Hecke Hochzeit macht?«
»Warte doch, Katzchen. Ich bin wie ein Mann, der plötzlich das Dach in Flammen sieht und ich weiß nicht, ob ich nach dem Ölkrug oder dem Wassereimer greife. Schicke 340 zuerst nach dem von Randen, Katzchen. Großer Gott, das unglückliche Mädchen ist ja seine Schwester.«
Als ein Diener nach dem von Randen geschickt worden war, sagte Frau Katharina: »Wie sollen wir vor Jürgen bestehen, Elert? Er hat uns mit der Schwester seine Ehre anvertraut, wir aber können ihm jetzt weder die eine noch die andere zurückgeben.«
»Uns trifft keine Schuld, Katzchen,« erwiderte der von Kelles. »Wer hätte ahnen können, daß ein solcher Schelm in Bonnius steckte? War er nicht allezeit treu, willig, fleißig, bescheiden, demütig, fromm? Hat je verlautet, daß er hinter dem Mädchen her war oder sonst sich anders führte als einem rechtschaffenen, christlichen Schreiber zukommt!«
Frau Katharina fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich war nicht ungewarnt,« sprach sie, »aber ich war wie mit Blindheit geschlagen.«
Der von Randen trat ein. »Was gibt es, Muhme?« fragte er. »Ihr seht ja aus, als kämet Ihr aus dem Grabe.«
»Jürgen,« sprach Frau Katharina, »ich bin eine ungetreue Haushalterin gewesen und eine schlechte Ratgeberin.«
Der von Randen fuhr zurück. »Barbara? stieß er hervor – Sie ist davongelaufen? Mit dem Schreiber?«
Frau Katharina nickte.
Der von Randen atmete schwer. »Wir werden uns rächen,« sagte er dann, »wir werden eine so furchtbare Rache an ihr nehmen, daß noch unserer Enkel Enkel davon zu sagen wissen werden. Grämt Euch nicht, Muhme und auch Ihr, edler Junker, grämt Euch nicht. Ich danke Euch, daß Ihr nicht darum sorgtet, meine Schwester könnte mit einem 341 Schreiber davonlaufen. Sie aber werde ich finden und es wird, so lange Sonne und Mond am Himmel stehen, nie wieder vorkommen, daß in Livland ein adelig Fräulein mit einem schlechten Gesellen davongeht.«
»Jürgen,« sagte Frau Katharina stockend, »wir werden den Handel nicht einmal in den Brunnen senken können.«
»Nein, Muhme,« war die Antwort, »aber das thut nichts. Mögen sie erfahren, welche Schande uns zugefügt wurde. Sie werden auch davon hören, wie wir sie rächten.«
»Ich habe Rentsch rufen lassen,« fuhr Frau Katharina fort. »Er wird alles thun, um ihnen auf die Spur zu kommen.«
»Den Gedanken gab Euch Gott ein, Muhme. Das ist der rechte Schweißhund für dieses Wild. Jetzt aber will ich zu Elert. Der arme Junge! Er ist so froh und träumt von nichts als von der Köste, denn sie hat noch zu guterletzt seiner gespottet. Bärbe, Bärbe, also zu diesem Fluge lüftetest du die Flügel! Na, warte nur, einer der stärker ist und schneller als du wird über dich kommen. Bleibt zurück, Oheim, und laßt mich zuerst mit ihm reden.«
Der von Randen ging. Frau Katharina stellte sich an das Fenster und blickte mit fest aufeinander gepreßten Lippen durch die kleinen Scheiben herab auf den Hof der Herberge. Die Diener und Troßknechte standen da in einem Haufen dicht bei einander. Sie mochten bereits um die Schmach wissen, die ihren Herren widerfahren war und sie redeten vielleicht von ihr.
Herr Kruse durchmaß unterdessen ein paarmal das Zimmer, dann blieb er neben seiner Frau stehen. »Katzchen,« sagte 342 er, »ich fürchte, ich habe diese Suppe zum Teil eingebrockt. Ehe ich fortritt, sagte ich ihr, daß wir den Handel nicht länger ansehen könnten und daß wir sie, wenn sie Elert nicht wolle, nach Randen schicken würden. Vielleicht war das die Peitsche, die das arme Mädchen hinaustrieb in Schande und Tod.«
»Elert,« erwiderte Frau Katharina hart und unbewegt, »jetzt gilt es nicht fragen, ob der Wagen auch umgestürzt wäre, wenn der Mond geschienen hätte, jetzt heißt es hinter der Dirne her sein. Sie hat unseres Hauses Ehre mit sich genommen, Elert, sie darf nicht aus dem Lande.«
»Nein, sie darf nicht aus dem Lande,« wiederholte Herr Kruse traurig. »O Bärbchen, Bärbchen,« stöhnte er dann, »wärest du doch gestorben, ehe der lose Bube über unseres Hauses Schwelle trat! Mein Leben gäbe ich darum, wenn du jetzt in der Gruft deiner Ahnen lägest, rein und unbescholten, wie du es warst.«
Eilhard saß unterdessen mit anderen jungen Gesellen vom Adel beim Bier. Alle die jungen Herren stimmten darin überein, daß sie den Erben von Kelles noch nie so fröhlich und heiter gesehen hatten, wie in diesen Tagen. Er war wie einer, der sich nach langem Siechtum zum erstenmal wieder genesen fühlt und nun die Freuden des Lebens mit verdoppeltem Behagen hinnimmt.
»Elert,« sagte Jürgen Thedingsheim, indem er seine Rechte dem Junker schwer auf die Schulter legte, »komm einen Augenblick bei Seite. Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Was hast du, Jürgen?« fragte Eilhard, indem er aufstand und dem Vetter in ein kleines Nebengemach folgte. 343
Der von Randen zog die Thür hinter sich zu. »Elert,« sagte er dann, »bist du ein Mann?«
Elert erbleichte. »Um Gotteswillen,« rief er, »Bärbchen ist krank? Sie ist tot?«
»Nein, Elert, die Dinge liegen schlimmer.«
Eilhard starrte den Vetter entsetzt an. »Was heißt das?« fragte er.
»Das heißt, daß uns nicht ein großes Unglück, sondern eine große Schmach widerfahren ist. Sieh auf mich Elert und halte den Kopf hoch wie ich. Ein Mann kommt auch wider den stärksten Sturm auf.«
»Jürgen, Barbara ist –«
»Ist mit Bonnius auf und davon.«
»Der Schurke, der heuchlerische, freche Schurke,« schrie Elert.
»Bleib ruhig, Elert, bleib ruhig. Mit Schmäh- und Drohworten fangen wir sie nicht ein. Sie werden uns nicht entwischen, Elert, und wenn wir sie haben, sollst du zu Gericht sitzen über ihn. Das Gericht über sie wird meine Sache sein. Halte dich an mich, Elert. Wir tragen beide die gleiche Last, du lieber Waffengeselle, wollen wir sie auch auf gleiche Art tragen. Noch ein paar Stunden und aller Augen werden auf uns blicken, wie auf den Bären am Pfahl, wenn die Rüden in den Zwinger gelassen wurden. Sie sollen uns nicht zittern sehen, Elert, nicht wahr? Wenn keine Muskel in unsern Gesichtern zuckt, und wir an nichts denken als an die Rache, so werden die Leute nicht von einer Schande sprechen, die uns traf, sondern von einem Unglück.«
»Du hast recht,« sagte Elert, »aber habe Nachsicht mit 344 mir. Der Mann, den eben ein Schwerthieb traf, kann nicht so aufrecht einherschreiten wie der Gesunde.«
»Der Hieb traf auch mich,« erwiderte Jürgen Thedingsheim, »und meine Wunde schmerzt nicht weniger, wenn auch an einer anderen Stelle, aber ich wiederhole: von diesen Wunden darf niemand etwas wissen als höchstens deine Eltern.«
»Dann laß mich zu meinem Vater, Jürgen.«
»Wir werden ihn in der Herberge finden, ihn und die Muhme, die selbst gekommen ist, uns die böse Botschaft zu bringen.«
Als die beiden Junker die Herberge erreichten, wurde dem von Randen ein Brief überreicht, den ein Bote soeben für ihn gebracht hatte. Er kam von Rentsch und lautete nach dem Eingang also:
»Welch ein betrübter und jämmerlicher Vorfall sich hier begeben hat und wie der lose und verderbte Schelm, der Bonnius wider alle Ehrbarkeit, Zucht und schuldige, geziemende Ehrfurcht an seiner Herrschaft gehandelt hat, indem er meines gnädigen Junkers herzallerliebste Schwester verleitet und verführt hat mit ihm, einem schlechten Gesellen, aus der Stadt zu reiten – das alles wird ohne Zweifel die gnädige Frau von Kelles meinem gnädigen und großgünstigen Junker nicht vorenthalten haben. Mir hingegen, als meines gnädigen Junkers treuem Diener geziemt es, von diesem traurigen Handel völlig zu schweigen und kein Wort darüber zu Markt zu bringen. Was nun aber obgenannten, schändlichen und boshaften Jungfrauenräuber, den Franz Bonnius betrifft, so hat ihn ein undeutscher Pracher am 345 zweiten Tage, nachdem er Dorpat verlassen, in der Wildnis reiten sehen. Sie sind selbst drei gewesen – das gnädige Fräulein ist gekleidet wie ein Junge – und jeder hat das Handpferd hinter sich geführt. Auch haben sie alle den Zug mit den Wildgänsen und Kranichen genommen, so daß ihr Weg wohl nach Riga gehen wird. Daß sie aber schon viel über Wolmar hinaus sind, kann ich nicht glauben. Darum meine ich, mein gnädiger Junker sollte dem Schelm den Weg verlegen. Wir aber sind von hier aus hinter ihnen her.
»Auf dem Hause steht alles in seinen Schuhen.
»Unter Kelles haben sie des verdorbenen Müllers Tochter, die sie die tolle Käthe nennen, bei der Mühle auf der Bäche tot gefunden. Das arme Mensch muß in währendem Frost bei der Nacht erfroren sein.
»Ich bin mit allen Pferden hinter dem Schelm her.
»Meines gnädigsten Junkers allerunterthänigster Schreiber, Diener und Knecht
Hieronymus Rentsch.«
Der von Randen starrte lange auf das Papier in seiner zitternden Hand.
»Was hast du Jürgen?« fragte Eilhard.
»Nichts Elert,« war die Antwort. »als daß ich bemerke, wie auch in mir etwas vom Weibe steckt, das sich im Bett verbergen möchte, wenn das Gewitter heraufzieht. Aber sorge dich nicht, ich werde mit dem Stück Weiberfleisch fertig und werde nicht blinzeln, wenn der Blitz herniederfährt.«
Als die Sonne sich dem Untergang zuneigte, wußte der ganze Landtag, daß die Rose von Kelles mit ihres Oheims Schreiber die Flucht ergriffen hatte und noch ehe sie 346 unterging, stieg alles, was Thedingsheim hieß zu Roß, um den Flüchtlingen den Weg zu verlegen.
Als man dem von Randen seinen Hengst vorführte, fuhr er ein paarmal mit dem rechten Arm über den Sattel und den Rücken des Pferdes hin, als wollte er dort etwas abstreifen. »Was willst du Jürgen?« fragte der Stiftsvogt.
»Es ist nichts,« erwiderte der von Randen, indem er sich in den Sattel schwang. Dann aber wandte er sich in jäher Wendung um und blickte mit einem merkwürdig erschreckten Ausdruck in Augen und Gesicht hinter sich. »Was hast du?« fragte auch der von Kongota.
»Nichts, nichts. Vorwärts.«
An diesem Abend war in Wolmar im Rathaus und in der Gildstube, in den Herbergen und in den Schenken von nichts anderem die Rede als von den Flüchtlingen. Unter den Junkern, welche das Vorkommnis als eine dem gesamten Adel zugefügte Schmach empfanden, wurde kein Wort des Mitleids laut, von den Bürgern der Städte aber trank heute so mancher einen Becher mehr auf ein glückliches Entkommen des armen Fräuleins und des verwegenen Schreibers von Kelles. 347