Theodor Hermann Pantenius
Die von Kelles
Theodor Hermann Pantenius

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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Der Frühling war wieder ins Land gekommen. Warme Regengüsse hatten den Schnee weggeschmolzen und das lebenbringende Naß hatte auf den Wiesen die Blümlein hervorgerufen und im Walde die Blätter. Den Wildgänsen und Kranichen waren die lieben Waldvöglein gefolgt und von Baum und Strauch erklangen ihre holden Lieder. Es war in Livland wie in jedem Jahr und doch wurde dort niemand des Frühlings froh. Im ganzen Osten des Landes lag alles in Trümmern und wenn die Nachtigall im Busch 489 am Bach schlug, lauschte ihr niemand als etwa ein flüchtiger Bauer, der bei diesen Tönen sehnsüchtig der Tage gedachte, in denen im Dorf noch die Sackpfeifen klangen, während er sich mit dem vom Tanze erhitzten Schatz bei Seite schlich in die kühle Dämmerung der Büsche, und wenn die Lerche aufstieg über dem öden Felde, so sah sie nicht mehr wogende Saaten unter sich und ihr Lied verklang ungehört in der menschenleeren Einöde. Aber auch im Westen war es nicht viel anders. Wohl war hier alles voller von Menschen als je vorher, aber niemand hatte zu Fastnacht um die Tanne getanzt, kein Schützenkönig wurde im festlichen Zuge hinaus gebracht auf den Schießplatz, keine Maigräfin wurde gekoren. Mit trüben Blicken schritten die Menschen an einander vorüber und wenn sich das eine um das andere kümmerte, so geschah es in Hader und Streit. Wollte doch keiner die Schuld tragen an dem, was vorgefallen war, meinte doch jeder, wenn man sich nur nach ihm gerichtet hätte, es wäre alles anders gekommen. Auch trat niemand hervor, dem die andern sich willig untergeordnet hätten und die Fürsten des Landes verfolgten in schnödem Eigennutz nur die eigenen, ränkevollen Pläne. Der Koadjutor Kettler war bemüht Fürstenberg zu stürzen, um dann mit Hilfe der Polen aus dem Herrmeister des deutschen Ordens ein weltlicher Fürst zu werden; der Erzbischof Wilhelm saß grollend auf seinem festen Hause Kokenhusen; der Bischof von Ösel und Kurland, Johann von Münchhausen suchte unverdrossen weiter nach einem Käufer für sein Bistum; der Bischof von Dorpat schmachtete wider die Kapitulation in russischer Gefangenschaft. Polen, Dänen und Schweden blickten 490 begehrlich nach dem einst so reichen Lande, der Zar Johann aber war fester denn je entschlossen, alle Kräfte daran zu setzen, um Livland, das ihm den Zugang zum Meer und damit zu Westeuropa erschloß, an sich zu bringen. Tatarische Reiter in seinem Dienst durchschweiften plündernd und mordend von Dorpat aus weithin das Land und ließen in niemand das Gefühl der Sicherheit aufkommen, von Zeit zu Zeit aber brach ein größeres russisches Heer vor und zerstörte, was die Streifscharen übrig gelassen hatten.

Unter diesen Umständen fühlte der Stiftsvogt sich in der Wiek nicht sicher, und war mit seinem ganzen Hause und seiner gesamten fahrenden Habe aufgebrochen, um ins Erzstift zu ziehen. Er selbst und die beiden Junker ritten voran, ihnen folgten in einiger Entfernung Frau Katharina und Anna auf Zeltern, dann kam ein Wagen, über den man einen Plan gespannt hatte. Der barg die Ahne, die Kinder und die beiden Mägde. Zwei weitere Wagen enthielten mancherlei Habe und ihnen folgten zwei Diener zu Pferde. So ritt man an dem heißen Frühlingstage durch den Wald. Man zog schweigend dahin, denn die Reise war keineswegs ungefährlich und die Hitze wirkte erschlaffend, nur die Kinder, die an diesem vagabundierenden Leben unendliches Gefallen fanden, schwatzten fröhlich mit ihren Puppen.

»Oheim,« sagte Jürgen plötzlich, indem er sich in den Steigbügeln aufrichtete – »das war die See!«

Es zog in der That ein kühler Hauch den Reisenden entgegen und auch die Pferde empfanden ihn. Sie hoben die Köpfe und gingen schneller. 491

»Ich wünschte, wir wären nicht nur an der See, sondern schon auf ihr,« erwiderte Herr Kruse besorgt. »So lange wir noch auf dem Lande sind, können die Tatern uns in jedem Augenblick über den Hals kommen. Aber reitet voraus und seht zu, ob der Bauerhof frei ist.«

Damit gab der von Kelles dem Zuge das Zeichen zu halten, die beiden Junker aber gaben den Pferden die Sporen und ritten voraus. Kein Zweifel, man nahte dem Meeresgestade. So frisch weht es nur von der See und hier begann auch schon der Sand und die Kiefer trat an die Stelle der Birke.

»Laß mich voraus,« bat Jürgen.

»Nein, laß du mir den Vortritt.«

»Wir wollen losen. Wer den Knoten zieht, darf voraus.«

Das Los entschied für Jürgen. Er sprang vom Pferde, warf Eilhard den Zügel zu und beugte sich dann herab auf den Boden. Er vernahm keinerlei Geräusch, alles blieb still. Er sprang wieder auf und war gleich darauf im dichten Unterholz verschwunden. Als er wieder kam, nickte er Eilhard zu. »Es ist alles in Ordnung,« sagte er, »wir sind hier so sicher wie in Priester Johanns Land.«

»Gott verdamme mich, Elert,« fuhr er fort, als sie zurückritten, »solch ein Ritt im Krebs durch die Wildnis kann ja einem richtigen Feldzug nicht das Wasser reichen, aber er ist doch besser als das alte Umherbasen auf Kösten und Kindelbieren, es kann doch wenigstens jeden Augenblick ein Tater aus dem Busch brechen und es können Faustrohre knallen und Schwerter rasseln. Gegen solche Musik aber 492 ist das Geblase und Gepauke beim Tanz doch nichts anderes, wie wenn man zwei alte Kessel wider einander schlägt.«

»Das gilt für uns, Jürgen. Was würde aber aus den Frauen und Kindern, wenn wir solche Musik vernähmen?«

Jürgen seufzte. »Du hast schon recht,« erwiderte er, »aber ist es nicht überhaupt ein Jammer, Elert, daß man die Klöster aufgehoben hat? Da waren die Jungfrauen sicher und geborgen und auch der Feind vergriff sich nicht an ihnen.«

»Nein, Jürgen, das ist kein Jammer, denn eine christliche Jungfrau soll in den Ehestand treten und ihrem Manne eine Gehilfin sein in guten und in bösen Tagen.«

»Aber wenn nun keiner ihrer begehrt? Oder wenigstens, wenn der ihrer nicht begehrt, an dem ihr Herz hängt? Was dann?«

»Aber Annas Herz hängt doch an niemand?«

»Weißt du das gewiß?«

Eilhard blickte den Freund verwundert an. Es kam ihm zum erstenmal in den Sinn, daß Anna auch noch etwas anderes sein könne als eine liebevolle Schwester, daß sie auch ein eigenes Leben führen könne, mit eigenen, selbstischen Wünschen.

»Aber Jürgen,« rief er endlich, »wen könnte sie denn lieb haben?«

»Das darf ich dir nicht sagen,« erwiderte Jürgen, »aber es ist ein wackerer lieber Geselle und er weiß von ihrer Liebe nicht mehr als wir von den Liebschaften des Königs von Portugal.« 493

Damit gab Jürgen seinem Hengste die Sporen und beide eilten im Galopp dahin.

Das Ziel der Reise war vorläufig ein großer Bauerhof am Meer. Auf diesem sollte gerastet werden, bis womöglich große Boote herbeigeschafft waren, auf denen man über das Meer nach Riga gelangen konnte. Erwies sich das bei der starken Nachfrage nach Booten als nicht erreichbar, so wollte man jedenfalls rasten, bis der Landweg als sicher erkundet worden war. Da sich gleich herausstellte, daß vorläufig die nötigen Boote nicht zu beschaffen waren, richtete man sich auf dem Hof so gut als möglich ein und fand bei den Bauern, die mit Recht reichen Lohn erwarteten, williges Entgegenkommen. Als am Abend der Vollmond auf Meer und Wald herabschien, fand er die Flüchtlinge in einem verhältnismäßig behaglichen Zustande. Die Kinder waren zu Bett gebracht, auf dem Herde bereiteten die beiden Kruseschen Mägde, eine deutsche und eine undeutsche, das Abendessen, die Erwachsenen saßen vor der Thür beisammen und ließen sich von den Bauern von den Gerüchten erzählen, die in der Gegend – man befand sich in nächster Nähe von Pernau – umliefen.

»Anna,« sagte Eilhard, »kommst du noch etwas ans Meer?«

Anna erhob sich sogleich, wie immer, wenn er sie rief, und beide gingen langsam dem Meere zu. Das Wasser war fast ganz unbewegt und nur kaum wahrnehmbare kleine Wellchen, die an den Sand schlugen und ein leises Plätschern hervorriefen, verrieten, daß das Meer noch lebte und nur schlief, wie jetzt alles in der Natur. 494

»Anna,« fragte Eilhard nach einer Weile, »würdest du gern in ein Kloster gehen?«

»Nein, Elert,« erwiderte Anna, nicht ohne Verwunderung, »denn ich glaube nicht, daß das Klosterleben Gott wohlgefällig ist. Aber wie kommst du darauf?«

»Anna, du weißt doch, daß ich dir allezeit ein treuer Bruder und Freund gewesen bin!«

»Ja, das weiß ich, Elert und ich danke dir herzlich dafür.«

»Anna, ich möchte dich gern etwas fragen?«

»Frage nur, Elert.«

»Darf ich, Anna?«

»Gewiß, Elert. Was solltest du mich nicht fragen dürfen?«

»Anna, Jürgen meinte heute, du hättest einen Junker lieb gewonnen, er aber wüßte nichts davon. Ist das so?«

Anna war stehen geblieben und blickte Eilhard so entsetzt an, daß dieser erschrak.

»Verzeih, Anna,« bat er und ergriff die Hand des Mädchens, »ich meinte aber, daß du es mir wohl sagen könntest. Jener weiß es nicht, die aber, an der mein ganzes Herz hing, von da ab, wo ich noch nie auf ein Pferd gekommen war, die –« Eilhard brach plötzlich ab.

Die Frage des Vetters hatte Anna getroffen wie ein Blitzstrahl, jetzt aber siegte sein Schmerz schnell über den ihrigen.

»Elert,« erwiderte sie mit ihrer milden, sanften Stimme, die er so liebte, »selbst wenn es wäre, wie Jürgen meinte, so wäre mein Kreuz eine leichte Last gegen das, welches auf deinen Schultern liegt. Darum lohnt es sich auch nicht, davon zu reden. Ich will es geduldig tragen, bis Gott es 495 von mir nimmt und will nur zu ihm beten, daß er das deine leichter macht.«

»Und du willst mir nicht gestatten, daß ich dir das Kreuz tragen helfe?«

»Nein, Elert. Es schmerzt nicht allzusehr. Und dann, Elert, wer weiß, ob nicht schon der Säbel geschliffen ist, der mich und dich jeden Kreuzes ledig macht und unsere Seelen dorthin schickt, wo wir unsere Lieben lieb haben werden, ohne ihrer zu begehren?«

»Anna! Elert!« rief Jürgen hinter ihnen. Sie kehrten um und schritten ihm entgegen. »Das Abendessen ist fertig,« sagte Jürgen. »Daß mich aller Welt Plage bestehe, ich bin hungrig wie ein Wolf.«

Am anderen Tage ritten die beiden Kruses nach Pernau, aber sie brachten nur schlechten Trost mit. Alle Schiffe und Boote waren fort, außerdem wollte man bestimmt wissen, daß eine Schar Tataren in der Gegend streife. Unter diesen Umständen wurde beschlossen, jedenfalls in die Stadt zu ziehen, und am Abend war alles bereit. Die Wagen waren bespannt, die Pferde gesattelt. Elert war ein Stück Weges vorausgeritten, um an einer Stelle einen überhängenden Zweig zu entfernen, der den Leinwanddächern der Wagen hätte gefährlich werden können, Herr Kruse und Jürgen aber waren eben damit beschäftigt, der Ahne und den Kindern in den Wagen zu helfen, als plötzlich rings um sie Schüsse fielen und unter furchtbarem Geschrei von drei Seiten her die Tataren auf sie einstürmten. Der Angriff erfolgte so plötzlich, daß an Widerstand kaum zu denken war. Wohl zog Jürgen das Schwert, aber in demselben Augenblick 496 durchbohrten zwei Kugeln seine Brust. Er sank zurück und sein brechendes Auge sah noch, wie ein riesiger Tatar Anna am Nacken packte und sie mit sich fortriß. »Ach, daß sie im Kloster wäre!« war sein letzter Gedanke.

Eilhard hörte die Schüsse, warf den Hengst herum und stürmte herbei. Auch er sah Anna und den Tataren. Da er von hinten kam, gelang es ihm leicht, durch die Feinde zu brechen. Mit einem furchtbaren Schwerthieb spaltete er dem Tataren das Haupt, ergriff Anna und riß sie zu sich hinauf auf sein Pferd. Dann brach er, einem instinktiven Selbsterhaltungstrieb folgend, wieder durch die Feinde und stürmte davon. Kugeln und Pfeile umsausten ihn, er hörte das Rachegeschrei der Verfolger hinter sich, aber sein wackerer Hengst trug ihn so schnell am Meeresufer entlang, daß die Tataren bald von der Verfolgung abließen. Eilhard hatte unterdessen mit dem linken Arm Anna festgehalten und ihr zugerufen: »Schling deine Arme um meinen Hals!« Sie that es und schmiegte sich eng an ihn.

Jetzt, wo er die Verfolger nicht mehr hinter sich hörte, kam der Junker gewissermaßen erst wieder zu sich. Er zügelte den Lauf des Tieres und hielt endlich. »Anna,« fragte er, »was sollen wir thun?«

Anna gab keine Antwort und ihre Arme fielen schlaff von seiner Schulter. »Was hast du, Anna? Um Gotteswillen?«

Er blickte auf sie herab, sie war blutüberströmt. Er lenkte sein Roß in den Wald, sprang dort aus dem Sattel, hob Anna herab und bettete sie auf das weiche Moos.

»Anna,« flehte er, »um Gotteswillen, Anna, lebst du nicht mehr?« 497

Da schlug sie noch einmal die Augen auf und ein Blick voll Liebe traf ihn. »Bist du unverwundet?« fragte sie.

»Ja,« rief Elert, »aber du? Wo traf dich die Kugel?«

»Elert,« fuhr Anna fort, »Gott hat es gnädig gemacht und mein Kreuz von mir genommen. Elert, der Junker, den ich liebte von Jugend an, warst du!«

Eilhard blickte ihr erschreckt in das erstarrende Auge. Er sah, wie ihr Haupt von seiner Hand herabsank, immer tiefer und tiefer, bis es endlich in einem Abgrund zu liegen schien. Wie das Antlitz friedlich blickte!

Wenn er es nur besser hätte sehen können, aber es wurde dunkler und dunkler – bis auch der Rest seines Bewußtseins schwand und er, der ebenfalls schwer verwundet war, neben Anna auf dem Moose lag, so unbewegt und fast so leblos wie sie. Aber sein Kreuz war noch nicht von ihm genommen!

Der Stiftsvogt war so schnell entwaffnet worden, daß er auch nicht einmal einen Schwerthieb zur Verteidigung der Seinigen führen konnte. Gebunden und wehrlos mußte er es ansehen, wie einer der Tataren in blinder Wut erst das kleine Anneken, dann die deutsche Magd, die das Kind zu retten suchte, erwürgte, während die übrigen ihm selbst, Frau Katharina, der Ahne und den Kindern die Kleider vom Leibe rissen. Die Ahne ließen sie schließlich im Hemde zurück, die übrigen aber banden sie auf die mitgebrachten ledigen Pferde, steckten den Bauernhof in Brand und eilten weiter, um auch in den benachbarten Dörfern und Edelhöfen möglichst unerwartet zu erscheinen. Ihre Absicht gelang nur zu gut, denn da sie verlaufene deutsche 498 Büchsenschützen unter sich hatten, wurde jeder Widerstand im Keim gebrochen. Immer größer und größer wurde die Zahl der gefangenen Edelleute und sonstigen Deutschen, sowie ihrer Frauen und Kinder, aber auch zahlreiche Bauern wurden mit fortgetrieben.

Der Zug ging über Habsal, an Reval vorüber nach Weißenstein, das eben damals von einem russischen Heer belagert wurde. Längst reichten die Pferde nicht mehr aus, um auch nur die vornehmen Gefangenen zu tragen und mancher, der vorher nur mit einem Dutzend Dienern hinter sich ausritt, lief nun mit gebundenen Händen im Staube der Landstraße einher. Wehe dem, dem die Kräfte versagten. Unbarmherzig sausten die Peitschen der Tataren nieder auf Mann und Weib, wer aber wirklich nicht weiter konnte, auch unter der Fuchtel des Feindes nicht, dem wurde die Kehle durchschnitten wie einem Pferde, das den Fuß brach.

In dem wirren Haufen, der so durch das Land getrieben wurde, lösten sich alle Bande der Zucht und Sitte, und was in den Menschen war, trat nackend zu Tage in Gutem und Bösem.

Unter den Junkern befand sich ein alter grilliger Herr von Wedewes, unter dessen bösen Launen seine Bauern oft genug hatten leiden müssen. Der konnte jetzt nicht weiter. Vergeblich stützte ihn ein junger kräftiger Bauer und redete ihm freundlich zu, wie eine Mutter dem übermüdeten Kinde. »Ich kann nicht mehr,« sprach der Alte, »mögen sie mir die Kehle abstechen. Du aber habe Gotteslohn für das, was du an mir gethan, denn ich habe dich mehr als billig quästen lassen. Verzeih es mir.« Da sprach der Bauer: »Das sei 499 fern, daß ich meinen Herrn abschlachten lasse wie ein Kalb,« nahm den Greis auf die Schulter und trug ihn fort.

Neben den beiden schwankte ein Taube her, ein sanfter, freundlicher Jüngling, der keinem seiner Leute hatte eine Bitte abschlagen können. Dem waren die Füße so wund geworden, daß er bei jedem Schritt Höllenqualen litt. Mit einem Schmerzensschrei brach er endlich zusammen. Da sprengte ein Tatar an ihn heran und seine Peitsche sauste unbarmherzig auf den Unglücklichen nieder, bis er wieder aufsprang. Da höhnten zwei seiner ehemaligen Bauern: »Jetzt seht Ihr es Junker, daß, wenn die Suppe nur recht gesalzen ist, man sie schon essen kann. Nun wißt Ihr selbst, wie das Quästen schmeckt.«

Frau Katharina schritt aufrechten Schrittes neben dem gefesselten Gatten her. Die Tataren hatten sie auf dem Wägelchen, auf dem die Kinder und die Magd Platz gefunden hatten, lassen wollen und ihr Dolmetscher, der Büchsenschütze Hans Barre, ein Weißensteiner Kind, hatte ihr in jeder Weise zugeredet, aber sie erklärte kurz: »Ich gehöre zu meinem Junker« und ließ sich nicht zurückhalten. Als auch Herr Kruse sie beschwor, die Kinder nicht zu verlassen, da sprach sie: »Ich habe gelobt zu dir zu halten in bösen wie in guten Tagen, ehe wir noch ein Kind hatten und ohne zu wissen, ob wir eines haben würden. Ich gehöre zu dir. Überdies wird die Magd für sie sorgen, so gut wie ich es irgend gekonnt hätte.« Und in diesem Punkt hatte Frau Katharina sich nicht geirrt, die Magd vergalt ihr jetzt, daß sie ihr stets eine freundliche Herrin gewesen war.

Aber es war noch nicht das schlimmste, daß Frau 500 Katharina so einherschreiten mußte neben dem gefangenen Gatten mit wundem Herzen und wunden Füßen, einem ungewissen, voraussichtlich schrecklichen Geschick entgegen, noch härter als alles dieses, ja selbst als Eilhards und Annekens Verlust trafen sie die Schmähreden, die ihr aus dem Munde der Leidensgenossen entgegenschallten. Was vorher nur heimlich von Munde zu Munde lief, das wurde nun offen ausgesprochen, höhnend fragte man den Stiftsvogt, ob das der Lohn sei, den der Großfürst ihm für seinen Verrat zahle; ob er etwa freiwillig unterwegs sei, um seinem gnädigen Herrn, dem Bischof, aufzuwarten. Vergeblich mahnte Herr Kruse auf diese thörichten Reden nicht zu achten, die Worte gruben sich unauslöschlich in das stolze Herz der Frau von Kelles. Nie wieder konnte sie sie vergessen. »Ich habe es lange kommen sehen,« sprach sie, »daß es mit unserer alten livländischen Herrlichkeit ein Ende mit Schrecken nehmen würde und wir dürfen nicht klagen, daß der Herrgott uns, die wir nur an das Pfeifen und Singen dachten, nun auch tanzen läßt, aber daß sie dich einen Verräter schelten, das haben wir nicht verdient, durch nichts und in keinem Stück.«

Endlich war das Lager vor Weißenstein erreicht. Für nur zu viele allzufrüh, denn hier teilten die Sieger ihre Beute und verfuhren fortan mit ihr nach ihrem freien Belieben. Frau Katharina, die Kinder und die Magd nahm ein tatarischer Murse mit sich. Vergeblich warf sie sich vor ihm nieder und flehte ihn an, sie bei ihrem Mann bleiben zu lassen. »Närrin,« ließ er ihr durch den Dolmetscher sagen, »das wäre doch nur für kurze Zeit, denn deinen 501 Mann werden sie ja erschlagen. Was sollen sie mit ihm anfangen? Für einen Ackersklaven ist er zu vornehm gewöhnt und zu alt.«

Es war ein furchtbarer Augenblick, als man die Eheleute auseinander riß und es war dem von Kelles ganz recht, als man nun auch ihn hinausführte auf den Platz vor dem Lager, wo die livländischen Edelleute jetzt abgeschlachtet wurden wie eine Herde Hämmel, einer nach dem anderen.

Als die Schlächter dem Stiftsvogt das Hemd vom Leibe zogen, – es sollte nicht durch sein Blut verdorben werden –, da sahen sie, daß er eine schwere Goldkette auf dem bloßen Leibe trug. Sie stutzten und ratschlagten. Er war doch offenbar ein vornehmer und reicher Mann und es war thöricht ihn umzubringen. Vielleicht zahlten seine Verwandten noch ein hohes Lösegeld für ihn. So warfen sie ihm denn alte Kleider und ein Paar Stiefel hin, banden ihn dann wieder und führten ihn zurück ins Lager.

Sechs Wochen lang lag das russische Heer vergeblich vor dem festen Weißenstein, in dem der tapfere Kaspar von Altenbokum gebot und alle Stürme immer wieder abschlug. Dann brachen sie auf und zogen wieder nach Dorpat, wo sie eine halbe Meile von der Stadt ein Lager bezogen.

Von hier aus schickte der Trupp, der den Stiftsvogt gefangen hielt, zu einem ihm bekannten Bürger von Dorpat, Hans Dreier, und ließ ihm sagen, man hätte einen Deutschen, namens Eilhard Kruse, gefangen, ob er ihn kenne und ein Lösegeld für ihn zahlen wolle. Dreier erschrak. Er erwiderte, daß er den Mann sehr wohl kenne und fragte, wie hoch das Lösegeld sei, das sie verlangten. Da nannten 502 sie eine so große Summe, daß Dreier wohl einsah, daß der Stiftsvogt auf diese Weise nicht zu befreien war. Da sagte er den Russen, sie möchten den Mann ja gut halten, denn er sei ein überaus vornehmer Herr. Er sei früher Stiftsvogt des Bischofs und als dessen Gesandter auch in Moskau gewesen, der Großfürst würde daher gewiß sehr zufrieden sein, daß er ihn in seine Gewalt gebracht hätte. Zugleich bat Dreier, man möchte doch den Gefangenen auf eine Zeitlang zu ihm in sein Haus lassen, damit er sich dort von den Leiden, die er hatte ausstehen müssen, erholen könnte. Davon wollten die Russen nun zwar nichts wissen, aber unter dem Einfluß der Dreierschen Mitteilungen willigten sie wenigstens darin, daß ihr Gefangener gegen eine Bürgschaft von 3000 Thalern auf eine Nacht in die Stadt gebracht wurde. Dort aber hatte Dreier noch mehrere Bürger, die den Stiftsvogt kannten, und vor allen Pastor Westermann zu sich geladen. Voll Spannung warteten die auf das Erscheinen des Gefangenen. Endlich trat er ein. Welch ein Anblick! Der einst so glänzende, prächtige Mann war jetzt nur mit einigen russischen Lumpen bekleidet; sein einst so rosiges, gesundes Antlitz zeigte ein fahles Gelb; die früher so froh und offen blickenden Augen schauten nun unter geschwollenen Wimpern trübe in die verödete Welt.

Aber auch die Dorpater sahen anders aus, als in den alten fröhlichen Tagen. Sorge und Kummer und Not hatten die Nacken gebeugt und die Stirnen gefurcht. Aber die Herzen in ihrer Brust schlugen noch warm, das erfuhr heute der Stiftsvogt.

»Edler Herr,« rief der Pastor, indem er den Gefangenen 503 umarmte, »Gott sei gedankt, daß wir Euch in dieser Eueren Betrübnis wenigstens sehen und mit brüderlichem Kuß trösten können. Gold und Gut haben wir nicht, das ist längst zurückgenommen von dem, der es gab und es uns wieder nahm, als er sah, daß wir übel damit haushielten, aber eine Waffe blieb uns und mit der wollen wir wacker streiten, das Gebet. Darin wollen wir anhalten mit Bitten und Flehen, bis der böse Feind weichen und Gott sich Euerer wieder erbarmen wird.«

Der Stiftsvogt hätte den Pastor auf der Straße schwerlich erkannt, so abgemagert und verändert war er, nun aber that ihm die Stimme des Freundes unendlich wohl. »Gott danke Euch Eure Worte,« stieß er schluchzend hervor.

Auch die Bürger umringten den Gefangenen, umarmten ihn, drückten seine Hände. Sie waren ja selbst alle verarmt, aber was sie irgend noch entbehren konnten, hatten sie mitgebracht. Sie nahmen ihm die Lumpen ab, die er trug, und kleideten ihn in ihre Gewänder, sie speisten ihn und übergaben ihm den Ertrag einer Sammlung, die sie unter sich angestellt hatten.

»Großer Gott,« rief der Stiftsvogt, »als es uns noch gut ging und wir wie in Rosen saßen, da war keiner dem anderen gut und vornehm genug, und wir wollten von einander nichts wissen und wußten nichts von einander. Da hat uns der Herrgott alle in das gleiche Elend geraten lassen, damit wir sehen, daß nicht Rang und Stand, weder vornehme noch niederträchtige Geburt den Menschen edel macht oder unedel, sondern allein die Gesinnung. Da wird denn mancher ein Graf, der doch nur ein schlichter 504 Bürgersmann ist und mancher andere erweist sich als ein unehrlicher Mann, ob er gleich seine sechzehn Ahnen an der Wand hängen hat.«

Nun ging es an ein Berichten. Es war wenig Tröstliches zu melden. Als die Bürger Dorpats fortgeführt wurden nach Pleskau, da hatte Westermann sie freiwillig begleitet. Das hatte den Russen gewaltig imponiert. Seitdem nahm er eine Art Vertrauensstellung bei ihnen ein.

Der Sommermorgen nahte nur zu früh. In seiner Dämmerung empfing der Stiftsvogt aus des treuen Seelsorgers Hand das Abendmahl. Wunderbar gekräftigt, kehrte er dann zurück in seine Gefangenschaft.

Die Russen hatten die Mitteilungen Dreiers an den Wojewoden gelangen lassen und dieser hielt es für ratsam den Gefangenen nach Moskau zu schicken. Bald ging er unter starker Bedeckung über Pleskau dorthin ab. 505



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