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Meine Mitschuld am Weltkriege

 

 

Das Alte ist vergangen;
siehe, es ist alles neu geworden.

 

 

Es darf nicht sein, daß ein Bund der Völker noch länger verhindert wird, weil ein Volk, ein einziges Volk in dem Verdacht steht, sich nicht zum Menschentum bekennen zu wollen. Was hinter uns liegt, ist verbrecherisch und unmenschlich; nur wenn wir zeigen, daß wir davon abrücken, daß wir nichts damit gemein haben wollen, dann können wir mit anderen am Tisch sitzen. Wir können es nicht, wenn wir uns den Anschein geben, als ob wir bei dem, was früher geschah, nichts fänden. Nur aus unserem Bekenntnis zur Schuld kann Friede entstehen. Weshalb dieses Bekenntnis unterbleibt? Von mehreren Gründen ist einer der, daß es jedem einzelnen von uns schwer wird, die eigenen Fehler einzugestehen. Es ist also nötig, daß der einzelne das Beispiel gibt, zurückdenkt und erkennt, wie er die Ursache des Unglücks wurde. Gerade der Krieg hat doch wohl gezeigt, daß wir andere Menschen nicht erkennen können, und wenn wir gerecht wären, müßten wir eingestehen, daß wir unter dem Begriff »Feind« etwas verstanden haben, was es nicht gibt. Der »Feind«: das ist eigentlich nur jener Mensch, den wir nicht lieben durften, weil sonst das Geschäft des Krieges gestockt hätte.

Das Ende des Krieges hat gezeigt, daß alle Kriege gleich enden: mit Erschöpfung, Verwirrung, Hungersnot und Krankheit. Weshalb nur haben die, die Kriege aus eigener Anschauung kannten, nicht vor dem Kriege gesprochen und gewarnt, als so gewissenlos zum Kriege gehetzt wurde? Ich selbst gehöre zu denen, die bekennen müssen, daß sie nicht alles getan haben. Was Krieg bedeutet, das hatte ich in den Jahren 1905/06 in Afrika kennen gelernt. Ich war erfüllt von überraschenden Eindrücken, und eine innere Stimme sagte mir, ich müsse sprechen, müsse warnen. Aber ich sprach und warnte nicht.

Jetzt stehen wir Deutsche auf einem Trümmerhaufen, und wir stehen als Blinde darauf. Wir sind noch unbelehrt, noch ist kaum eine Spur von Besinnung, von Buße, von innerer Umkehr da, und gerade in diesen Tagen donnern Geschütze in der Stadt; kunstvolle Bauten werden zerschossen und Blut fließt auf das Straßenpflaster. Es herrscht also noch immer der große Irrtum, der nicht als Irrtum genannt wird: daß der menschliche Körper dafür geschaffen sei, von Geschossen getroffen zu werden. Es muß ein Irrtum sein, ein grauenhafter Irrtum, und es muß in anderen Menschen, die sonst so aussehen und einhergehen wie ich, die klare Erkenntnis fehlen, die ich habe: daß der menschliche Körper ganz und gar ungeeignet ist, ein Geschoß aus Metall in sich aufzunehmen, und daß auch menschliche Kunstwerke unmöglich dazu da sind, mit Granaten nach Kommando beschossen zu werden. Und dann ist da noch ein Hauptirrtum: daß es Feinde gebe. Es gibt keine! Es gibt nur einen Feind: die menschliche Dummheit, und die wohnt in unserer eigenen Brust.

Was in den Dezembertagen 1918 geschehen ist, beweist wieder den ganzen Irrtum und die ganze Gefahr des Militarismus. Hier ist die Waffe, der Sprengstoff, hier das Reglement, das vorschreibt, wie geschossen und gehauen wird, und hier ist der General, der sich rühmt, als »braver Soldat« unpolitisch zu sein und Befehle auszuführen und die »Ordnung« und Sicherheit zu schützen. Er rühmt sich, er tue seine Pflicht, wenn er im Namen der Ordnung, der Obrigkeit, der Sicherheit den Befehl gibt, Menschen zu töten, Menschenwerk zu zerstören. Er rühmt sich, daß er brav sei, wenn er keine Milde, Gnade übe und die Stimme des Gewissens verleugne. Er sagt, ich bin Soldat, und brüstet sich also noch, kein Mensch zu sein. Dieser General befiehlt Offizieren, die wieder sagen, sie seien brav, weil sie gehorchen und nicht denken, und die Offiziere befehlen Soldaten, die wieder gehorchen und in dem Glauben, daß ihr Gehorsam unter allen Umständen etwas Gutes sei, das Unglaubliche vollbringen, auf Befehl Kanonen abzufeuern, Flammen zu werfen, Menschen zu erstechen, obwohl jahrelange Erfahrung gelehrt hat, daß die Offiziere nur befehlen, aber nichts wissen, und deren Vorgesetzte noch weniger wissen; daß diese sogar schädliche Menschen sein können und es durch das gewissenlose Vertrauen der Masse oft auch geworden sind. Die Soldaten begehen die Gewissenlosigkeit, solchen Menschen immer noch Vertrauen zu schenken, nur weil sie eben Offiziere sind, und nicht zu fragen, worin denn die Gewißheit besteht, daß ein General die Begriffe von Freiheit, Menschlichkeit und Recht habe, die allein dazu geeignet machen, über Bewaffnete zu befehlen. Solange nun die Heeresmaschine besteht, wirkt die Suggestion, die diese Maschine schmiert; dem Befehl wird gehorcht, und erst nachdem das Verbrechen aus Unwissenheit und Beschränktheit der Generäle und aus dem Gehorsam unvergleichlicher Truppen geboren wurde und die Aufklärung beginnt, die ja jetzt nicht mehr unterdrückt werden kann, erst dann kann der Wille der Soldaten sprechen. Aber dann stehen die Toten nicht mehr auf, und nie kann es verstanden werden, weshalb deutsche Soldaten noch immer nicht wissen, was ein General ist und welch widersinniges Ding ein Geschütz, dessen Mündung auf Befehl gegen Menschen und Menschenwerk gerichtet wird. Weshalb dringt das, was gewiß ist, nicht in die Köpfe, in die Herzen? Weil die Wahrheit nicht oft genug gesagt wird, nachdem die Lüge und immer nur die Lüge das Wort hatte. Menschen müssen sprechen, sie sollen aussprechen, was ihr Herz bewegt und ihr Gewissen erschüttert. Und dann wird es sich zeigen, daß wir Menschen sind, und wir werden der Praxis der eisernen Stirn entgegensetzen die der menschlich offenen Reue.

Die Gehorsamen wissen noch immer nicht, was ein General ist. Nehmen wir an, er sei ein guter und ein edler Mensch, so ist er doch ein Mensch. Und wir tun unrecht, wenn wir in ihm nicht mehr den Menschen sehen und glauben, er leide nicht Schaden unter den Versuchungen, denen der Mensch durch seine Stellung ausgesetzt ist. Macht bessert den Menschen nicht. Wer einem Menschen Macht anvertraut, hat die Pflicht, ihn zu kontrollieren, sonst ist er mitschuldig an den Verbrechen, die er begeht. Bequem und gewissenlos handelt der, der einen Menschen mit den Vorrechten und dem Ansehen eines Generals ausstattet und ihm dann, wenn er großartig vor aller Augen steht, göttliche Weisheit zuschreibt, weil ein Betrieb in technisch guter Ordnung weiter läuft, wenn er befehlend oder strafend an der Spitze steht. Er ist ein Mensch wie du. Stell diesen Menschen in Uniform in das Stabsquartier, in das viele Telephondrähte münden, umgib ihn mit einem Stab betreßter Offiziere, die die Hand an die Mütze legen und die Hacken zusammenschlagen, leg ihm eine Karte mit einem Zirkel auf den Tisch: dort rechts stehen die Aufrührer, die – Feinde; hier stehen unsere unvergleichlichen Truppen. Die Entfernung ist so und so weit, die Uhr ist so und so viel. Ultimatum. Zehn Minuten. Alle Augen sehen auf ihn, den genialen, der noch einmal zum Zirkel greift, noch einmal nach der Uhr sieht und dann den kurzen Befehl gibt. Und dann, dann geschieht das Große: ein Mord, ein Verbrechen, das Evangelium wird geschändet und die Masse schaudert nicht, sie sträubt sich nicht, sie schämt sich nicht; sie jubelt, weil es kracht, weil Blut fließt, weil Eisenstücke Kunstwerke zerstören, an denen die Menschheit so lange und mit so viel Liebe gebaut hat. Der General aber ist ein Mensch, er ist es, wo er ohne Ordensschmuck allein ist. Du Klotz von Zeitungsleser kannst dir nicht vorstellen, daß dem streng blickenden Auge des Gewaltigen auch Tränen entquellen können, daß die Stimme, die schneidig ertönt, weil du es nicht besser verdienst, in Schluchzen erstickt, daß der Ekel vor deiner Sklavengesinnung durch eine weiche Hand verscheucht werden muß. Der General ist schuldig, er ist's; aber nicht der Mensch allein, nicht der Mann, sondern der unbegreifliche Gehirnzustand General. Hindenburg und Ludendorff: Das sind keine Menschen, keine großen und keine verbrecherischen. Ob es Männer dieses Namens gibt oder ob zwei andere Namen an ihre Stelle treten, ist höchst unerheblich. Sie sind ein Geisteszustand von Sklaven, ein Symbol der Unfreiheit eines Volkes, das Buße tun muß.

Meine Mitschuld am Weltkriege besteht darin, daß ich den Irrsinn des Krieges schon vor dem Kriege erlebt hatte und mich bestimmen ließ, mein Gewissen zu beruhigen, zu schweigen oder gar im üblichen Stil über solche Dinge zu sprechen. Ich nenne das Schuld, obwohl es auch wirkliche, unmittelbare Schuld am Kriege gibt. Mir ist, als ob das Denken der Menschen schon vor 1914 hätte geändert werden können, wenn jeder, der in Afrika oder China Krieg erlebte, als Mensch laut gesprochen hätte, anstatt zu dulden, daß er als Held gefeiert wurde. Es ist eine Schuld! Mitunter, als ich in schönen Sälen gutgekleideten Menschen meine Erlebnisse schilderte, beunruhigte mich die Art, wie diese Menschen meine Erlebnisse genossen, und daß sie die Wahrheit nicht hören wollten, daß sie enttäuscht waren, wenn ich ihnen zeigte, wie ich in Wirklichkeit dachte. Ich merkte, daß man das, was ich wirklich erfahren hatte, nicht hören wollte. Die Menschen waren unfähig, sich das Elend des Krieges vorzustellen und Schlüsse daraus zu ziehen; sie wurden sogar systematisch davor bewahrt, darüber nachzudenken, ob Krieg etwas Gutes und Notwendiges oder etwas Schlechtes sei. Ich verschwieg die Wahrheit und glaubte, die Menschen könnten reif werden, die Wahrheit selbst zu finden, wenn man die Betäubung von ihnen nähme, die aus den Gewohnheiten des täglichen Lebens entspringe. Ich fand, daß die Menschen sich täglich betäuben, um nicht zu sehen, was jeder sehen mußte, und ich schloß mich den Bewegungen an, die etwas Besseres aus den Menschen machen wollten, die den Rausch bekämpften und das Mitgefühl mit allem Lebenden weckten. Ich tat das, weil ich glaubte, Zeit zu haben, die Menschen zu bessern. Unterdessen ging aber die Lüge weiter, und das Volk wurde reif gemacht für die Kriegsstimmung des 4. August.

Ich habe nicht anders gehandelt, als viele andere es in meiner Lage getan hätten. Sie mögen zurückdenken und eingestehen, wie sehr wir Opfer anerzogener Vorurteile waren. Wie war denn unsere Bildung in früher Jugend? Soldatenspiel und Soldatenspiele; der Begriff des Erbfeindes wurde uns eingehämmert, wir wußten von Heldentaten gegen ihn und hörten nie von dem gemeinsamen Feind aller Menschen und von Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung. Wir wurden durch Spiel, Unterricht und allgemeine Stimmung geradezu lüstern gemacht auf Krieg, und als wir herangewachsen waren, lagen hinter uns Indianerspiele und der Gallische Krieg, vor uns die Aussicht auf Ansehen und Vorwärtskommen, wenn irgendwo ein Schuß fiel. In China, in Afrika und noch 1914 fand der ausbrechende Krieg Menschen vor, die für Krieg ebenso vorbereitet waren wie ich und dazu erzogen, jeden Zweifel zu unterdrücken. Bewußt oder unbewußt: Wir konnten, auch wenn wir die Greuel des Krieges erlebten, nicht die Wahrheit sprechen. Sobald der Ruf erscholl »Krieg!« wurden wir in ein Schema hineingerissen, und wehe uns, wenn wir uns dagegen sträubten. Ich sträubte mich dagegen; auf Schritt und Tritt fühlte ich die Unwahrheit dessen, was ich tat; litt unter den Widersprüchen, in die ich mit meinem Gewissen kam. Heute weiß ich, daß ich eine Schuld auf mich nahm, als ich mich verleiten ließ, das, was ich erkannt hatte, nicht zu bekennen, und mich nach den ersten vergeblichen Schritten zurückhielt. Gewiß, ich ging, als ich nach Deutschland zurückgekehrt war, zu den Generälen hin, die den Krieg verherrlichten und sagte ihnen: »Ihr irrt: Krieg ist nicht das, was Ihr darin seht, er ist ganz etwas anderes. Nichts an ihm ist frisch und fröhlich, nichts an ihm ist wahr und ehrlich, nichts ist klar; er beginnt mit Mißverständnis, wird mit Lüge geführt und endigt mit Verwirrung.« »Junger Mann,« sagte einer der Generäle, »was wissen Sie vom Krieg, wenn Sie sich in Afrika mit Negern herumgeschlagen haben. Ich habe drei Feldzüge mitgemacht ...« Und das war der Einwand, der am meisten wiederkehrte, wenn ich den Gedanken aussprach, daß Krieg etwas sei, was nicht mehr sein sollte: »Der Krieg, den Du mitgemacht hast, war nicht groß genug, um die Schönheit und den Nutzen des Krieges zu erkennen.«

Heute weiß ich, daß ich mich zu Unrecht habe einschüchtern lassen. Diese Generäle, mit denen ich sprach, waren nicht nur durch ihren Beruf und ihre einseitige Bildung Vorurteilen zugänglich, sie waren – es ist schrecklich, das zu denken – sogar geschäftlich daran interessiert, daß die Lüge von der Notwendigkeit und Heilsamkeit des Krieges weiter bestehe. Mein Jugenderlebnis in Afrika war doch so klar, und alles, was ich dachte und erfuhr, hat der große Krieg dann auch bestätigt.

Was ich im Jahre 1905 erlebte, war dies: Neger lehnten sich gegen die Bedrückung auf, bewaffneten sich und bedrohten die Weißen und ihre Helfer. Ich war damals Offizier auf einem Kriegsschiff an der ostafrikanischen Küste, und weil ich die Sprache jener Neger sprach und auf Jagdausflügen gezeigt hatte, daß ich mich im Lande zu bewegen verstand, wurde ich ausersehen, mit einer Matrosentruppe eine bedrohte Landschaft im Innern zu schützen. Das war eine einzig dastehende Gelegenheit, die Schwächen und Täuschungen kennen zu lernen, die dem Krieg anhaften. Ein schriftlicher Befehl sagte mir, ich solle einen Ort verschanzen und verteidigen und diesen Ort nicht verlassen. Es erwies sich aber als notwendig, daß ich schnell in das Innere des Landes vorstieß, um Aufständische zu bedrohen und friedliche Neger zu beschützen. Als es dabei zu Zusammenstößen kam, meldete ich Unschuldiger nichts von Gefechten oder Heldentaten, bis zu meiner Überraschung ein Telegramm kam, in dem mir sehr dringend nahegelegt wurde, von Gefechten zu melden. Man wollte also solche Dinge. Ich weiß nicht, ob ich eine Ausnahme bin, aber der Gedanke ist mir nie gekommen, daß Gefechte mir Orden und Ehren bringen würden und daß es für mich besser sei, wenn ich die Neger zu bewaffnetem Widerstand zwänge, anstatt sie durch Güte zu gewinnen. Im Gegenteil, ich fürchtete feindliche Gesten hervorzurufen, wo Neigung zu Frieden war. Aber ich sah deutlich, wie der Ehrgeiz andere trieb, Zusammenstöße zu suchen und hervorzurufen. Auf einem Marsch von mehreren Tagen in das Innere kam es zu solchen Zusammenstößen mit Negern, die wirklichen Widerstand boten. Aber nicht immer war es sicher, ob Freund oder Feind erschossen wurde, und einmal sagte mir in einem Maisfeld ein Sterbender, er und die Toten neben ihm seien fälschlich für Feinde angesehen worden. Das war schrecklich und kennzeichnet den Krieg. Nie werde ich die zerschossenen Menschen in der Sonnenglut zwischen den Pflanzen vergessen. Es ist so unsinnig, Menschen zu erschießen und zu erschlagen, ganz unsinnig aber, wenn es sich, wie immer am Ende des Krieges, herausstellt, daß nicht einmal das eine sicher war: Es war dein Feind, den du tötetest! Oft töten die Krieger aus Angst um ihr eigenes Leben, um sicher zu gehen, und das ist ihnen gar nicht mal zu verdenken; sie sehen Hinterhalt, sie fürchten Grausamkeit des Feindes, sie neigen dazu, sich selbst durch Abschreckung zu schützen, und Abschreckung wiederum ist ein Wahn.

Eines Tages wurden wir aus dem Hinterhalt beschossen und hatten Tote. Da war nur eine Stimme: Die Gefangenen von diesem Tage müssen erschossen werden. Sofort muß das geschehen, wenn wir hier hinauskommen wollen, Schwäche würde uns und das ganze Land gefährden, und es ist so Brauch. Allen leuchtete es ein, daß es recht sei, die Gefangenen zu morden. Es gab keine Grenze zwischen Notwehr und Mord. So ist die Seelenverfassung von uns schwachen Menschen im Kriege. Scharfmacherei, Mordlust, Mitleidlosigkeit, Gereiztheit regieren.

Ein Bote kam mit einem Brief. Der Absender war ein landeskundiger Offizier, der mit besonderer Wärme den Gedanken vertrat, der Neger müsse Prügel haben und der den Grundsatz hatte, 50 Hiebe mit der Nilpferdpeitsche seien das dem Neger angemessene Strafmaß, weshalb er unter dem Spitznamen »Herr Fünfzig« bekannt war. Dieser bedauernswerte Mensch schrieb: »Schonung und Milde sind nicht am Platze, nur äußerst strenge und exemplarische Strafen können die Situation retten.« Aus Angst also strafen die Menschen, aus Angst töten sie – gerade sie, die Krieger, die so tapfer und kühn erscheinen. Das fühlte ich wohl, aber ich fühlte auch, daß ich im Grunde zur Milde neigte, daß ich also kein rechter Offizier sei, und zerriß den Brief. Nach einigen Tagen hatte ich ein großes Gefecht, einen richtigen militärischen Erfolg mit so und so vielen Toten, worüber freudig nach der Heimat berichtet wurde. Da lagen nun die blutigen und verstümmelten Leichen; Geier kreisten über den Sandbänken des Stromes, und ein ehrgeiziger Kamerad rief: »Jetzt ist uns das schwarz-weiße Band sicher!« Die Neger waren eingeschüchtert; vielleicht hätte der Krieg jetzt zu Ende sein können, wenigstens dachte ich, ich könnte durch den Waffenerfolg den Frieden weit ins Land hinein sichern, da rief mich der Befehl eines älteren Offiziers zu einer Besprechung zurück. Der Brief begann: »Ich habe den Oberbefehl im Aufstandsgebiet übernommen ...« Was barg sich hinter diesem Satz? Ich merkte es bald: die Besorgnis, es könnten weitere Erfolge auf meinen und meiner Truppe Namen gehen. Zwei Offiziere redeten auf mich ein und brachten mich dazu, ihnen zu einem Vormarsch alle gesunden Soldaten zu überlassen. Als ich gar nicht einsehen wollte, was das bedeutete, gestanden sie schließlich: »Nehmen Sie doch Vernunft an, Sie haben Ihre Gefechte und Ihren Schwerterorden weg, jetzt wollen wir sehen, ob wir noch ein Gefecht haben können, bevor die Geschichte zu Ende geht.« Das scheint fast unglaublich! Entrüstet euch nicht; fragt euch mal, weshalb ihr Kriegsorden duldetet und bewundertet, wenn Orden so wirken! Der Krieger, dem Ordenszeichen winken, sucht Gefechte und bedauert, wenn ein Volk sanftmütig ist und sich nicht zur Wehr setzt. Nur so ist auch der Erlaß eines Gouverneurs zu verstehen: »Es werden künftig nur Schwerterorden beantragt, wenn auf der eigenen Seite mindestens zwei Mann fallen.« Dieser Gouverneur wußte sich also nicht zu retten vor denen, die im Innern feindliche Eingeborene entdeckten. Niemand darf sich wundern über Soldaten, die Kriege suchen, um Orden zu verdienen, denn es ist klar, daß Orden, so lange sie das gelten, was sie in Deutschland vor der Revolution galten, so wirken müssen, wie sie wirkten, und die Schuld an den Greueln, die wegen des schwarz-weißen Bandes verübt wurden, trifft das ganze deutsche Volk, das nichts für Freiheit und Demokratie tat und sich mit seiner Ehrfurcht vor Orden und Titeln und mit seinem Knechtssinn die Abneigung der ganzen Welt zuzog. Die afrikanischen Offiziere waren, einzeln betrachtet, prachtvolle Menschen, und ich kenne viele, deren Auftreten und Wirken vorbildlich war, aber sie standen im Zwange der Vorurteile, die nur durch den Befreiungskampf eines ganzen Volkes beseitigt werden konnten. Sinnlos ist auch immer die Entrüstung über die Fehler und Vergehen Einzelner. Dem ganzen deutschen Volke fehlte das Streben nach neuer Freiheit, fehlte das Gefühl für die lebendige Fortentwicklung der Formen, in denen Menschen zusammen sind, fehlte politisches Leben.

Am Ufer des Rufiji erlebte ich, vierundzwanzigjährig, etwas Ungeheures. Ich war Herr über Provinzen, war selbständiger Feldherr. Die Überlegungen und Entschlüsse, die in meinem Kopfe vor sich gingen, waren in ihrer Art dieselben, die Julius Caesar in Gallien, Xenophon in Kleinasien machten. Ich nahm die Schulbücher vor: den Gallischen Krieg. Den Marsch der Zehntausend. Ich staunte. So hatten diese Bücher früher nicht zu mir gesprochen. Anders also spricht ein Buch, wenn es ein militaristischer Lehrer, anders, wenn die Wildnis es uns vorliest. Der Reserveoffizier auf dem Katheder las die Gefechtsberichte Caesars so, als ob sich seit der Ausbildung der Zehnten Legion bis zu Hegel, Treitschke und Old Shatterhand nichts in der abendländischen Welt ereignet hätte. Da war doch mindestens das fünfte Kapitel des Matthäus und das unvergleichliche Wort: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe.« Da war Schopenhauer, war Dostojewski; war Lincoln, im Lande einer neuen Freiheit. Am Rufiji, wo der Behemot, das Flußpferd, brüllte wie zu Hiobs Zeit im Jordan, wo Leviathan, das Krokodil dem Fluß entsteigt und seine Spuren nachts um die Hütten drückt, fiel ein neues Licht auf Vercingetorix und die Nervier. Wir marschieren bewaffnet im Lande; sogleich entsteht der Begriff: der Feind. Wir suchen ihn, wir umstellen ihn, wir töten ihn: es ist nichts als eine Treibjagd, wie sie jeder Förster leitet, und man nennt uns genial. Das ist unerträglich.

Ich machte noch eine Erfahrung: Gerade so wie im Kriege sind wir Menschen auch im Gericht unwissend und unvollkommen. Auch hier leiten uns Vorurteile. Wir geben uns den Anschein, als wüßten und könnten wir etwas und werden als Richter geachtet und bewundert. Ich wurde eines Tages aufgefordert, mit anderen gemeinsam ein Kriegsgericht zu bilden, das einige sogenannte Haupträdelsführer aburteilen sollte. Die Unglücklichen wurden als Urheber des Aufstandes bezeichnet. Sie bestritten ihre Schuld. Aber sie waren in Ketten, und Askari mit scharf geladenen Gewehren führten sie über die Straßen und sprachen grob zu ihnen, und wir waren in Gefahr, von Aufständischen überfallen zu werden. So stand es fest: das waren Verbrecher, das waren Schuldige. Und man mußte sich das einprägen, diese ängstlichen, finsteren Gesichter: so sehen Verbrecher aus, die in solcher Zeit nur einen Lohn finden können: den Tod wegen Aufruhr, Hochverrat, Kriegsverrat, was weiß ich. Ich war Soldat und Offizier, ich durfte nicht schlapp sein, hier mußte ein Exempel statuiert werden. Es mußten auch Haß und Rachegefühle aufgebracht werden. Die armen Burschen beteuerten ihre Unschuld auf Kisuaheli, das der Vorsitzende des Gerichts schlecht verstand und auch ich noch nicht so, daß ich einen Menschen nach seiner innersten Meinung fragen konnte. Die Protokolle der Verhandlung wurden unterschrieben und die schuldig Gesprochenen feierlich vor versammeltem Volke an Bäume aufgehängt. Ich biß die Zähne zusammen: ich war doch Offizier. Aber was hier geschah, war so dumm, so unnütz, so schauderhaft. Hier wurde ich Gegner der Todesstrafe, weil ich deutlich sah, daß der Mensch nicht imstande ist, Richter zu sein. Wir waren doch die Richter, und wir wußten nichts, und das Volk stand auf dem Platze und hielt uns für sehr gewissenhaft, unfehlbar und weise. Als die »Verbrecher« in der Abendsonne an dem Mangobaume hingen, war ich überzeugt, daß es nie anders bei Hinrichtungen gewesen sei, daß es anderswo höchstens feiger herging als hier, da die, welche das Todesurteil aussprachen, meist nicht einmal den Mut haben, der Vollstreckung beizuwohnen. Aber eins merkte ich aus dem Verhalten der Menschen, aus Briefen und aus Reden: Die Zeit wurde größer dadurch, daß gemordet wurde. Leichen über Leichen, Tränen und Blut, Heldentum und Orden – das war große Zeit!

Ich kann nicht annehmen, daß wir alle, die wir damals durch das afrikanische Land zogen und Feinde hinter den Hügeln und Steinen vermuteten, besonders unklug, feige und beschränkt waren; vielmehr waren wir so, wie Menschen in solcher Lage sind und wie Menschen unserer Abkunft und Erziehung sein mußten, deshalb war es erlaubt, aus den Ereignissen dieses Krieges allgemein zu schließen: Der Krieg bringt uns Menschen in Schwierigkeiten, denen wir nicht gewachsen sind. Furcht und Vorurteile, besonders der lügnerisch erzeugte Haß gegen den Feind machen uns Menschen blind. Das ist unzweifelhaft, und als ich aus dem Kriege wieder unter Menschen kam, beherrschte mich das Gefühl, ich müßte büßen für jeden Toten, den ich gesehen hatte. Ich war erfüllt von Eindrücken, die mich beunruhigten, und hatte erfahren, wie leicht wir Menschen uns an den Krieg gewöhnen und Entschuldigung finden für unentschuldbare Dinge. Menschen werden getötet, Vorräte und Hütten verbrannt, Familien zerrissen, die Freiheit geschändet. Und das alles hat in Gefechtsberichten seinen besonderen, reizvollen Ausdruck. Verbindet G. J. Caesar mit dem Morde an einem gallischen Politiker eine schlaue Absicht, so wird hier ut mit dem Konjunktiv angewandt, und gerade so sachlich spricht Clausewitz vom Kriege, und eine Statistik über 1870 mit sauber untereinander gestellten Zahlen täuscht Rechenaufgaben, Schachspiel oder so etwas vor. Volksschullehrer, Oberlehrer, Pastoren, Professoren, Vereinsredner: alle sprachen sachlich und statistisch, bis in einem Millionenvolke jede Fähigkeit ausgedörrt ist, sich fremdes Leid vorzustellen. Dann ist es einheitlich feldgrau, williges Werkzeug und unter Hurrahgebrüll reif zu jeder Schandtat gegen die Menschheit »im unentwegten Vertrauen zur Obersten Gewaltleitung«, die von Zeus ist.

Die innere Stimme sagte mir, ich müsse jetzt zu den Menschen meines Volkes zurückkehren und sagen: Ihr seid Betrogene, wo immer Ihr von Krieg sprecht. Krieg ist etwas ganz anderes, als Ihr gelernt habt. Krieg ist etwas, das nicht mehr sein darf. Krieg kann schon deshalb nicht frisch und fröhlich sein, weil es zweifelhaft ist, ob es überhaupt Feinde gibt. Wir lassen uns einreden, Menschen seien uns feindlich gesinnt, wir greifen zu den Waffen, weil gesagt wird, sie hätten zu den Waffen gegriffen. Dann sprechen sie voll Mißtrauen und aus der Ferne zu uns, aus der man sich nicht versteht und Worte, während sie hin und her gehen, gefälscht werden, von denen, die den Krieg wollen. »Den will niemand?« Ach, sie wollen ihn alle: die Irregeführten, die Gelangweilten, die Gewinnsüchtigen, die Spieler, die Verkrachten, die Ehrgeizigen, die Lebensmüden und von Liebessehnen Verzehrten. Dann ist der Krieg auch ein einziges Mißverständnis. Ihr sprecht von so und so vielen Toten und Verwundeten, und Zahlen täuschen Euch über das Leid hinweg. Es wird Euch Freude suggeriert, weil diese Zahlen so oder anders sind. Unsinnig aber ist es, Tote zu zählen; gemessen werden kann nur die Schuld und geahnt das Leid, das durch sie hervorgerufen wurde.

Ich machte die Erfahrung, daß, wo der Krieger regiert, der Mensch nichts gilt; aber mehr: Gerade der Krieger erkennt auch als ehrgeiziger Mensch oft nicht das Gemeinsame an, das man Vaterland nennen könnte. Wo es so etwas gibt, wie das gemeinsame Interesse eines Volkes, das in bestimmten Grenzen wohnt, da muß auch der gemeinsame Wille und Wunsch bestehen, einen Krieg schnell zu beenden – ohne Rücksicht auf persönliches Hervortun. Das System der Orden und Ehren bewirkt aber, daß jeder nur seine Person und nicht die Sache will. Die Möglichkeit, die Unruhen zu beenden, wurde nicht benutzt, wenn dabei die Ehren nicht dem zufielen, der über die militärischen Machtmittel zu verfügen hatte. Der ehrgeizige Kommandierende eines kriegerischen Unternehmens verzichtet auf die Hilfsmittel, die ihm ein anderer zur Verfügung stellen kann und opfert lieber seine eigenen Truppen, ehe er zuläßt, daß ein anderer sich rühmen kann, geholfen zu haben. So handeln Menschen unter dem Einfluß von Orden und Ehren; so müssen sie handeln, und das Volk, das gedankenlos solche Dinge bestehen läßt, trägt daran die Schuld.

Ich war in Afrika in einer seltsamen Stimmung. Ich verachtete alles Waffentragen. Ich war anders als die Scharfmacher. Und ich zweifelte daran, ob ich ein Krieger sei, ob ich Mut habe. Deshalb ging ich dem gefährlichen Großwild zu Leibe, ging zwischen Elefanten und photographierte sie aus einer Nähe wie niemand zuvor, ging zu den Löwen im hohen Grase. Nichts rührte mich. Ich blieb auch gleichgültig, wenn auf mich geschossen wurde, und wußte, wenn ich mich ehrlich prüfte, daß ich im Grunde dennoch feige war. Ich merkte, Kriegermut ist nicht groß, er ist Kadavergehorsam, Gedankenlosigkeit, Mangel an Phantasie, Gleichgültigkeit.

Das also waren meine Gedanken, als ich aus dem »kleinen«, dem afrikanischen Krieg zurückkehrte. In welcher Geistesverfassung aber fand ich die Menschen, die ich belehren wollte, was Krieg sei? Sie bewunderten das, was ich für Verbrechen hielt, sie nannten Härte und Gedankenlosigkeit starke Eigenschaften und bestimmten mich, von meinen Erlebnissen ganz anders zu sprechen, als ich es wollte. Es gefiel ihnen nicht, wenn ich die Wahrheit sagte. Die Frauen hörten es nicht gerne, sie waren gewohnt, von Aufständischen, von feindlichen farbigen Völkern zu hören, von der Abrechnung mit kriegerischen Stämmen, von Gefechten, von Siegen. Deshalb sagte ich mir: Alle diese Menschen sind betäubt, betrunken. Der nüchterne Verstand muß die Dinge so sehen, wie ich sie sehe, und ich glaubte zu erkennen, daß tatsächlich die tägliche Betäubung die Menschen unfähig macht, die Stimme ihres Gewissens zu hören.

Ich lernte auch Menschen kennen, die gegen den Krieg kämpften und tauben Ohren predigten, und fand alles richtig, was Bertha v. Suttner, A.H. Fried und andere mutig aussprachen. In einer Versammlung war es, als ein Agitator des Wehrvereins sagte: wir brauchten mal wieder einen frischen, fröhlichen Krieg. Da trat ich auf und sagte, ich wisse nicht, ob der Redner Krieg schon aus eigener Anschauung kenne, ich hätte schon vor der traurigen Notwendigkeit gestanden, Menschen töten zu müssen, versicherte aber, daß ich nie aufhören werde, darüber nachzudenken, wie sich so etwas vermeiden lasse. Jubel erhob sich bei meinen Worten. Der Redner sprach noch einmal und sagte etwas vom Vaterland, an das man sich anschließen müsse; er wurde ausgelacht. Dafür rächte er sich, indem er einen verleumderischen Aufsatz über meine Worte in die kriegshetzerischen deutschen Zeitungen brachte. Die Leser dieser Zeitungen, höhere Offiziere, reagierten prompt. Sie sandten den Aufsatz an das Ehrengericht, vergaßen aber auffallenderweise dann auch meine Berichtigung einzusenden, die einige Tage später an derselben Stelle erschien. Das ist das treue deutsche Gemüt. Ich wurde ein Jahr lang von den Ehrengerichten verfolgt. Ich war als Pazifist, als Demokrat bekannt, und was ich gegen den Krieg unternehmen wollte, scheiterte an dem wohlorganisierten Widerstand der Militaristen und an der Teilnahmslosigkeit der Massen. Eines Tages besuchte ich den Gründer des Wehrvereins. In meiner Unschuld glaubte ich, dieser Mann wolle in seiner Art Gutes und sei nur unbelehrt. Ich sagte ihm, seine Reden bewiesen, daß er das Programm der Friedensgesellschaft gar nicht kenne, er solle es einmal durchlesen, es sei nur eine Seite lang. »Nein, ich will das nicht!« schrie er mich an. Dasselbe sagte mir der Generalfeldmarschall des Jungdeutschlandbundes.

Weshalb sagte ich das, was ich erkannt hatte, nicht immer wieder laut und öffentlich? Weil ich dann meinen Titel verloren hätte, mit dem ich als Herausgeber auf einer Zeitschrift stand und den meine Freunde im deutschen Volke benutzen wollten, um das, was wir für gut hielten, zu verbreiten. Ich konnte also die Wahrheit nicht sagen, weil ich den Titel nicht verlieren durfte, der der Verbreitung der Wahrheit dienen sollte, in diesem der Erkenntnis sonst unzugänglichen Volke.

Darüber kam der Krieg. Er kam? Er wurde vorbereitet. Milliarden wurden für Rüstungen bewilligt und nichts für das Studium der Friedensfrage, des Völkerbundes, eines neuen Völkerrechts. So kam er, während wir nur Halbes taten oder nichts taten und die Lüge unter uns duldeten, wie wir sie noch jetzt dulden, wenn nur irgendeiner mit eiserner Stirn vor uns hinzutreten wagt, der an dem Verbrechen mitschuldig ist, nicht nur schuldig durch Unterlassung, sondern durch die Tat. Darum bekenne jeder, was er unterlassen, was er getan hat, rechne ab mit sich und seiner Vergangenheit, dann büße er und beginne ein neues Leben im Geiste und in der Wahrheit.

Wenn das, was nötig ist, in eine Formel gefaßt werden kann, so ist es die: Wir bekennen, daß wir schuldig sind als Volk und wollen dafür büßen. Unsere Schuld besteht darin, daß wir unter dem Druck unserer Erziehung und in dem Vorurteil unserer Vergangenheit nichts für die Freiheit taten, so daß wir schließlich in den Händen von Verbrechern zu gefügigen Werkzeugen der Unterdrückung wurden. Wir bekennen uns jetzt zur Freiheit und Menschlichkeit und beweisen das dadurch, daß wir erklären, mit denen, die uns belogen und betrogen haben, nichts mehr gemein zu haben. Der 9. November hat uns die Freiheit gegeben zu sagen, daß wir über die Verbrechen dieses Krieges wie Menschen denken und fühlen. Sagen wir das, so sind wir aufgenommen in der Gemeinschaft der Völker, und die Brüder jenseits des Rheins können, wenn wir wieder einmal ohne Brandfackel und Handgranate, ohne Giftgas zu ihnen kommen, trotz allem Leid, das wir ihnen brachten, nicht mehr sagen: ce sont les mêmes; souvenez-vous. »Denkt daran, es sind dieselben!« Als solche, die sich haben mißbrauchen lassen, wollen wir Besiegte sein und es dem Sieger möglich machen, uns wieder gelten zu lassen. Dazu müssen wir uns in die Seele des Siegers hineinversetzen. In einem Buche Montaignes sah ich aus Claudian einen merkwürdigen Satz: Es gibt keinen wahren Sieg als den, welcher die Feinde zwingt, ihre Niederlage einzugestehen und dergestalt auch ihren Geist bändigt. ( Victoria nulla est quam quae confessos animo quoque subjugat hostes.) Dazu bemerkt Montaigne, daß selbst die kriegerischen Ungarn dem Besiegten, der sich unterwirft, keinerlei Lasten auferlegen. So etwas vermitteln uns deutsche Professoren nicht, die nur von Nibelungentrotz sprechen.

Wir müssen aufhören, von unseren »Gegnern«, von unseren »Feinden« zu sprechen; wenn wir Menschen sind, haben wir keine Feinde; sind wir aber Werkzeuge der Gewalt und Lüge, wie sie bisher bei uns herrschten, so haben wir alles, was menschlich fühlt, gegen uns. Es gibt nur einen Feind, das ist die Dummheit und Schlechtigkeit in uns und der fehlende Wille, sich davon zu befreien. Viele Jahrzehnte lang sind alle edlen und freien Menschen in Deutschland entweder zerrieben worden, oder sie wanderten aus. Jetzt haben sie auch in Deutschland eine Stätte, aber ihr Haus muß hell und luftig und wohnlich sein, in keinem Winkel darf der Staub des überwundenen Zeitalters liegen, und wir dürfen auch nicht mehr das Leben von Knechten führen. Ist der Kadavergehorsam wirklich tot, so muß auch das Kind bei uns frei sein, und wer ein Kind prügelt, gehört nicht in unsere Gemeinschaft. Ist wirklich Revolution, so muß noch anderes verschwinden: das Mißtrauen gegen andere Menschen. Der Polizei- und Untertanenstaat arbeitete mit diesem Mißtrauen, er schuf Sklaven und frohlockte, wenn sie schlecht waren und sich untereinander bekämpften.

Was hätte uns Deutsche in den Jahren nach 1900 zur Besinnung bringen können, wenn nicht der Vergleich mit der Fremde und mit der Wildnis? Denn was Hölderlin, Platen, Börne, was Schopenhauer, was Lassalle, Engels, was Herwegh, Nietzsche im eigenen Lande über uns gedacht hatten, das war über die Köpfe der Deutschen hingezogen wie ein Flug Kraniche.

Vom Kriege 1870 an begann die Überhebung, das herausfordernde »Deutschland über alles«, das uns blind machte. Vergeblich warnte Georg Herwegh vor dem Übermut der Siegreichen:

»Sie werden mit verschmitzten Händen
Entreißen euch des Sieges Frucht;
Sie werden euren Lorbeer schänden,
Daß euch die ganze Welt verflucht.«

So warnte er:

»Dies Volk, das seine Bäume wieder
Bis in den Himmel wachsen sieht,
Und an der Erde platt und bieder
Am Knechtschaftskarren weiterzieht.«

Wir sahen nicht, daß wir nichts für die Freiheit taten, und dadurch anderer Völker Freiheit gefährdeten. Wir zeigen auch heute noch nicht, daß wir wissen, was Freiheit ist.

Es ist wahrscheinlich, daß aus dem Leid die große Belehrung kommt, und es wird Großes aus Deutschland kommen, vielleicht gerade durch die Erniedrigung. Wir können es nicht ausdenken. Das Leid ist bei vielen Menschen so unsagbar groß, daß alles, was noch kommen kann, sinnlos erscheint, und viele sind so zerschlagen, daß sie nicht einmal den Wunsch äußern können, es möge Gerechtigkeit gelten. So schwach ist das deutsche Volk geworden. Aber nur aus dem Willen nach Gerechtigkeit kann neues Leben zwischen den Völkern kommen.


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