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Mein Lebenslauf

Schneidemühl, 26. November 1917

Ich wurde in Rostock in Mecklenburg am 3. April 1881 geboren. Mein Vater war dort Professor und Reichstagsabgeordneter. Meine Kinderjahre verlebte ich in Marburg, wo mein Vater an der Hochschule lehrte und in der Stadtverwaltung als Stadtrat mitwirkte. Meine Eltern lebten glänzend in einem großen Hause mit Garten, Pferdestall und Reitbahn. Meine Schwester ist ein Jahr älter als ich, und wir hatten zeitweilig gemeinsam eine Erzieherin, mitunter eine Französin. Mein Vater ließ mich viel wandern, reiten und turnen und regte mich an für Naturliebe und Zeichnen. Meine Mutter hielt auf Musik. Ich erhielt früh Violinunterricht, und sie begleitete mich auf dem Klavier. Sie liebte Schiller, bekämpfte Goethe und war gegen Fabulieren. Daß sie mich wegen meiner Begabung bevorzugte, entfremdete mich meiner Schwester, deren ganz andere Gaben nicht anerkannt wurden. Sie fühlte sich auch im Elternhaus nicht wohl und ging in eine Pension. Ich war zwölf Jahre alt, als meine Eltern nach Berlin zogen, weil mein Vater sich wieder in den Reichstag hatte wählen lassen. Ich kam in Berlin auf das Joachimstalsche Gymnasium. Meine Ferien verbrachte ich regelmäßig auf dem kleinen Landgute, das mein Vater in der Provinz Posen gekauft hatte. Meine Eltern hatten immer den Wunsch, ich sollte Professor werden. Ich ging aber in Unterprima von der Schule weg, weil ich gesundheitlich litt und wurde Seekadett. Mein Vorgesetzter, ein Sohn des berühmten Moritz von Egidy, lobte meinen Eifer und nannte mich in meinem Zeugnis vielseitig begabt. Das ärgerte meine späteren Vorgesetzten, und ich bekam das schon auf der Marineschule zu fühlen. Meine Entwicklung wurde dadurch beeinflußt, daß ich aus Freiheitsgefühl von Hause aus ein Gegner der Trinksitte war, nicht rauchte und nur in der Gesellschaft verkehrte. Ich hatte deshalb ohne erheblichen Zuschuß vom Vater immer Geld für Bücher, Musik und Theater. Ich war in Kiel in einer Professorenfamilie und in Wilhelmshaven im Hause des kommandierenden Admirals wie ein Kind der Familie. Herbst 1903 kam ich auf die Militärturnanstalt nach Berlin und wohnte bei meinen Eltern. 1904 wurde ich auf den kleinen Kreuzer Bussard nach Ostafrika kommandiert. Ich war bald mit Land und Leuten und mit der Landessprache, dem Kisuaheli, so vertraut, daß mir, als der Negeraufstand 1905 ausbrach, auf besonderen Wunsch des Gouverneurs, des Grafen Götzen, ein Kommando in das Innere des Landes anvertraut wurde. Es wurde dann anerkannt, daß ich durch mein Vorgehen auf dem Nordufer des Rufiji die Aufstandsbewegung auf den Süden der Kolonie beschränkt habe (Tätigkeit der Kaiserlichen Marine im Aufstand von Ostafrika. Amtlicher Bericht, erschienen bei Ernst S. Mittler, Berlin und Graf Götzen: Deutsch-Ostafrika im Aufstande, Dietrich Reiner, Berlin). Ich hatte außer einer farbigen Truppe zuerst eine Abteilung Matrosen, später nur einen Sanitätsunteroffizier bei mir, blieb sieben Monate im Lande und brachte gründliche Kenntnisse mit. Nach meinem Kommando an der ostafrikanischen Küste verbrachte ich mehrere Monate Urlaub in der Massaisteppe. Fieber hatte mich so mitgenommen, daß ich in Deutschland mehrere Monate Erholungsurlaub nehmen mußte. Ich verlobte mich mit Ellen Witting, der ältesten Tochter des Geheimen Regierungsrats Richard Witting, der damals Direktor der Nationalbank für Deutschland war, nachdem er jahrelang im Dienste der Verwaltung gestanden hatte, zuletzt als Oberbürgermeister von Posen. Die geistige Regsamkeit und Wahrheitsliebe meines Schwiegervaters und das vorbildliche Familienleben in seinem Hause hatten einen wohltätigen Einfluß auf mich. Über meine Erlebnisse in Ostafrika schrieb ich ein Buch: »Im Morgenlicht«. Der militärische Frontdienst fiel mir jetzt sehr schwer. Ich sehnte mich nach Afrika zurück und hatte kein Interesse für die Waffenausbildung. Ich ließ mir kleine Nachlässigkeiten im militärischen Dienst zuschulden kommen. Der damalige Flottenchef, Admiral von Holtzendorff, redete mir selbst noch zu, ich sollte mich überwinden, es kämen dann später bessere Stellungen für mich, ich dachte aber an meine Pläne für Ostafrika und wollte meinen Abschied. So wurde ich mit dem Charakter als Kapitänleutnant im Frühjahr 1909 entlassen. Einige Monate vorher hatte ich geheiratet und reiste nun mit meiner Frau auf ein Jahr nach Innerafrika, wo wir ein ganzes Jahr blieben. Wir besuchten den Viktoriasee und die Gebiete Ruanda und Urundi. Nach der Rückkehr wohnte ich in Berlin-Westend, war Geschäftsführer der Deutschen Nyanza-Schiffahrtsgesellschaft und beschäftigte mich viel mit Kolonialfragen. Sanitätsrat Dr. Strecker forderte mich auf, mit ihm zusammen als Herausgeber der Zeitschrift »Die Abstinenz« zu zeichnen, und im Jahre 1912 gründete Dr. Hermann Popert mit mir die Halbmonatsschrift »Der Vortrupp«, die inzwischen sehr bekannt geworden ist. Das brachte mich mit vielen Menschen und Ideen in Berührung. Ich hielt viele Vorträge über Kolonien und Reform und schrieb Leitaufsätze für den Vortrupp. Das alles war unentgeltlich, wie ich auch die Geschäfte des von Oberst Gallus gegründeten Kolonialen Verkehrsvereins ehrenamtlich führte. Der »Vortrupp« stand der Parteipolitik fern. Wir erhofften alles für unser Volk von der Lebensreformbewegung. Die akademische Jugend und die junge Lehrerschaft kamen uns begeistert entgegen. Große Bedeutung legte ich auch dem Schneeschuhlauf bei, den ich als Schüler von Matthias Zdarsky selbst eifrig betrieb und über den ich im Vortrupp schrieb. Auf dem Freideutschen Jugendtage im Herbst 1913 aber wurde mir klar, daß die Grundlagen für eine deutsche Zukunft nur geschaffen werden konnten, wenn man tiefer grub, als es mir mit meiner geistigen Ausrüstung möglich war. Besonders war es nötig, daß ich meine vorwiegend naturwissenschaftliche Bildung durch Philosophie und Geschichte der Kultur ergänzte. Die Weltereignisse zwangen dann auch die Reformer von früher, sich neue Ziele zu stecken, und ich habe seit Beginn des Krieges nichts Erhebliches schreiben können. Seit 1912 kenne ich die Ernährungsfragen und die vegetarische Bewegung, seit 1913 den Pazifismus. Auch der Weltsprachenfrage habe ich im »Vortrupp« Geltung verschafft. Im Jahre 1913 wurde ich auf meine Bitte in die Liste der nicht zum Tragen der Uniform berechtigten Offiziere eingetragen. Ich kam bei meiner schriftstellerischen Tätigkeit in Gefahr, unschuldig durch Gegner in ehrengerichtliche Untersuchungen verwickelt zu werden, die meine Arbeit lähmten.

Bei Beginn des Krieges stellte ich mich der Marine wieder zur Verfügung. Ich wurde Nachrichtenoffizier auf dem Leuchtturm Rotersand und Oktober 1914 Erster Offizier auf S.M.S. Pelikan. Der Kommandant war Fregattenkapitän v. Bülow. (Wilhelmshaven, Adalbertstraße). Im Juli 1915 wurde ich zur II. Torpedodivision nach Wilhelmshaven kommandiert. Ich wurde Kompanieführer der 7. Kompanie. Mein Kommandant war Korvettenkapitän Kalm (Gronau bei Hannover), der Kommandeur der Division Kapitän zur See Köthner, bald darauf Kapitän Studnitz, der hier auf seinen Abschied wartete, und nach ihm Kapitän Lübbert. Am 31. Januar 1916 wurde ich entlassen.

Als ich mich wieder zum Dienst in der Marine meldete, war es meine Absicht, der Sache des Vaterlandes mit allen Kräften zu dienen und auch die besonderen Kenntnisse, die ich mir in den letzten Jahren erarbeitet hatte, im Dienst nutzbar zu machen. Ich rechnete nur mit einer kurzen Kriegsdauer und dachte auch gar nicht daran, daß ich selbst bei dieser Gelegenheit Gehalt bekäme. Ich dachte nur an die Sache und nicht an meine Person. Ich war überrascht, als man mir nach einigen Monaten eine hohe Summe auszahlte. Ich bemerke gleich, daß im Kreise meiner Kameraden niemand annahm, daß inaktive Offiziere sich aus anderen Gründen als wegen materieller Vorteile gemeldet haben könnten: Daraus erklärt sich auch eine gewisse verächtliche Zurückhaltung, die ich nie zu deuten wußte. Die Auffassung, daß der Kriegsdienst, besonders der gefahrlose, zu dem die meisten bestimmt waren, eine Versorgung sei, trat mir immer häufiger entgegen und stieß mich ab. Auch merkte ich, daß meine Kameraden für den uneigennützigen Kampf, den ich für die Gesundung des Volkes geführt hatte, kein Verständnis hatten, weil sie annahmen, ich verdiene damit Geld! So sehr ich die große Uneigennützigkeit einzelner Offiziere zu würdigen wußte, es wurde mir klar, daß das Denken des Standes in seiner Gesamtheit rein materiell gerichtet war.

Als ich meine Tätigkeit begann, dachte ich, meine lebhafte Bereitwilligkeit werde gern gesehen. Ich richtete meine Hauptaufmerksamkeit auf zwei Fragen, die mir besonders nahe lagen: den Geist der Besatzung und die Sparsamkeit mit Nahrungsmitteln. In beiden hatte ich Eigenes, Neues, was sich im Verlauf des Krieges als so sehr richtig gezeigt hat. Ich hatte in Afrika erfahren, wie bald in Kriegszeiten unerwartet Lebensmittel knapp werden, und daß die Entscheidung sehr von der Ernährung abhängt. Als ich auf S.M.S. Pelikan mein Bestes tat zu lehren, wie man mit wenig Fleisch satt werde, ahnte noch niemand, welchen Raum bald Ernährungsfragen bei uns einnehmen würden, und mein Aufruf »Vaterland höre uns«, in dem ich schon am 16. August 1914 aufforderte, das Korn voll auszumahlen und kein Bier zu brauen, trug mir selbst von meinen Eltern den Tadel ein: »Komm doch jetzt nicht mit solchen Dingen!« Wie wichtig aber gute geistige Beschäftigung der Mannschaft ist und daß es verdienstvoll war, sich mit der Frage zu befassen, das zeigen wohl die bedauerlichen Vorgänge, die in diesem Jahre aus der Marine berichtet wurden. Sie waren für meine Tätigkeit die beste Rechtfertigung. Ich habe immer geglaubt, meine Versuche in der Pflege des Geistes würden oben bemerkt werden und hoffte, es würde mir eine größere Tätigkeit in der Richtung gegeben werden. Daß ich Erfolg hatte, bewies die Mannschaft, indem sie durch erhöhte Dienstfreudigkeit und Straflosigkeit dankte. Bei den Offizieren, die einem inaktiv gewesenen Offizier nicht gern Bedeutung beimessen, mußten die neuen Ideen wohl, wie alles Neue, auf Widerstand stoßen, besonders auch, weil ihr Erfolg davon abhing, ob sich der Vorgesetzte selbst zu einer anderen Lebensweise entschloß. Ich war überzeugt, daß man dem Matrosen seine übliche Lebensweise nehmen und ihm dafür etwas Besseres geben könnte. Gute Gesellschaft, Wanderlust, Natur- und Heimatliebe, Musik, das Volkslied, guten Lesestoff und bildende Kunst. Durch meine bisherige Tätigkeit wußte ich, wie alle diese Dinge zu beschaffen waren. Bei einem großen Teil der Mannschaft und bei einigen Offizieren fand ich lebhafte Unterstützung. Mein Kommandant fürchtete sich vor Neuerungen, beschäftigte sich aber dauernd mit meinen Ideen und ließ mich in vielem gewähren. Er war aber nicht der Mann dazu, mich im Kreise seiner Kameraden und nach oben zu vertreten. Ich war viel mit ihm zusammen, auch in seinem Hause. Er blieb schließlich bei dem Vorurteil, daß ein Offizier nicht abstinent sein dürfe. Als er bei einer Gelegenheit aufgefordert wurde, über mich zu berichten, wird er geschrieben haben, was in anderen Berichten über mich steht, daß ich ein sehr vielseitiger, eifriger Offizier sei, für den eigentlichen Militärdienst aber nicht genug übrig hätte. Daran ist viel Wahres; ich habe aber immer das Gefühl gehabt, daß man dazu neigt, einen Kameraden, der etwas Besonderes bringt, in dem, was jeder zu leisten hat, Fähigkeiten abzusprechen. Ein Verband der Alkoholinteressenten zeigte mich dem Reichsmarineamt an, ich hätte in der Vereinszeitschrift »Abstinenz« als Offizier gegen den Alkohol geschrieben, und im Marineamt wanderte die Anzeige nicht in den Papierkorb, sondern wurde dort und von dem Flottenchef, dem inzwischen verstorbenen Admiral Pohl, sorgfältig bearbeitet. Es handelte sich um einen Aufsatz, in dem ich der Behauptung entgegentrat, an der Front sei der Alkohol notwendig. Der Aufsatz war schon vor Monaten erschienen und nur den Abstinenten bekannt geworden. Der genannte Verband der Alkoholinteressenten ist übrigens inzwischen als ein Unfug erkannt und vom Generalkommando unterdrückt worden. Als ich S.M.S. Pelikan verließ, bereitete mir die Besatzung einen Abschied, wie er wohl selten einem scheidenden Vorgesetzten zuteil wird. Der Kommandant war darüber recht erstaunt. Er selbst hat es sehr bedauert, daß ich weggehen mußte. Es war mir ein Ersatz für die fehlende dienstliche Anerkennung, die mir meist versagt blieb. Ich gebe noch eine kurze Darstellung dessen, was ich für den Geist der Mannschaft tat:

Ich hielt Vorträge und ließ Vorträge halten. Ein Lautenspieler und ein plattdeutscher Dichter kamen an Bord. Der Dürerbund lieferte vaterländische Postkarten. Die Schundkarten wurden verdrängt. Die Gesellschaft für Volksbildung und die Büchereien vom Roten Kreuz sandten Bücher. Die Jugendvereine Kiels wanderten mit den Matrosen, die Guttempler stellten ihre Räume für die Beurlaubten zur Verfügung. Bei einem Aufenthalt in See gab es eine Ausstellung von graphischer Kunst, von Plakaten, die mir der Verein der Plakatfreunde zur Verfügung stellte. Ich zeigte eigene Lichtbilder aus Afrika. Viele Flugblätter und Schriften über Lebensreform, Kriegerheimstätten und die Bestrebungen des Dürerbundes, auch gute Liederbücher wurden verbreitet.

Ich zeigte, wie man dreißig Prozent der Kartoffeln sparen könnte, wenn man die Kartoffeln, statt sie zu schälen, abrieb. Meine Anregung wurde von den Behörden aufgenommen und hat früh zu großen Ersparnissen geführt. Ich hatte einen großen Plan, die geistige Beschäftigung der Mannschaft der ganzen Flotte zu organisieren, fand aber keine Möglichkeit, meine Gedanken anzubringen. Mit S. Kgl. Hoheit, dem Prinzen Heinrich von Preußen, sprach ich etwa eine halbe Stunde, mein Kommandant riet mir aber ab, den Prinzen nochmal aufzusuchen; er sagte, man vermute nur, ich wolle etwas für mich, und ich würde doch nicht vorgelassen. Der Prinz war übrigens über das, was ich ihm vortrug, sehr überrascht und äußerte: »Da muß ich so alt werden und dann auf dies Schiff kommen, um so etwas zu hören«. Das gleiche Interesse zeigte Admiral Lick, der mich eine ganze Stunde lang anhörte, und dem ich schon damals voraussagte, daß die übliche Beschäftigung der Mannschaft für diese Zeit nicht genüge. Zu ihm äußerte ich auch die Erfahrung, die ich aus Afrika mitgebracht hatte, daß das sicherste Mittel, die Disziplin und Stimmung der Mannschaft zu beherrschen, sei: an Bord gleiches Essen für alle. (Bekannt ist ja der Vers »Gleiche Löhnung, gleiches Essen, und der Krieg wär' längst vergessen!«)

Als ich nach Wilhelmshaven ging, wußte ich, daß meine Umkommandierung eine Maßregelung war für meine Betätigung gegen den Alkohol. Die abstinenten Offiziere hatten in dieser Zeit einen besonders schweren Stand; die Ermahnung des Kaisers hatte gar nichts geholfen. Ich sagte mir, daß ich eigentlich nicht zum Dienst für das Vaterland gekommen sei, um mich für das Beste, was ich zu geben habe, maßregeln zu lassen und wollte meinen Abschied nehmen. Der Kommandeur der II. Torpedodivision aber, Herr Kapitän Köthner, empfing mich so freundlich, daß ich nichts davon sagte. Er schlug mir vor: »Sie müssen mir einen frischen Geist in die ganze Division bringen, die Leute aus den Kneipen auf die Sportplätze und in Vorträge locken; machen Sie mir mal einen Plan, was Sie als Sportoffizier tun wollen.« Das war nun mein Fall, und ich ging mit Eifer an die Arbeit. Was ich jetzt unternahm, bekam bald einen gewaltigen Umfang und hätte mir außer der Anerkennung aus dem Kreise gleichgesinnter Offiziere und dem Beifall der Mannschaft auch die Anerkennung von oben eingetragen, wenn nicht Kapitän Köthner leider, als die Sache in Gang war, plötzlich abgelöst worden wäre, durch einen Herrn, der nur Ruhe wollte. Ich hatte die Unterstützung nicht mehr und meine Unternehmungen wurden verboten. Der Mannschaft und allen denen, die den Erfolg erlebt hatten, war das unbegreiflich.

Der Sportverein der Torpedodivision hatte in kurzer Zeit viele hundert Mitglieder bekommen. Jeden Sonntag wurde eine große, planmäßig vorbereitete Wanderung in das Oldenburger Land unternommen. Köche reisten voraus. Ein Chor von Sängern schloß sich zusammen und übte in der Woche. Lautenspieler gingen, nach Art der Wandervögel, an der Spitze. Auf der Landstraße wurden Wettgehen abgehalten, auf Wiesen Freiübungen nach Musik geübt. Alkohol und Tabak waren ausgeschaltet. Die ältesten Seeleute hatten ihre Freude daran und sahen ein, daß das die Bedingung war für das gute Gelingen. Die Landbevölkerung rühmte das gute Benehmen der Mannschaften im Gegensatz zu früheren Erfahrungen. Leider stand das auch ohne mein Verschulden eines Tages in den Zeitungen, sehr zu meinem Schaden; denn der Offizier darf nicht auffallen. Als einen Zeugen dafür, daß diese Wanderungen bei der Bevölkerung gern gesehen und anerkannt wurden, nenne ich den Oldenburger Landtagsabgeordneten Gemeindevorsteher Nilken in Borgstede bei Varel. In die Kasernen kam nun wirklich ein frischer Zug hinein; die Mannschaften hatten etwas, was sie beschäftigte und begeisterte. Aus Süddeutschland sah ich Briefe, die zeigten, wie die Leute nach der Heimat berichteten. Ich half durch Vorträge, die grundlegenden Gedanken zu verbreiten. Die großen Säle waren dabei überfüllt. Auf die Wachstuben stellte ich Büchereien von der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung und setzte viele andere gute Bücher in Umlauf, wobei mich der Bibliothekar der Stationsbibliothek, Herr Kirsten, unterstützte. Ich gab Unterricht in der Stenographie. Es entstanden viele Photographien von den Wanderungen und Turnübungen, Tagebücher und Skizzenbücher füllten sich, Anregungen kamen von allen Seiten aus der Mannschaft selbst, und gern hätte ich eine Zeitung herausgegeben; der Kommandeur aber fürchtete, das werde Aufsehen erregen. (Ich glaube, daß gerade der Marineoffizier den Neid der Kameraden sehr zu fürchten hat; bei der Armee freut man sich über einen Offizier, der sich irgendwie betätigt und ist viel duldsamer.) Die erste Nummer einer Zeitung, die ich schon hatte drucken lassen, spiegelt den Geist, in dem ich die Erziehung der Mannschaft anfaßte (das Heft: Wandern). Im Luftbade wurde jeden Tag geturnt und gespielt. Grade diese Neuerung stand in krassem Gegensatz zu Kneipe und Bordell. An Sonntagnachmittagen leitete ich Mannschaftsunterhaltungen in einem Saal der Vorstadt.

Wie nachhaltig diese ganze, größtenteils außerdienstliche Tätigkeit wirkte, kann ich aus zahlreichen Zuschriften der Mannschaft noch jetzt belegen, und junge Offiziere, die vorurteilslos genug waren, sich so etwas anzusehen, haben versucht, daraus zu lernen. Viele Matrosen gestehen ein, welch Segen für sie die Kenntnis der Dinge, die sie bei mir lernten, war und sagen, daß sie erst dadurch zu guten Soldaten werden konnten. Der einzige Vorgesetzte, der meine Tätigkeit gesehen hat, Herr Korvettenkapitän Kalm, hat aus seiner Bewunderung kein Hehl gemacht und konnte es nicht verstehen, daß nie ein Offizier der Marinestation sich davon überzeugt hat, was hier versucht und geleistet wurde. Außer ihm und Kapitän Köthner haben Kenntnis von meiner Tätigkeit die Offiziere: Korvettenkapitän Goethe, Kiel, S-Division; Korvettenkapitän Hinkeldeyn, Wilhelmshaven, Bekleidungsamt; Marineoberstabsarzt Dr. Buchinger, Cuxhaven, Quarantänelazarett; Kapitänleutnant d. R. Landsky; ferner die Feldwebel Bradel und Noack der siebenten Kompanie der II. Torpedodivision, Wilhelmshaven; der Feldwebel Heinemann, ebenda; der Marineintendantursekretär Jasper, ebenda; der Torpedooberbootsmaat Bock von der siebenten Kompanie. Dieser war meine rechte Hand bei den sportlichen Veranstaltungen.

 

Daß mir die Tätigkeit, die ich einmal ganz ausfüllen konnte, genommen wurde, hat mich dann dem Dienst entfremdet. Meine Aufgabe genügte mir nicht; ich wollte eine wirkliche Betätigung haben. Da ich ein schwieriger Untergebener bin und kein Geschick habe, mich in die besonderen Wünsche meiner Vorgesetzten hineinzuversetzen, kam ich bald in Konflikte. Zuerst mit Kapitän Studnitz, der mir ein Gesuch nicht genehmigen wollte, zur Teilnahme an dem in Berlin stattfindenden Kongreß zur Hebung der Volkskraft. Ich hielt mich dort für sehr notwendig und glaubte, aus vaterländischen Gründen unbedingt meine besonderen Kenntnisse anbringen zu müssen. Ich war bitter enttäuscht, daß man für meinen Eifer kein Verständnis hatte und bestand darauf, daß mein Gesuch höheren Orts vorgelegt wurde. Ich hatte immer noch solche Begriffe von einem Volke, in dem jeder sein Bestes hergeben müsse. Mein Gesuch wurde auch oben abgelehnt, hauptsächlich aus Furcht, ich könne öffentlich hervortreten. Der Offizier soll nicht hervortreten, sagt man bei der Marine, ich aber dachte in erster Linie daran, daß ich ein Deutscher bin und außer dem Offiziersberufe noch etwas beizutragen wisse.

In meinen Personalpapieren wird begründet sein, weshalb mein längeres Verbleiben im Dienst eines Tages nicht mehr möglich war. Ich habe es meinen Vorgesetzten erleichtert, das nachzuweisen. Die inneren Gründe liegen jedenfalls tiefer, als aus einem Bericht eines beteiligten Vorgesetzten zu ersehen ist. Im Dezember 1915 reiste ich nach Berlin und sprach im Admiralstab mit Admiral Koch und Admiral von Holtzendorff. Ich klagte, daß mir meine Tätigkeit nicht mehr genüge, daß ich mit meinen besonderen Kenntnissen und Erfahrungen ganz anderes für die Sache leisten könnte und sagte, daß ich gern nach Persien wollte und mich schon darauf vorbereitet hätte. Ich hatte nämlich in Kiel bei Herrn Weinberg, einem Türken (jetzt Nationalbank für Deutschland, Berlin, Behrenstraße), Sprachunterricht genommen. Admiral Koch versprach mir, an mich zu denken. Inzwischen hatte ich ein dienstliches Mißgeschick. Ich hatte einen schriftlichen Befehl im Halbdunkel, als er mir gezeigt wurde, übersehen und Kirchendienst versäumt und wurde dafür vom Kommandeur in sehr auffallend harter Weise gestraft, mit vier Tagen Stubenarrest, womit jedenfalls auch meine Anschauungen über Erziehung und Strafe getroffen werden sollten. Die Auffassung meiner inneren Stellung zum Kriege, die aus dieser Bestrafung sprach, verletzte mich tief. Ich sagte mir, daß man einen Offizier, der freiwillig gekommen sei, doch nur mit der Absicht, ihn hinauszusetzen so nach dem Schema bestrafen könne in dieser Zeit. Meine Erziehungsgrundsätze, die Anschauung besonders, daß es der Kompanieführer in der Hand habe, die Mannschaft vor Vergehen zu bewahren, meine Vorträge, die sich niemand von den Vorgesetzten außer Kapitän Kalm anzuhören getraute, das alles wurde nicht gern gesehen und andere Offiziere waren bequemer. Gewiß hatte der Kommandeur auch das ganz richtige Gefühl, daß ich eine Weltanschauung vertrat und nicht unterdrücken konnte, die sich im Grunde nicht mit dem militärischen Geiste vertrug, den man hier hüten zu müssen glaubte. Er sagte mir auch, ich hätte mit meinen Ideen wirken können, wenn ich an viel höherer Stelle gestanden und ein selbständiges Kommando gehabt hätte. Der Ärger über meine Strafe verließ mich nicht mehr, und als eines Tages ein über fünfzig Jahre alter Reserveoffizier, Kapitänleutnant Stranz, ganz außer sich zu mir kam und mir sagte, der Kommandeur habe ihn wegen einer Kleinigkeit bestraft, da empfand ich das als ein solches Unrecht, daß ich mich entschloß, eine Meldung einzureichen, ich könnte nicht mehr als Richter beim Gericht mitwirken. Darauf bekam ich meinen Abschied. In einer Unterredung sagte mir Kapitän Lübbert: »Weshalb sind Sie eigentlich wieder zur Marine gekommen?« Ich war sehr erstaunt über diese Frage, weil ich nicht dachte, daß er glaubte, ich sei des Gehaltes wegen gekommen und sagte: »Weil mein Vaterland in Not war, und ich glaubte, es stände schlecht, wenn nicht jeder helfe.« Er sagte heftig: »Herr Kapitänleutnant, ich verbitte mir solche Bemerkungen, es steht glänzend! Man braucht Sie wirklich nicht.« Auch nach allem, was ich sonst hörte, können sich manche Offiziere nicht gut vorstellen, daß man ohne Rücksicht auf eigene Vorteile zu den Waffen geeilt sei, wenn man ein ansehnliches Gehalt zu erwarten hatte. Inzwischen habe ich mir wohl klar gemacht, daß viele inaktive Offiziere immer schon Krieg als eine willkommene Einnahmequelle erhofft haben. Mir aber waren solche Überlegungen ganz fremd. Mir ging immer das Vaterland über das Standesinteresse. Ich habe sogar geglaubt, der Krieg biete dem Offizier Gelegenheit, Opfer zu bringen.

Zufällig schrieb mein Freund, der Hauptmann v. Stülpnagel (Flieger-Abwehr M.G.A. 904 Feldpost 359) an mich und fragte, ob ich mich der Sondermission des Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg für Persien anschließen wollte. Das kam nun leider etwas zu spät. Ich konnte von meinen Vorgesetzten eine Förderung dieses Planes nicht mehr erwarten. Dennoch reiste ich nach Berlin und sprach mit Major v. Koppen, Rittmeister Graf Kanitz und Stülpnagel. Ich schrieb auch an S. Hoheit den Herzog, den ich persönlich kannte. Die Berichte der Marine haben aber verhindert, daß ich mich hier noch beteiligen konnte. Ich siedelte jetzt mit meiner Familie wieder auf mein Gut Waldfrieden über und nahm mir vor, mein Buch zu schreiben über die Reise, die ich mit meiner Frau nach den Quellen des Nils gemacht hatte. Die Ereignisse der Zeit beschäftigten mich aber doch so stark, daß ich nicht zu ruhiger Arbeit kam. Ich schrieb damals einen Brief an den Admiral v. Holtzendorff und äußerte, daß eine Sache, die meine Bestrebungen nicht vertragen könne, schlecht sein müsse. Zunächst dachte ich noch, an irgendeiner Stelle im Dienste des Vaterlandes tätig mitwirken zu können und beschäftigte mich mit der Frage der Lebensmittelversorgung. Ich kam aber leider auch hier bald zu der Einsicht, daß uneigennütziges Arbeiten ganz unbekannt sei. Regungen und Gedanken und der Wille, dem Volke zu helfen, waren Dinge, die nicht in das System paßten. Ich bot mich dem Präsidenten des Ernährungsamtes vergebens an. Ein Vortrag, den ich im Nachbarort über Ernährung halten sollte, wurde verboten. Durch diese Erfahrungen kam ich allmählich von meiner überschwenglichen Auffassung der vaterländischen Pflichten ab und sah, daß eigentlich kein Mensch das Ende dieses Krieges ernsthaft wollte. Das deutlichste Beispiel glaubte ich in meinem Vater vor Augen zu haben. Er wohnt in einer Villa tausend Meter von mir entfernt. Er mied den Verkehr mit mir und meiner Familie. Man merkte es an seiner ganzen Haltung, daß er, im Gegensatz zu mir, mit dem Kriege sich ausgesöhnt hatte. Der Abgeordnete Bassermann von seiner Partei hatte das Wort gebraucht: »Dieser Krieg ist der erste in einer Reihe von Weltkriegen!« und hatte damit die Genugtuung der Nationalliberalen über den Krieg ausgedrückt. Diese Herren verdienten durch den Krieg gut. Es wurde mir klar, daß die innere Stellung zum Kriege bei meinen Mitbürgern abhing von der ökonomischen Frage und daß menschliche Überlegungen und Regungen, wie Mitleid und Liebe dabei gar keine Rolle spielten. Wer gut verdiente, war blind gegen die Leiden, die er nicht sah. Für alle, die von Durchhalten sprechen, trifft der Verdacht zu, daß der Krieg für sie in irgend einer Form ein Geschäft ist. Ich erfuhr auch, daß sich meine Eltern um die wichtigeren politischen Fragen, wie die Schrift des Fürsten Lichnowsky und die Entstehung des Krieges, Fragen, die zu durchdenken Pflicht jedes Gebildeten sein müßte, weil ohne diese Voraussetzung ein Friede nicht vorbereitet, die Gegner überhaupt nicht verstanden werden können, überhaupt nicht kümmerten. Dagegen baute mein Vater Scheunen, Ställe, eine Haushaltungsschule und plante Kriegerwitwenansiedlungen. Meine Mutter hielt Vorträge über »Kriegswitwen aufs Land«, kümmerte sich aber nicht um ihren eigenen Sohn, um die Schwiegertochter und die Enkel, die neben ihr wohnten. Der Krieg gab ihr nach meiner Auffassung nur Gelegenheit zu einer Eitelkeit. Es war mir unverständlich, weshalb mein Vater den Verkehr mit mir mied. Ich litt darunter. Leider suchte er auch, mir das Leben schwer zu machen. Diese Umstände haben sehr dazu beigetragen, mich zu einer harten Kritik der herrschenden Meinungen zu treiben. Ich sah in meinem Vater den Vertreter eines Systems, das den Krieg verschuldet habe und jetzt den Frieden hindere. Ich fand es abstoßend, daß mein Vater, weil der Krieg ihm eine gute wirtschaftliche Lage brachte, an das arme Volk und an seinen Sohn nicht dachte. Dadurch, daß ich nirgends gebunden war, konnte ich in Ruhe auf mich wirken lassen, was ich las.

Ich überzeugte mich aus mehreren unabweisbaren Dokumenten, daß es unmöglich sei, die Welt von der Unschuld Deutschlands oder der deutschen Regierung an diesem Kriege zu überzeugen (Fernau: »Gerade weil ich ein Deutscher bin«, Verlag Füssli, Bern; »Um des teuren deutschen Blutes und Vaterlandes willen«, von einem preußischen Edelmann; Lichnowsky, »Meine Londoner Mission«, und andere Schriften). Die wichtigste Erkenntnis war, daß der Krieg militärisch nicht entschieden werden könne und ein Ende des Krieges nur von einer Änderung der Anschauung zu erwarten sei, indem das deutsche Volk den Willen bekunde, das, was es auf den Haager Kongressen verhindert hatte, jetzt anzuerkennen und Garantien für dauernden Frieden zu geben. Gewohnt, über meine Gedanken zu schreiben, konnte ich doch über diese Dinge nirgends etwas drucken lassen und häufte all die bitteren Erkenntnisse in mich hinein. Ich ließ mir eine Briefverschlußmarke machen mit dem Aufdruck: »Der Friede wird nirgendwoanders geschlossen als in unserer eigenen Brust, und Kriegstaten entscheiden fortan keinen Krieg mehr.« Erst hatte ich geschrieben »entscheiden diesen Krieg nicht«, änderte das aber und ließ dann die fertigen Marken in meinem Tische unbenutzt liegen, weil ich die Zwecklosigkeit einsah. Ich traf Menschen, die, wie ich, den Untergang Deutschlands sahen, nur in einem kleinen Kreise, in der Zentralstelle Völkerrecht. Da ich aber mit diesen Menschen nie zusammenkam und mich nicht aussprechen konnte, wurde ich sehr mutlos. Als ich im Frühjahr 1916 einen Aufruf der Zentralstelle Völkerrecht unterschrieben hatte, bat mich mein Freund Dr. Popert, als Herausgeber des »Vortrupp« während des Krieges zurückzutreten, weil er etwas anderes mit der Zeitschrift vorhabe. Im Dezember 1916 warnte ich in Frankfurt in einer öffentlichen Versammlung der Zentralstelle vor einem Bruch mit Amerika und nahm am 6.1.1917 in Berlin im Hotel Adlon an dem Empfang teil, den die Deutsch-Amerikanische Handelsgesellschaft zu Ehren des aus Amerika zurückkehrenden Botschafters Gerard veranstaltete. Auch meinem Vater ließ ich eine Einladung zusenden. Er nahm teil, leider ohne mich dabei zu sprechen. Ich war von Wilsons ehrlicher Gesinnung gegen Deutschland durchdrungen und hatte mir seine Werke »Der Staat«, »Die neue Freiheit« und »Nur Literatur« angeschafft. Ich war der Meinung, daß der Friede nur von ihm gemacht werden könne und daß man ihn gewinnen müsse für Deutschland. Ich sprach seinen früheren Sekretär, Mr. Hale, privatem am Tage nach dem Empfang in seinem Zimmer. Hale hatte kurz vorher die erstaunlichen versöhnenden Äußerungen des Kronprinzen veröffentlicht. Der mir bekannte Präsident der Handelsgesellschaft, Herr Wolf, bat mich, wie viele andere Personen, um einen Brief an Wilson. Ich schrieb einen solchen Brief, in dem ich Wilsons Rede von Cincinnati zustimmte und ihm sagte, daß es auch in Deutschland nachdenkende Menschen gebe, und daß das deutsche Volk deshalb immer noch das Vertrauen der gewissenhaften Weltbürger verdiene. Der Brief ist nicht mehr hinübergelangt. Meine Hoffnungen auf Frieden wurden dann durch den rücksichtslosen Tauchbootkrieg zerstört. Ich glaubte jetzt, den Untergang meines Vaterlandes deutlich zu sehen. Alle Siege konnten nichts daran ändern und es nur schlimmer machen. Nirgends aber sah ich Verständnis für die Gefahren, die ein solcher Schritt wie der uneingeschränkte Tauchbootkrieg mit sich bringen mußte, nämlich daß er uns den Rest der Menschheit zum Feinde machte. Als das dann eintraf, fanden die Menschen, die das vorher bestritten hatten und von schneller Niederringung Englands geträumt hatten, nichts dabei und entsannen sich dessen nicht mehr, was sie vorher gesagt hatten. Das war für mich, der ich diese Dinge sehr ernst nahm, zum Verrücktwerden! In diese Stimmung hinein kamen die Angriffe, die ich von meinen Eltern und meiner Schwester erfuhr und die daraufhinzielten, mir meine wirtschaftliche Basis zu zerstören und mich von meinem Wohnsitze zu verdrängen. Das spielte vom Juni 1917 an und brachte mich in einen Zustand richtiger Verzweiflung. Ich war äußerst reizbar gegen Menschen, die sich gleichgültig über den Krieg äußerten, und um ihnen einen Stoß zu versetzen, benutzte ich irgendwelches Wissen, das dazu diente, das, was bei ihnen in Achtung stand, hinunterzureißen.

Zufällig kamen mir grade in dieser Zeit unzählige Blätter und Schriften in die Hände, die ich weitergeben konnte. Ich glaube, daß die Menge dieser Zusendungen von unbekannter Seite in mir schließlich die Überzeugung schaffte, der Friede komme wirklich vom Volke. Ich fühlte mich übrigens so unbehelligt, daß ich lange annahm, die Behörde dulde gern Männer, auf die man im Gegensatz zu den Übertreibungen der Alldeutschen eines Tages hinweisen könne, wenn es gelte, mit dem Auslande zu verhandeln. Ich habe es deshalb auch für erwünscht gehalten, daß Männer wie A. H. Fried in Bern von mir wußten, damit sie den verbohrten Hetzern der andern Völker sagen konnten: sogar Offiziere denken durchaus vernünftig! (...)

 

Es kommt noch etwas sehr Wichtiges in Frage: Meine ethischen Anschauungen standen jetzt in schreiendem Widerspruch zu meinen Handlungen. Wer meine Gedanken kennt, muß mich tief bedauern, daß ich durch den Besitz dauernd gezwungen wurde, unzählige Dinge zu tun und zu dulden, über die ich innerlich längst hinaus war. Ich wollte überhaupt keine Tiere töten, wollte keine Menschen kränken, mit jedem Nachbarn gut stehen, und nun waren es meine Eltern, die mich mieden und bekämpften und die ich wiederbekämpfte, und der Besitz zwang mir annexionistische Gesinnung auf. Die Nachbarn, die die große Filehner Forst verwalteten, mieden den Verkehr mit mir, weil sie wegen des Wildes Mißtrauen und Eifersucht wollten. Ich ging zu den Armen, beschenkte sie und half ungewandten Menschen, Briefe schreiben, ihre gefallenen und vermißten Söhne suchen. Wenn ich Menschen traf, die zu mir freundlich waren, wie die Familie Schülke und Wohlfeils, wo ich Obst kaufte, dann sandte ich Bücher und schrieb einen Dankesbrief. Ich sehe daraus jetzt, daß ich mich hilflos, einsam und unglücklich fühlte. Wenn in dieser Zeit jemand den Entschluß gefaßt hätte, mir zu empfehlen: »Geh zur Erholung vom Lande weg!« – alle Fahrlässigkeiten wären mir erspart geblieben. Da fällt mir ein, daß jemand tatsächlich etwas derartiges zu mir sagte: Frau Professor Jannasch war mit ihrer Tochter (Berlin W., Tauenzienstraße 9) nur einige Tage bei uns, und schon am dritten Tage sagte sie zu meiner Überraschung zu mir: »Herr P., kann ich Sie mal in Ruhe sprechen?« und dann in meinem Zimmer: »Ich habe Sie hier beobachtet, das ist nichts für Sie, Sie müssen hier schleunigst raus!« Die hat mir also etwas angemerkt. Wie unstet und sorgenvoll ich im ganzen war, merkte ich daran, daß ich zu meinem Leid nicht dazu kam, mit einem lieben und edlen Menschen, der sich in Waldfrieden aufhielt und sich für ein Examen vorbereitete, zu sprechen, dem Dr. phil. Altaraz. Er, wie auch mein Freund Magnus Schwantje, der mehrmals dort war, sagten oft zu mir: »Du bist nicht ruhig, man sieht Dir unstete Sorgen an«. Das Hausmädchen bat meine Frau, ihr zu erklären, was mir fehle? Meine Frau konnte es nicht umgehen, sie über das Zerwürfnis mit meinen Eltern aufzuklären. Der Oberst Geisler, der mehrere Tage bei uns war, hat eines Morgens zu meiner Frau gesagt, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, ich hätte nachts, als wir uns auf Wild angesetzt hatten, im Dunkeln in ein Buch stenographiert und morgens schreckliche Gedanken geäußert, die kein Mensch ertragen könne, ohne unglücklich zu werden. Ich erwähne das auf die Gefahr hin, daß jemand sagt, die furchtbare Zeit hätte mich dem Wahnsinn nahe gebracht; denn ich würde das für ehrenvoller halten, als in dieser Zeit gleichgültig dagesessen zu haben. Ich sah die Ereignisse des Krieges nicht, wie sie in den Berichten der Kriegsberichterstatter dargestellt sind, sondern wie sie wirklich geschehen und nachgelesen werden können in Erzählungen wie: »Die Kriegswitwe«, von Leonhard Frank; »Der Kamerad«, von einem österreichischen Oberleutnant in den »Weißen Blättern« und an die ich nicht denken kann, ohne über die Teilnahmslosigkeit der Menschen zu verzweifeln.

Eine Eigenschaft muß ich erwähnen: Mein Bedürfnis, mich mitzuteilen. Es ist so groß, daß ich, wenn ich überraschend etwas finde, zu den nächsten Menschen spreche, ohne zu fragen, ob sie mich verstehen können, oder gar meine Feinde sind. Ich entsinne mich, wie ich handelte, als ich das Flugblatt »Volk, gib Dir selbst den Frieden!« zuerst überflog. Ich hatte auf den Wagen, mit dem ich alleine zum Obstholen fuhr, meine Briefe mitgenommen und auch eins der Blätter eingesteckt, um auf dem Wagen zu lesen. Ich war damals auch völlig hoffnungslos über die Friedensaussichten. Als ich das Blatt überblickte, war es mir, als ob es schon die Nachricht wäre, daß morgen Frieden sei; ich hielt die Pferde an und sprang unvermittelt vom Wagen herunter und ging auf eine mir unbekannte Frau los, die auf einem Acker arbeitete. Ich wollte mich mit dem ersten besten Mitmenschen an einer Hoffnung freuen. Die Frau machte ein erstauntes Gesicht, verstand aber, daß ich es gut mit ihr meinte, als ich etwa sagte: »Hören Sie, ich muß Ihnen das zeigen, ich habe eben dies Blatt gesehen, es geht mit dem Kriege zu Ende; Sie haben gewiß auch liebe Menschen, die Sie zurücksehnen, lesen Sie es mal und freuen Sie sich an der Hoffnung.« Als ich weiterfuhr, hatte ich wohl den Eindruck, daß ich etwas auffällig gehandelt hatte. Ich wußte nicht recht, was die Frau von mir gedacht hat. Der Acker dieser Frau liegt hinter Hochzeit, nahe bei Neubrück an der Landstraße, links. Ich kam selten hinaus, habe aber eines Tages, als ich im Walde ging, mit einem Mädchen, das Kühe hütete (Schöpke, Wiesental), über eine Stunde gesprochen. Es ist mein Mitteilungsbedürfnis, das vielleicht aus einem brachliegenden Lehrtrieb zu erklären ist. Bezeichnend ist, daß ich den Mädchen des eigenen Hauses, also dem Hausgesinde, abends aus Faust und Iphigenie vorgelesen habe. Über die Anspruchslosigkeit, die ich in Hinsicht auf die Auswahl meiner Zuhörer hatte, hat sich meine Frau öfter beklagt: »Dir genügt der erste beste Kuhjunge, um Deine Weltanschauung darzulegen.« Ich bin auch da in gewisser Hinsicht ein Opfer des Krieges. Ich sprach früher zu einer großen Zuhörerschaft und hatte Einfluß auf unzählige Menschen. Dann war ich abgeschnitten und sollte alle Gedanken für mich behalten. Ich habe im Sommer meine kleine Nichte und deren Freundin, wenn sie Post holten, festgehalten, um ihnen Unterricht in der Stenographie zu geben.

Der Aufforderung, die Grundzüge meiner politischen und geschichtlichen Auffassung niederzuschreiben, komme ich im folgenden nach. Ich habe keine feste Anschauung über Politik und habe mich mit Geschichte leider nie beschäftigt. Ich habe erst durch das Buch: Wilson, »Nur Literatur«, gelernt, daß es außer der Parteipolitik eine Politik gibt, die jeder gewissenhafte Mensch treiben müßte. Ich bin jetzt der Meinung, daß es ein großes Unglück ist, wenn ein Volk so unpolitisch ist wie das deutsche. Den Grund dafür, daß das so ist, sehe ich in der bei uns herrschenden Lehre, daß durch die Gründung des Deutschen Reiches alles erfüllt sei, was zu wünschen war. Der Kaiser hat es einmal in einer Rede gesagt: »Seitdem ist es stehen geblieben; wir haben das, was wir wünschen.« Ich weiß jetzt, daß es heißt, der Jugend die Kraft rauben, wenn man sie lehrt: »Es braucht nicht mehr gesucht zu werden.« Ich selbst hatte mich jetzt darangemacht, Versäumtes nachzuholen und zu suchen, wie dem deutschen Volke zu helfen sei.

Ebenso war es mit der Geschichte. Was ich davon kannte, war nur die von Professoren aufgestellte Rechtfertigung dessen, was geworden war. Ich sehe jetzt, daß es eine andere, fruchtbarere Geschichtsauffassung gibt. Diese zu durchdenken, ist sehr wichtig und davon hängt es ab, ob es später noch eine deutsche Kultur geben wird, oder ob der Endzweck der Deutschen die große Waffenleistung dieses Krieges war. Was nun das Richtige ist, das vermesse ich mich nicht zu sagen; ich empfinde es aber schon als einen Gewinn, daß ich die Notwendigkeit, zu suchen erkannt habe, und mit dem, was bisher in Geltung war, vorsichtig bin. Ich will einen erstaunlichen Gedanken erwähnen: Konstantin Frantz war mit der Bismarckschen Gründung nicht einverstanden und prophezeite Unheil. Er sprach von dem großdeutschen Gedanken; das Reich könne nur föderalistisch sein und müsse sich dann viel weiter erstrecken. Der Krieg zeigt, daß wir sehr gut mit Völkern föderalistisch umzugehen verstehen, die wir nie erfolgreich kolonisiert hätten. Fest überzeugt bin ich, daß die Menschheit in ihrer Entwicklung an der Stelle angekommen ist, von der die überstaatliche Organisation beginnt und daß mit diesem Kriege das Zeitalter des Völkerrechts beginnt, das Kant in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« einleitete. So gewiß, wie eines Tages der Landfriede kam und das Fehderecht verdrängte, so daß es nie mehr wiederkehrte, so gewiß muß dies der letzte Krieg sein. Nur so ist die Entschlossenheit aller Völker zu erklären. Mit jedem Monat darf sich auch der große Gedanke deutlicher hervorwagen. Deutschland hat vielleicht die große und tragische Bestimmung, durch seine nie auf der Welt gesehene militärische Kraft die ganze Welt gegen sich zu einigen, um sie zu zwingen, die köstliche Frucht, von der die künftige Menschheit leben soll, unter Opfern zu erringen; widersetzen kann es sich dem Lauf der Geschichte nicht! Tut es das, so wird es zerdrückt, im Kriege oder im Frieden. Die zwischenstaatliche Anarchie, die diesen Krieg verschuldete, ist zu Ende. Das, was doch kommt, könnte nun heute schon erreicht werden, und es brauchten nicht noch größere Opfer gebracht zu werden, wenn die gebildeten Deutschen zur Einsicht kämen. Solche Einsicht kann nur, wie es bei allen geschah, die meine Meinung teilen, – es sind nicht wenige und sehr viele hochgestellte Personen – durch eine kräftige Erschütterung des inneren Menschen erfolgen. Tatsachen müssen herbei: die Tatsachen über die Entstehung dieses Krieges, über die Nürnberger Bomben, mit denen der Reichstag gewonnen wurde, über die belgische Frage, wie sie der ganzen Welt außer uns sich darstellt, das serbische Ultimatum und anderes mehr. Ich kann mich über diese Dinge, weil ich sie zunächst nur zu meiner eigenen Information gelesen habe, nicht mit überzeugender Kraft äußern; es gehört, um es zu durchdenken, ruhige Zeit dazu, und auch dann ist es recht schmerzlich. Ich habe sehr darunter gelitten. Am schwersten ist es, solchen Gedanken nachzugehen, wenn es wie jetzt wieder den Anschein hat, als sei ein Friede auch ohnedem möglich. Denn das eine ist sicher: auch ich wünsche den Frieden in erster Linie für Deutschland selbst, wie es auch jetzt aussehe. Es ist viel leichter, neue Gedanken im Frieden zur Sprache zu bringen als im Kriege. Aber leider werden auch die jetzigen großen Siege den Frieden nur hinausschieben; es ist meine Überzeugung, daß die Menschen durch Waffenerfolge gehindert werden, die Grundlagen des Friedens zu erkennen.

Vielleicht trägt es zur Klärung bei, wenn ich sage, wie sich mir der Begriff Vaterland darstellte. Ich denke an eine wirkliche Vaterlandsliebe, die sich auf die Heimat und das Volk und auf das erstreckt, was die Väter für beides geschaffen haben. Ich glaubte, es sei Pflicht, diesem Vaterlande möglichst schnell wieder Frieden zu schaffen. Ich sah, daß alle, die irgendwie im Kriege besser verdienten als im Frieden, nicht so dachten. Fast schien es, als wenn Vaterlandsliebe gleichgenommen wurde mit dem Interesse eines einzigen Standes, des Offiziersstandes. Wenigstens fand ich zufriedene Äußerungen über den Krieg grade bei höheren Offizieren. Man merkte, daß ihretwegen immer Krieg sein könnte. Deshalb sah ich eine Gefahr darin, wenn nur Offiziere auf die öffentliche Meinung Einfluß haben, wie das im Kriege wohl bei uns ist. Mit der Zeit aber hat sich auch sonst alles auf den Krieg eingestellt, und der Krieg ist ein Geschäft geworden. Vielen dient das Blut der Söhne, die gefallen sind, dazu, die Eitelkeit zu befriedigen, und wer die Verluste schon hinter sich hat, hat gar kein besonderes Interesse daran, daß bald Frieden werde. Witwen trösten sich damit, daß es anderen nicht besser ergangen sei. Wer Krüppel wurde, freut sich, daß er wenigstens das Leben behielt und ist der Meinung, daß alle anderen auch in dieselbe Gefahr kommen müßten, in der er gewesen ist. Wenn aber selbst die Krüppel nichts gegen den Krieg sagen – die Toten reden nicht mehr; und die Kriegsdichter erzählen, daß es kein schöneres Gefühl gebe, als in einer Flandernschlacht zu sein. So scheint es, daß es keinen Frieden geben kann, weil das ganze deutsche Volk ihn nicht will. Die Regierung will schon, aber die andern wollen mit ihr nicht, sie wollen erst wissen, ob in Zukunft die friedliche Organisation der Völker nicht verhindert wird. Wenn bei uns Preßfreiheit wäre, wären wir dem Siege und dem Frieden näher. In England ist noch heute keine Zensur und man warnt vor dem

»ersten Schritt zu einer Zensur der öffentlichen Meinung, deren logische Folge die Zensur der Meinung der Presse sein werde. Schließlich würden die Tageszeitungen nur drucken dürfen, was die Zustimmung der Regierung habe, wodurch die für den Sieg notwendige Preßfreiheit vernichtet werde.«

Wenn man sagt, Offiziere seien bei uns unpolitisch, so halte ich das für einen Irrtum. Der Offizier ist nur Politiker, nur fällt das nicht auf, weil alle seine politischen Wünsche bei uns erfüllt sind. Politik ist ja bei uns Kampf um den Futtertrog. Die Offiziere nun gehen bei uns so weit, daß sie durch große Vereine jede Änderung, die ihnen schaden könnte, verhüten: Wehrverein, Flotten-, Kolonialverein, Alldeutscher Verband, Vaterlandspartei. Daß der Offizier auch revolutionär sein zu dürfen und gegen den Kaiser sprechen zu dürfen glaubt, wenn er sein Standesinteresse bedroht sieht, hat man während der Marokkokrise gesehen, wo ganz offen gegen den Kaiser gesprochen wurde, weil er den Krieg vermied. Man kann wohl sagen, es sei nicht schwer, zufrieden zu sein, wenn ein Vaterland die Interessen eines Standes so völlig erfüllt wie das deutsche Reich die seines Offiziersstandes. Wenn die Frage gestellt würde: Wer ist wichtiger, der Stand oder das Volk? – so wird der Stand wohl nicht gern zurücktreten zugunsten des Volkes – und darin liegt auch ein Friedenshindernis; denn eine Einschränkung der Rüstungen ist zu erwarten, schon weil kein Volk die Last mehr tragen kann. Dies ist eine sehr ernste Frage. Fast niemand hat den Mut, sie anzurühren.

Noch eine besondere Meinung will ich erwähnen: Ich sehe eine Gefahr darin, daß manche Einrichtungen und Personen übertrieben gelobt werden und halte die Menschen für schädlich, die solch' Lob dauernd im Munde führen. Sie entschuldigen und verstecken damit ihre Gedankenlosigkeit, was nicht schadet; aber sie gehen bei uns so weit, daß sie auch andern das freie Urteil verbieten, weil sie es erzwingen, daß man nur die öffentliche Meinung haben dürfe. Ich habe innerlich große Achtung vor den Helden dieses Krieges und vor gewissen vielgenannten Namen; aber der laute Beifall der Masse reizt mich zum Widerspruch. Ich meine mit diesem Widerspruch den Bildungsphilister, der nicht das Recht haben soll, mit einem Schlagwort seine Denkfaulheit zu rechtfertigen. Ich sage damit gar nicht, daß ich die Größe und Leistung dessen, den ich angreife, nicht anerkenne; im Gegenteil, wenn der Betreffende von der Menge getadelt würde, wäre ich der erste, der auf sein Verdienst hinwiese. Es geschieht aus demselben Geist heraus, der mich zum Impfgegner macht. Selbst befreundete Ärzte versichern mir, daß das Impfen sich bewährt hat, und ich glaube es auch – dennoch halte ich die Gegnerschaft für dringend nötig. Wenn ich mit einer Frage zu tun habe, bin ich auch in kurzer Zeit anderer Meinung als die Menge, ja als die anerkannten Autoritäten. Da ich mich nun, das kann ich wohl zugeben, in den letzten Jahren mit viel zuvielen Fragen beschäftigt habe, leide ich unter der herrschenden Meinung unerträglich. Wenn ich Menschen spreche, suche ich sie zu überzeugen. Es ist natürlich, daß ich von dieser Gewohnheit nicht ließ, als ich mit politischen Dingen bekannt wurde, die jetzt gefährlich sind. Wie ich Menschen zu überzeugen suche, dafür ein Beispiel: Einer älteren Dame, Frau Ramm, Mellemthin, Kreis Soldin, die ich nur in der Eisenbahn sprach, habe ich ein ganzes Postpaket Bücher über die Ernährungsfrage gesandt und ihr mehrere Briefe geschrieben. Die Fragen, mit denen ich mich bisher beschäftigte, waren ja alle derart, daß ich mit meiner Meinung nicht zurückzuhalten brauchte. In diesem Sommer beschäftigte ich mich u. a. mit der Düngerfrage. Ich las Svendson, »Viehlose Landwirtschaft«, und versuchte, die Verwertung der menschlichen Fäkalien praktisch durchzusetzen, wobei ich bei meinen Leuten unüberwindlichen Widerstand fand, sodaß ich den Abort des Hauspersonals, den ich zu dem Versuch mit gemahlenem Torf und einer geschriebenen Anweisung versehen hatte, wöchentlich selbst leeren mußte. Ich wollte über diese wichtige Frage in der Zeitschrift der Deutschen Landwirtschaftlichen Gesellschaft schreiben. Das werde ich noch tun. Ich erwähne, daß ich sogar in der Düngerfrage mit der herrschenden Meinung nicht übereinstimme und das Dogma vom Wert der Stickstoffdüngung und des Thomasmehls für bedenklich halte. So scheint es keine Frage zu geben, in der ich nicht Reformbedürfnis habe und mit herrschenden Meinungen aneinandergerate. Selbst in einer so gleichgültig scheinenden Frage, nach welchem System man Schneeschuh laufe, habe ich entschieden Partei ergriffen, und zwar, wie immer, zugunsten der unterdrückten Sache, gegen die öffentliche Meinung und mit der Gegnerschaft der Mächtigen. Immer ist es das allgemein Anerkannte, was ich nach kurzer Zeit angreife, und das greift wohl die Nerven auf die Dauer an. Ich habe gekämpft nicht nur gegen Alkohol, was allein alle Menschen gegen einen aufbringt, sondern gegen Fleisch, Tabak, Zucker, Feinmehl; gegen Schundliteratur, Kino und Gassenhauer, für Schulreform, Bodenreform, Kleidungsreform, Sprachreinigung, Naturschutz und Frauenstimmrecht. Der Sport sollte reformiert werden, das Wandern gefördert, die Federn- und Pelzmode beseitigt werden. Es wandten sich Menschen an mich, die den Kalender, den Tanz, das Sprechen, den Gesang reformiert wissen wollten, und weil ich für alles ein Ohr hatte, auf mich Hoffnung setzten. Ich kann mir wohl denken, daß ein solcher Mensch in einer Zeit, in der vorhandene Formen eines Volkes gegen die anderer Völker kämpfen, aus der Bahn geschleudert wird und kann auch meine Eltern verstehen, wenn es ihnen manchmal zu bunt wurde. Wer in allen Erscheinungen nur das Reformbedürfnis sieht, der hat es wohl so schwer wie ich; mancher hat gesagt, ich hätte zu viel gedacht. Das muß ich zugeben, wenn ich ferner daran denke, wie ich in letzter Zeit um Weltanschauung gerungen habe und was ich alles las. Ohne eine einfache Lebensweise hätte ich es überhaupt nicht ausgehalten. Unglücklich wurde ich erst, als ich über eine Sache grübelte, in der so wenig zu helfen war wie über den Krieg. Ich hörte meine Mutter sagen: »Vater war entsetzt; er sagte, der Junge sieht unglücklich aus, wenn man das Gesicht sieht!« Ich war voller Zwiespalt und Schmerz, war ich doch auch innerlich Jagdgegner, so seltsam das grade jetzt klingen mag, und habe mich immer wieder der Jagd zu entziehen gesucht.

 

Ich zähle die Zeitschriften auf, die ich bekam: Abgesehen von Blättern über bildende Kunst, Ex Libris, Kunst und Sport, wirtschaftlichen Fachzeitschriften wie Landwirtschaft, Forst, Holz, Fischerei, Jagdschutz. Der Kunstwart; Volkserzieher; Vortrupp; Die Zukunft; Blätter für zwischenstaatliche Organisation; Internationale Rundschau (Bern); Zeitecho; Bodenreform; Zeitschrift für Frauenstimmrecht; Die Frauenfrage (Bauer); Zeitschrift der Allgemeinen Deutschen Sprachvereine; Der Pfadfinder; Reform (früher Impfgegner); Der Naturarzt, Zeitschrift für Parität der Heilmethoden; Der Tier- und Menschenfreund; Evangelische Mission Basel; Blätter für Naturschutz; Naturwissenschaftliche Monatsschrift Fischer, Jena; Deutsche Kolonialzeitung; Tropenpflanzer; Die Alkoholfrage; Die Abstinenz (deren Mitherausgeber ich bin); Neutraler Guttempler; Deutscher Guttempler; Mäßigkeitsblätter; Vegetarische Warte; Die Neuwacht (Stenographische Zeitschrift); Berliner Tageblatt; Welt am Montag; Deutsche Warte; Berliner Illustrierte; und alle paar Tage von den Schwiegereltern: Der Tag; Deutsche Tageszeitung; Kreuzzeitung; Neue Züricher Zeitung. Außerdem viele Kreuzbandzusendungen: Le Temps; Demain. Kleinere Mitteilungen aus Siedlungen (Eden bei Oranienburg); Jugendzeitschriften und Schulreform; Das Plakat.

Sodann erinnere ich mich an die Bücher, die ich seit Winter 1916/17 las oder mit deren Hauptinhalt ich mich doch vertraut machte: Afrikaliteratur aus der Königlichen Bibliothek; Johnston, »Nyassa«; ders. »Uganda«; Schweinfurth, »Artes«; Engler, »Pflanzengeographie« (mehrere wissenschftl. Bde.); Penck, »Morphologie«; Meyer, »Zentralafrika«, »Deutsches Kolonialreich«; Ratzel, »Völkerkunde«; Hahn, »Von der Hacke zum Pflug«. Diese Bücher habe ich exzerpiert. Tolstoi, religiöse Schriften, »Mein Glaube«, »Besinnet Euch«, »Was sollen wir tun?«; Dostojewski, »Der Idiot«, »Die Brüder Karamasow«; Deussen, »Elemente der Metaphysik«; Deussen, »Allgemeine Geschichte der Philosophie«; Schwedler, »Leitfaden«, (nur Hegel); Dilthey, »Das Erlebnis und die Dichtung«; Hölderlin, »Hyperion«; Lange, »Geschichte des Materialismus«; Herzen, »Erinnerungen«; Brahm, »Kleist«, »Platens Leben«; Herwegh, Leben, Werke; Jahrbuch Schopenhauergesellschaft; Shelley, Leben; Börne, Leben und Aufsätze; Suttner, »Kampf um Vermeidung des Weltkrieges«; mehrere Jahrgänge »März« durchgesehen; ebenso »Annexionistisches Deutschland«; Fernau, »Durch ... zur Demokratie!« und »Gerade weil ich ein Deutscher bin«; dann habe ich im Neuen Testament Griechisch gearbeitet und Homer wegen meines Afrikabuches durchgesehen; mehrere Stücke von Molière und sein Leben gelesen; Grün, »Kulturgeschichte«; Mehring, »Lessinglegende«; Nietzsche, »Ecce Homo«, »Unzeitgemässe Betrachtungen«; viele kleine Aufsätze aus Handbüchern während des Lesens. Zu meiner Arbeit über Afrika auch Petermanns »Mitteilungen« durchgesehen. Naturwissenschaftliches und Literargeschichtliches in Verbindung mit dem Kauf einer Bibliothek aus dem 18. Jahrhundert (300 Bände).

Ferner zähle ich die Flugblätter auf, die ich zu versenden und zu verteilen pflegte: (Von jedem hatte ich 100 bis 200 Stück) Paasche, »Vaterland, höre uns!« Paasche, »Im Schützengraben«, »Die Federmode«, »Die Mürwicker Kaiserrede«; Wanderer, »Fahrende Schüler«, »Luftbäder und Volksgesundheit«, »Die Ursachen der Zahnfäule«; Kunert, »Ernährungsfrage«; Bunge, »Alkoholfrage«; Kriegerheimstätten; Bodenreform (kleine Hefte), Werkblatt für Ausflügler; Palm, »Kurze Gesundheitslehre«; »Fangt keine Schmetterlinge!«; Merkblätter für Obstbau; Ballsport; Wettgehen; Tierschutzkalender; Flugblätter Tierschutzverein (verschiedene); Seils, »Fleischkost«; Hollischer, »Alkoholfrage«; ein Büchlein Landkartenkunde für Soldaten; stenographische Werbeblätter; viele Postkarten.

 

Die ersten Werbeschriften politischer Art, die ich verbreitete, waren, wenn man von den Postkarten aus dem Verlage Pfannstiel, Weimar, absieht, die Blätter, die mir von unbekannter Seite aus Lindau zugingen.

Das Bild meiner Tätigkeit im Sommer 1917 wird vollständig, wenn ich erwähne, daß ich jeden Zustimmungsbrief zu meinem Buche »Fremdenlegionär Kirsch« beantwortete, die mehreren hundert Besprechungen des Buches sammelte, meinen Aufsatz »Das sterbende Afrika« und Wanderers Aufsatz über »Fremdenlegionär Kirsch« an Bekannte sandte, auch das Buch vielfach verschenkte. Dann stellte ich etwa 700 Seiten meines neuen Buches fertig und ordnete die Photographien dazu.

Die vielen Bittbriefe und Dankschreiben von Städtern, Bekannten, suggerierten mir die sehr schwierige und schließlich undankbare Aufgabe, nach Kräften landwirtschaftliche Erzeugnisse durch die Post zu senden. Besonders in der Zeit, als in Berlin kein Blatt Gemüse aufzutreiben war, gingen unzählige Pakete Bohnen, Ackerzelge, Rüben, u.s.w. ab. Außerdem Erzeugnisse, die von den Bauern gekauft wurden, wie Geflügel und zahlreiche Pakete Mus. Meine wirtschaftliche Lage ist diese:

Ich beziehe 2 300 M Pension. Mein Gut hat keinen Überschuß, sondern Verlust. Ich lebte in den letzten Jahren mit meiner Familie von meiner Pension, einem Zuschuß meiner Frau von etwa 7 500 M und zuletzt Einnahmen aus dem Buche »Fremdenlegionär Kirsch«, das mir, wenn die bisherige Auflage verkauft sein wird, im ganzen 25 000 M gebracht haben wird. Davon habe ich 2 000 M für den Helden des Buches zurückgelegt; 1 000 hat er etwa schon bekommen. Auf meinem Gute steht eine Hypothek von 50 000 M und 30 000 M von meinem Schwiegervater. Außer dem Gut gehört mir ein Landstück von 15 ha in der Gemeinde Wiesental. Darauf hat der frühere Besitzer noch 6 000 M stehen. Schulden habe ich nicht.

Ich habe drei Kinder. Alter 6 Jahre (Joachim Hans), 4 Jahre (Nils Olaf), 1 &frac12; Jahre (Helga Berta). Im April wird das vierte erwartet.


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