Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bülowplatz

Am Sonntag, dem 9. August, abends acht Uhr, sind am Berliner Bülowplatz vor dem Lichtspieltheater »Babylon« zwei Polizeioffiziere, die eine Streife führten, meuchlings ermordet worden; ein dritter erhielt eine schwere Verletzung. Als die Polizei das Feuer erwiderte, blieben ein paar Leute tot und verwundet liegen, Leute, von denen niemand weiß, ob es Kombattanten oder Passanten waren. Wir werden auch schwerlich jemals die Wahrheit erfahren, denn inzwischen ist das Bild dieser traurigen Vorgänge durch eine Kommunistenhetze verfälscht und verzerrt worden, wie wir sie seit langem nicht erlebt haben. Ja, alle innere Politik scheint in diesem Augenblick nur Kommunistenhetze zu sein und nicht mehr. Selbst bei denjenigen liberalen Blättern, die sich sonst ein gewisses Maß von Objektivität bewahren, auch wenn es sich um Linksradikale handelt, gelten die Behauptungen der Polizei als sakrosankt. Es gilt als erwiesen, daß die KPD die Meuchelmorde am Bülowplatz gewünscht und planmäßig durchgeführt hat. Sie unterhält Terrorgruppen, sie unterhält eine Geheimabteilung für Sprengstoffattentate wie das von Jüterbog. Nirgends regt sich angesichts der Fülle von Gerüchten eine regulierende Skepsis. Nirgends denkt man daran, die vom Polizeipräsidium ausgegebenen Berichte unter eine kritische Sonde zu nehmen. Nirgends erinnert man sich der blutigen Maitage von 1929, die bekanntlich mit wilden Aufruhrmeldungen begannen und mit einer ausgewachsenen Polizeiblamage endeten. Das Schlußergebnis bildeten dreißig Tote und dreimal soviel Verletzte, aber nicht ein Quentchen Beweis konnte erbracht werden, daß diese Opfer im Straßenkampf gefallen waren, daß überhaupt so etwas wie Aufruhr stattgefunden hatte. Und niemand erinnert sich mehr der erst kurze Zeit zurückliegenden Episode, wo ein Schutzpolizist in Zivil im dienstlichen Auftrag zwischen lärmenden Demonstranten gesteckt hatte.

Die politischen Gründe dieser neuesten Kommunistenhetze sind leicht zu finden. Den sogenannten Siegern vom 9. August ist nicht ganz wohl bei ihren Lorbeeren. Statt daß jetzt mit den Rechtsparteien endlich Fraktur geredet wird, will sich Brüning mit Hugenberg freundlich unterhalten. Die preußische Regierung hat die ihr von der Reichsregierung wegen der Zwangsveröffentlichung ihres Aufrufs erteilte Maulschelle schweigend eingesteckt. Ein schönes moralisches Beispiel, daß auch der Sieger nicht dem Hochmut verfallen darf. Die angeblich in Stücke geschlagene Rechte findet freundliche Samariterhände, die ihr die Schwielen am Hintern mit Salben bestreichen. Losung aus dem Reichspräsidentenpalais: auf Lazarette darf nicht geschossen werden! So blieben nur die Kommunisten übrig. Die Sozialdemokraten benutzen die allgemeine Vernebelung, um die Konkurrenz aufzureiben oder wenigstens nach Kräften zu schädigen. Es wird ihnen nicht gelingen. Nur die Kluft zwischen den beiden Arbeiterparteien wird verbreitert, hoffnungslos verbreitert werden.

Auch die neue blutige Episode am Bülowplatz gehört in das jammervolle Kapitel der Kämpfe zwischen den beiden Arbeiterparteien. Nicht Staat und Staatsfeinde sind es, die hier ringen, sondern Parteien, von denen die eine das Glück hat, als Staatsautorität verkleidet walten zu dürfen. Ich behaupte, daß dieser jahrelange Bürgerkrieg am Bülowplatz unter einem halbwegs verständigen bürgerlichen Polizeipräsidenten unmöglich wäre. Dem wären die Kommunisten Hekuba; nur Sozialdemokraten, also Blutsverwandte, kennen diesen intimen Haß, dieses beißende Gelüst, die Abscheulichkeit, die Gemeingefährlichkeit der benachbarten Partei immer aufs neue zu beweisen.

So ist der Bülowplatz seit Jahr und Tag die klassische Berliner Arena erbitterter Partisanenkämpfe. Ein Stück Mittelalter tut sich mitten in der nüchternen Millionenstadt auf. Alexanderplatz gegen Bülowplatz! Polizeipräsidium gegen kommunistische Parteizentrale! So stand das Quartier der Capulets gegen das der Montagues. So stand die Stadtvogtei des Patriziats gegen das Haus der Zünfte oder der Handwerksgesellen. Ist es nicht wie eine Erscheinung aus versunkenen Jahrhunderten? Seit Jahr und Tag wiederholt sich das: eine Polizeistreife kommt über den Bülowplatz; ein paar junge Burschen, mit Parteiabzeichen versehen, gehen vorüber. Die Polizisten sehen die jungen Leute scharf und mißtrauisch an, diese erwidern mit herausfordernden Blicken oder Grimassen. Ein böses Wort fällt, die Gummiknüppel fliegen, ein Schuß kracht, und nachher liegt ein Polizist oder ein junger Arbeiter starr und strack auf der Bahre.

Gibt es da noch eine Schuldfrage? Es ist heute wohl fast unmöglich, das Maß von Schuld zu verteilen, und soll auch nicht versucht werden. Zwei Psychosen treffen hier explosionsbereit zusammen und verwandeln ein Stück dieser nüchternen und noch immer ruhigen Stadt in ein besonderes Territorium wüster Indianerinstinkte. Nicht Polizei, nicht Rotfront soll hier bemakelt werden, das sei den Parteimenschen überlassen. Es soll nur in jene tragische Verstrickung hineingeleuchtet werden, die immer neue Todesopfer, immer neue Lahmgeschossene und Krummgeprügelte fordert. Es kommt nicht darauf an, wer den ersten Schuß abgefeuert hat, aber die Schüsse vom 9. August müssen die letzten gewesen sein.

Wenn man in diesen Tagen über den Bülowplatz kommt, so bietet sich ein Bild, wie man es in Berlin seit der Revolution nicht gesehen hat. Das Karl-Liebknecht-Haus, das kommunistische Parteihaus, ist geschlossen; ein weiter Umkreis ist gesperrt und darf überhaupt nicht betreten werden. Die Schupos gehen zu zweien und herrschen jeden an, der die Hände in der Tasche hält. »Hände raus!« heißt es schon auf viele Meter Entfernung, von drohenden Gebärden illustriert. »Auseinander«, wenn ein paar Leutchen eingehakt gehen. Die Bauzäune im Zuge der Hankestraße bilden einen Engpaß, der vom Publikum gern benutzt wird, weil es sich zwischen den hohen Planken sicherer fühlt als auf dem weiten Platz. Es eilt schnell und schweigend an den Posten vorüber. Nach Dunkelwerden fahren die großen Mannschaftsautos umher, und das stechend weiße Scheinwerferlicht schlägt hart in erschreckte Gesichter, in geblendete Augen. Bei dieser Aufmachung fühlt sich jeder verdächtig, jeder als Missetäter. Schneller noch wenden sich Gesichter beiseite, huschen Menschen gespenstisch wie kopflose Schatten vorüber. So sieht es in einer eroberten Stadt am ersten Abend aus. Noch fühlt sich der Sieger von Hinterhaltschützen bedroht. Noch hat die Bevölkerung nicht angefangen zu fraternisieren. Noch haben die kleinen Mädchen vor den fremd aussehenden Soldaten Angst und machen ein Gesicht, als sollten sie gefressen werden. Nun, im Kriege hat sich das immer schnell gegeben. Hier jedoch hat man das Gefühl, daß diese Zivilisten und diese Uniformierten niemals zusammenfinden, niemals ein freundliches Wort wechseln werden.

Die Schupos patrouillieren zu zweien mit ernsten, verbissenen Gesichtern. Man sieht ihnen an, wie sie der Tod ihrer Kameraden getroffen hat. Man sieht aber noch mehr: sie fühlen sich in einem gefährlichen Dienst und noch immer an Leib und Leben bedroht. Sie stehen unter einem nervenaufreibenden Eindruck. Sie glauben zu wissen, daß jeder der Feind sein kann. Sie verlieren die neutrale dienstliche Haltung, wo eine Hand sich selbstvergessen in die Rocktasche senkt. Dann schreien sie schrill und undiszipliniert und stürzen drauflos, wie einer, der sich von unsichtbaren Feinden bedroht fühlt und erleichtert ist, daß diese geheime, diese körperlose Schrecknis plötzlich ein Gesicht bekommt. Auch sie sind die bedauernswerten Mitspieler eines politischen Trauerspiels, in dem es für sie weder Maß noch Urteil gibt, nur das Bewußtsein, pflichtgemäß zu handeln. Sie fühlen sich nicht als Sicherheitspolizei, sondern als Soldaten. Sie wissen: wenn sie eingesetzt werden, so bedeutet das Krieg. Der Soldat fragt nicht, warum Krieg ist. Das ist nicht seine Sache, darüber mögen sich die Vorgesetzten den Kopf zerbrechen.

So patrouillieren sie paarweis über den weiten Bülowplatz und an den Ausgängen der schmalen Zufahrtsstraßen. Ihre Blicke sagen: Wir werden von hinten erschossen, das ist kein ehrlicher Krieg! Und was habt ihr überhaupt in der Feuerzone verloren? Oder steckt ihr alle mit denen im Bunde, die aus dem Hinterhalt schießen? Die Männer jagen hastig weiter, niemand hat Lust, sich aufzuhalten, die Mädchen mit ihren Stadtköfferchen trippeln auf hohen Absätzen vorbei, ohne aufzublicken. Niemand denkt an Resistenz. Es ist richtig, hier sind zwei Morde geschehen. Aber Mordtaten werden sonst im stillen aufgeklärt. Niemand denkt sonst daran, einen ganzen Stadtteil deswegen für aussätzig, für außerhalb des Gesetzes stehend zu erklären, über ihn deswegen das Kriegsrecht zu verhängen.

Spätabends ist der Platz so gut wie leer. Wer nicht grade dort wohnt, wählt lieber einen andern Weg. Der Passant fährt plötzlich erschreckt zusammen: aus einer Mauernische starrt ihn ein forschendes Gesicht unter einem schwarzen Tschako an. Dann wird die Erscheinung wieder von der Finsternis gefressen. Es ist unheimlich still in diesen dichtbevölkerten Proletarierstraßen. Ferne Schritte verhallen, und hoch oben über dem Kinopalast »Babylon« knallt ein großes rotes Plakat, grell beleuchtet, aus dem nächtlichen Dunkel des alten Scheunenviertels. »Opernredoute«: ein zärtliches Paar mit gespitzten Lippen. Seltsam, wie obszön dieses harmlose Plakat über diesem waffenstarrenden Platz wirkt. Es ist wie die Vision eines riesenhaften Kriegsbordells.

 

Eine Polizeibeamtenzeitung schrieb vor einiger Zeit klagend: »Leider ist es heute so, daß der im Dienst befindliche Polizeibeamte immer auf sich allein oder auf seine Kollegen angewiesen ist und nur sehr selten Hilfe und Unterstützung aus dem Publikum erhält, wenn er bedrängt wird.«

Diese Klage steht in einem Verbandsblatt, dessen republikanische Gesinnung nicht bezweifelt werden kann, wie denn überhaupt die preußische Polizei noch immer starke republikanische Bestandteile enthält. Desto bedauerlicher ist auch der unverkennbare Zwiespalt zwischen der Polizei und dem Publikum, besonders der Arbeiterschaft. Der Grund dafür ist in der ungewöhnlichen und nur selten motivierten Härte des körperlichen Zugriffs zu suchen, den die Polizei bei Auftritten, namentlich politischer Art, für nötig hält. Erste Phase: Rippenstoß, von Gebrüll begleitet, zweite Phase: Gummiknüppel, dritte Phase: Revolver. Das ist feststehender Ritus. Wenn ich nach eignen Beobachtungen schließen darf, so muß ich sagen, daß der einzelne Schutzpolizist bei Auskünften der höflichste Mensch von der Welt ist; im übrigen tolerant gegen Besoffene, beim Erscheinen von Radaubrüdern bereit, nach der andern Seite zu gucken; ein wahrer Satan jedoch, wo sich ein kleiner politischer Krakeel anspinnt. Die preußische Polizei hat manche Vorzüge, aber unglücklicherweise fehlt ihr die Erkenntnis, daß ein Teil der Politik sich heute auf der Straße abspielt; eine Tatsache, die wir auch bedauern, die uns aber nicht nötigt, deswegen einen Totschläger zu erwerben. Die Polizei sieht in Menschen, die Versammlungen besuchen, ihren natürlichen Feind. Staatsbürgerliche Rechte und obrigkeitliche Auffassungen von Ruhe und Ordnung werden auch in stilleren Zeiten oft kollidieren. Heute sind Millionen unter uns verzweifelt, weil sie nicht wissen, wovon sie am nächsten Tage leben sollen. Solche Stimmungen müssen sich notgedrungen in Einzelexzessen Luft machen. Und diesen bis jetzt gewiß nicht großen Ausschreitungen steht eine militarisierte Polizeitruppe gegenüber, der ein schäbiger Rock, ein ausgehungertes Gesicht schon hinreichend verdächtig erscheint. Da wird gleich geschrien, da setzt es umgehend Puffe und Schläge. So entsteht zwischen Polizei und Proletariat ein Zustand des Hasses und der Gewalttätigkeit; auf beiden Seiten gibt es vieles zu rächen. Die Vendetta ist in manchen Gegenden schon zur normalen Verkehrsform geworden.

Es wäre ungerecht und unsinnig, den einzelnen Schupomann verantwortlich zu machen. Er lebt kaserniert, er hält sich an Instruktionen, und diese Instruktionen werden gewiß sehr schroff sein. Sie müssen den Mannschaften das Bild einer bösen, feindlichen Welt geben, in der man, wie im Kriege, zuerst schlagen muß, um nicht selbst erschlagen zu werden. Diese nervösen, oft übernächtigen Gesichter, diese argwöhnischen, angespannten Augen unterm Tschako lassen auf die Härte der Instruktionen schließen. Entspricht dieses Bild der Wirklichkeit? Gewiß, wir haben sehr geräuschvolle radikale Parteien. Aber hat selbst die ungeheure Verelendung dieser letzten beiden Jahre schon Ausschreitungen größern Umfanges gezeitigt? Es hat keine nennenswerten Hungerkrawalle gegeben, wie allgemein erwartet wurde. Wo Scheiben eingeworfen wurden, handelte es sich, wie schnell festgestellt wurde, um hakenkreuzlerische, um antisemitische Zettelungen. Ausländische Beobachter schreiben bewundernd von der Disziplin des deutschen Volkes, sich nicht in unnützen Gewalttaten zu verlieren. Nur unsre Obrigkeit bringt Deutschland nicht das gleiche Vertrauen entgegen. Sie steht ständig schußbereit, und bei jedem Hoch auf Rotfront geht das Gewehr los. Die Obrigkeit ist viel besser genährt als das Gros des Volkes, aber ihre Nerven sind bedeutend schlechter.

Es wird auch allzu oft mit zweierlei Maß gemessen. Viele Polizeioffiziere, die nach links ausschlagen, ertragen nationalsozialistische Ausschreitungen mit beleidigender Nachsicht. Nicht nur Kommunisten, auch das stets so loyale Reichsbanner hat manche Schramme davongetragen. Hat es nicht bei den Remarque-Krawallen im vorigen Winter tagelang gedauert, ehe die Polizei etwas gegen das Straßenregiment des kleinen Goebbels unternahm? Ich denke auch an die denkwürdige Premiere des »Flötenkonzerts von Sanssouci« im vorigen Dezember, wo Polizisten sich auf jeden harmlosen Zischer und Zwischenrufer mit der Wildheit von Amokläufern warfen und ihn mit sich schleppten, während sie stumm wie Bildsäulen blieben, wenn unmittelbar hinter ihnen »Deutschland erwache!« gerufen wurde. Eine Polizei, die alle gleich hart anfaßt, mag als ungemütlich empfunden werden. Eine Polizei jedoch, die ihre Energie vornehmlich gegen eine Seite richtet, verliert ihre Autorität und wird einfach als Partei betrachtet werden.

Der Abend des 9. August am Bülowplatz war für die Polizei gewiß tragisch. Aber ihre Maßnahmen seitdem tragen nicht zur Beruhigung bei, sondern sind nur geeignet, neue Racheinstinkte zu erwecken. Die Presse deckt alles, was seitdem geschehen ist, mit dem Mantel der Liebe, glücklich, sich an den kommunistischen Prügelknaben halten zu können. Wenn der Rotkoller verflogen ist, wird manches wieder anders aussehen. Was inzwischen unter die Räder kommt, ist ja nicht viel: es sind nur die verfassungsmäßigen Garantien persönlicher Freiheit. Der Deutsche ist leicht geneigt, auf solche Kleinigkeiten zu verzichten.

 

Die deutsche Presse weiß sich in dem Punkte einig, daß die Zentrale der KPD den Mord an den beiden Schupoleuten bestellt hat, um ihre Niederlage beim Volksentscheid zu verdecken und ihren Leuten etwas zum Protestieren zu geben. Bisher hat sich noch keine Spur ergeben, die dahin führt; die Terrorgruppen konnten nicht nachgewiesen werden und werden auch nicht nachgewiesen werden können, denn so dumm ist keine Partei, sich auf ein so waghalsiges Abenteuer einzulassen. Das Geheimnis könnte nicht lange verborgen bleiben, seine Enthüllung würde das Verbot der Partei automatisch herbeiführen. Schon lange wird in gewissen Regierungskreisen des Reichs und Preußens mit diesem Gedanken gespielt. Ein Rückzug in die Illegalität würde die Partei um die Verbindung mit den Massen bringen. Sie müßte ihre ganze Kraft auf die Erhaltung des umfangreichen Apparates richten. Ein paar Draufgänger mögen das interessante Halbdunkel illegaler Arbeit herbeiwünschen, die Funktionäre, die den Ausschlag geben, sind davon weniger begeistert.

Es ist übrigens noch niemals gelungen, großen Parteien politische Morde an die Rockschöße zu hängen, aber manche Parteien, die sich heute höchst honorig gebärden, sind schon solchem Verdacht ausgesetzt gewesen. Die Attentate der siebziger Jahre schrieb Bismarck großzügig und unbegründet der Sozialdemokratie und dem Zentrum zu und erreichte damit sein Sozialistengesetz. Mit diesem Ausnahmegesetz hat Bismarck jahrelang die Sozialdemokratie unter der Fuchtel gehalten. Das war die heroische Zeit der Partei.

Heute wird das Sozialistengesetz von Sozialisten gegen Sozialisten angewendet, und damit hat es eine Schärfe und Unbarmherzigkeit erlangt, von der Bismarck nichts ahnte. Im Berliner Polizeipräsidium sieht man in der Kommunistischen Partei den Feind schlechthin. Hier ist zuerst die Idee entstanden, die Roten Frontkämpfer aufzulösen. Damit nimmt der Kampf zwischen den beiden Parteien eine unerhörte Gehässigkeit an. Die Kommunisten weigern sich, darin einen Akt der Staatsautorität zu sehen, sondern nur die Willkür einer konkurrierenden Partei, die ihre Macht nicht gegen die Reaktion zu gebrauchen wagt. Zugleich bedeutet diese Auflösung des kommunistischen Kampfbundes eine ungeheure Vergiftung des politischen Lebens und besonders des Verhältnisses zwischen den beiden Arbeiterparteien. Eine Organisation von Hunderttausenden läßt sich nur unterdrücken, nicht auflösen. Sie flüchtet in hundert verschiedene Masken und Namen. Ihre geheimen Mitglieder fühlen sich zu äußerster Aggressivität verpflichtet. Ihr Aktivismus lebt sich in gewalttätigen Formen aus. Sie wittern überall Verrat, sie laufen mit bösartiger Spannung herum. Kurzum, sie gleichen in ihrer Geistesverfassung immer mehr ihren uniformierten Gegnern. Auch sie fühlen sich als Soldaten, als die Streiter eines kommenden Rechts, als die Vorposten einer Legalität, der einmal die ganze Welt im Zeichen der Dritten Internationale unterworfen sein wird.

Das ist das Unheimliche an dieser Situation, daß sich die Leute vom Bülowplatz und vom Alexanderplatz so ähnlich sehen. Wer das einmal erkannt hat, wird es aufgeben, nach Schuldfragen zu suchen. Was hier nötig ist, das ist kein neues Hochgericht, das ist ein ehrliches Clearing-House, das ist ein Mittler. Sonst bluten beide Arbeiterparteien langsam aus. Dann wird es weder eine demokratische Republik geben noch ein Sowjetdeutschland, sondern nur die Reaktion, den Faschismus.

Der Vorwurf, der gegen die Kommunistische Partei zu erheben ist, liegt nicht in der Linie der von der bürgerlichen und sozialdemokratischen Presse erhobenen Anklagen. Der ärgste Fehler, den die Partei begeht, ist der, daß sie eine Revolutionsromantik nährt, für die kein realer Boden vorhanden ist. Die Führer leben nicht in diesem Deutschland mit seiner Geduld, mit seinem Beharrungsvermögen, sondern im vorletzten Stadium der Revolution, in der kurzen Etappe vor dem definitiven Sieg. Richtig ist ihre Diagnose, daß wir in höchst revolutionären Zuständen leben, aber sie verkennen darüber, daß die Menschen nicht revolutionär sind. Sie buchen jede gegen einen Schutzmann erhobene Arbeiterfaust als Plus im Revolutionskonto. Aber es geht ihnen nicht auf, daß es sich hier um individuelle Akte von Desperation handelt. Sie folgern aus einer Straßenschlägerei, daß »das Proletariat nicht mehr zu halten ist«, und ahnen nicht, wie schnell das leidenschaftliche Aufbegehren wieder in Passivität und Stumpfheit umschlägt. Sie leben in einer phantastischen Welt, halb russische, halb chinesische Revolution, und danach richten sie ihre Taktik ein. So fürchten sie immer, »die Massen zu verlieren«, so klemmen sie sich hinter den Nationalismus, aus Furcht, Hitler könnte ihnen Leute wegschnappen, so ziehen sie den blamablen Scheringer-Rummel auf, so drängen sie sich in den Volksentscheid, so suchen sie sich dem Faschismus anzugleichen, anstatt den entgegengesetzten Typus deutlich herauszubilden. So gewinnen sie vorübergehend versprengtes Bürgertum oder ein paar masochistische Intellektuelle, die selig sind, wenn sie ein kräftiger Funktionär anbrüllt. Nur den gewerkschaftlich organisierten Kern der Arbeiterklasse, den gewinnen sie nicht.

Ein getreuer Abklatsch dieser Romantik ist das Karl-Liebknecht-Haus am Bülowplatz. Man denke sich ein modernes vielstöckiges Bürohaus so aufgemacht, als wäre es eine verborgene Kellerhöhle, wo sich vermummte Verschwörer um Mitternacht treffen und in Geheimzeichen reden. Wer dieses Hauptquartier der deutschen Revolution betritt, der begibt sich damit in die ehrwürdige Sphäre des Detektivromans. Das ganze Haus ist in seiner Verwinkelung ein wahres Labyrinth. Es gibt Türen ohne Klinken, die mit einem Griff untern Tisch geöffnet werden. Der Besucher fühlt sich unter argwöhnischen Blicken wie ein unglücklicher Wanderer, der aus Versehen in eine belagerte Festung geraten ist und nun das Schlimmste erwartet. Aber es ist, Gott sei Dank, nicht so schlimm. Denn der junge Mann mit der feldmarschmäßigen Lederjacke entkorkt grade eine Thermosflasche, und in der Ecke tickt keine Höllenmaschine, sondern raschelt nur Stullenpapier. Aber diese ganze Inszenierung à la Edgar Wallace ist grotesk. Was hat sie schließlich genutzt? Die Polizei drang wie in jedes andre Haus ein und setzte die Bewohner an die Luft. Den meisten, die im Parteihaus arbeiteten, sieht man an, daß sie an einer Art von Belagertenpsychose kranken. Und das ist seit langem das Leiden der ganzen Partei. Sie wehrt sich gegen neue Ideen, sie bildet in ihrer Geistesenge das Musterbild eines Staates, in dem die Autarkie ausgebrochen ist. So kann einmal Deutschland aussehen, wenn die Apostel der »eignen Kraft« sich durchsetzen sollten.

An der Peripherie der Partei aber hat sich allerhand angesetzt, was nicht in eine Arbeiterpartei gehört. So gewiß die Auflösung von Rotfront daran schuld ist, daß sich ein höchst unerwünschtes Revolverheldentum eingenistet hat, so gewiß ist leider auch, daß die Partei bisher öffentlich nichts getan hat, um sich von einer besonders fatalen Spielart eines mißgeleiteten Aktivismus zu reinigen. Was in den Organisationen selbst geschieht, entzieht sich der Kenntnis dessen, der kein Mitglied ist, aber öffentlich ist nichts geschehen, und in der Parteipresse ist nichts davon zu lesen. Es ist gewiß schwierig, in dieser Zeit maßloser Verelendung den Maßstab zu finden, aber Hooligans haben in einer Arbeiterpartei nichts zu suchen. Und die KPD, die besonders stramm ist, wenn es gilt, intellektuelle Ausschweifungen zu sühnen, die massenhaft diejenigen hinauswirft, die unter Kollektivismus nicht den Verzicht auf eignes Denken verstehen, diese Partei sollte sich vor physischen Exzessen nicht schwächer zeigen als vor geistigen. Die vornehmste Pflicht aber wäre, der Arbeiterschaft ein reales Bild von den Dingen in Deutschland zu geben. Wer glaubt, sich mitten im Endkampf zu befinden, wird in der Wahl der Mittel nicht sehr heikel sein, wird leicht glauben, daß ein fester Stoß genügt, die Bastille des Kapitalismus zu werfen. Aber am Boden liegt nachher nicht der Kapitalismus, sondern ein armer Mensch mit Bauchschuß, ein armer Mensch, der mit Schmerzen verzuckt, ob er eine Uniform trägt oder ein Parteiabzeichen.

Es ist ein ungemütliches Schicksal, in einem Augenblick wie diesem zwischen den Parteien zu stehen. Es ist eine schwere Aufgabe, von Vernunft zu sprechen, wo die Träger der Unvernunft auf beiden Seiten geehrt und geachtet die Führung fest in der Hand halten. Wer mit der weißen Fahne auf die Straße geht, wo zwei Parteien streiten, braucht um Spott und Pferdeäpfel nicht verlegen zu sein. Soll aber dieser menschenfressende Krieg zwischen Bülowplatz und Polizeipräsidium weitergehen? Jedes neue Opfer vergrößert nur den Leichenhügel zwischen den Arbeiterparteien ins Unübersteigbare. Es ist ein nutzloser Kampf ohne tiefere Realität: zwei Psychosen führen Krieg miteinander, zwei überspitzte Thesen suchen eine leider sehr körperliche Auslösung. Von beiden Parteien kann mir bedeutet werden, daß das innere Parteiangelegenheiten sind, die den Außenstehenden nichts angehen. Wer nicht organisiert ist, hat in Deutschland nicht mitzureden. So können die beiden Parteien sich salvieren. Aber in einem Verbande bin ich allerdings organisiert, als dessen Mitglied lasse ich mir nicht den Mund verbieten, und das ist der große Verein Deutsches Reich. Dem Staatsbürger kann man nicht zu sagen verwehren, daß die Politik der gegenwärtigen Inhaber des Berliner Polizeipräsidiums mit der Verfassung nichts zu tun hat, daß sie ein schlechtes Beispiel aufstellt für alle, die später einmal diese Machtposition innehaben werden. Die Staatspolizei ist keine Parteitruppe. Trotz der abgelehnten Landtagsauflösung ist noch immer recht unklar, wer im nächsten Sommer schon in Preußen regieren wird. Wenn der nächste Chef der Exekutive in Berlin den Sozialdemokraten ähnliche Gefühle entgegenbringt wie Herr Grzesinski den Kommunisten, dann geht die Partei bewegten Zeiten entgegen. Das Polizeipräsidium, das ist unmißverständlich zu sagen, genießt das Vertrauen der Berliner Bevölkerung nicht, und diese Unbeliebtheit wird auf dem Rücken und mit den Knochen des einzelnen Schupomanns ausgetragen. Die letzten Ereignisse am Bülowplatz sollten den Herren am Alexanderplatz einigen Stoff zum Nachdenken geben. Denn Herr Grzesinski wird doch nicht glauben, daß seine Partei ewig dieses Haus besetzt halten wird. Auch für ihn, auch für Herrn Severing, den obersten Chef der preußischen Polizei, gilt das alte Wort: »Auch Patroklus ist gestorben und war mehr als du ...«

 

Die Weltbühne, 18. August 1931

 


 << zurück weiter >>