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Drei Variationen über ein zeitgemäßes Thema

 

Verfall

Jüngst stimmte der fromme Berliner »Reichsbote« ein herzbewegendes Klagelied an über den Verfall der Sittlichkeit im allgemeinen und die Zunahme der Ehescheidungen im besondern. Vor Tisch las man's anders. Es ist noch gar nicht lange her, da feierte der »Reichsbote« im Verein mit seinen orthodoxen Brüdern den Krieg als den großen Erneuerer und Erwecker aller Tugenden, als Retter aus dem Sumpfe materialistischer Üppigkeit, in den allzu lange Friedenszeit uns gebracht hat. Sage mir, lieber »Reichsbote«, bist du auch unter die Flaumacher gegangen ...?

 

Warum unser Volk noch im Kern gesund ist

Ich verstehe deinen Kleinmut nicht recht, Freund »Reichsbote«. Denn noch ist unser Volk im Kern nicht angefressen. Dafür habe ich ein paar Schwurzeugen. Zum ersten: den Zentrumsabgeordneten Dr. Hess. Dieser Herr äußerte anläßlich der letzten Beratung des Kultusetats im Preußischen Abgeordnetenhause, es werfe ein gutes Licht auf den Kern unseres Volkes, daß ein so reines, keusches Werk wie das »Dreimäderlhaus« es in Berlin auf 850 Aufführungen bringen konnte. Zwar meinte Theodor Wolff dazu, ein solches Urteil in Kunstfragen hätte selbst in Böotien die Ironie aufgestachelt. Aber über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Immerhin muß man wünschen, der Herr Abgeordnete, der ja von Beruf Schulmann ist, möge in seiner Unterrichtspraxis sich möglichst auf Geometrie und Turnen beschränken und einen weiten Umweg um die schönen Künste machen. Erhebend ist jedoch sein Glauben an den gesunden Kern unseres Volkstums. Und nicht weniger erhebend die Begründung.

 

Und noch einer hat den Glauben nicht verloren

Er stützt sich zwar nicht auf das »Dreimäderlhaus«, aber er könnte es nach seiner Geistesverfassung ganz gut tun. – Ja, wer da glaubt, der Last dieser Zeit schier erliegen zu müssen, dem ist nicht zu helfen – er müßte denn rechtzeitig den Artikel »Krieg und Glaube« von H. Peus im Junihefte dieses Blattes lesen. Das wird ihn wieder auf die Beine bringen. Da wird dem Flügellahmen und Wandermüden eine philosophische Wegzehrung geboten, so daß er neu gestärkt den Stab ergreifen und mit einem Jauchzer seine Wanderung fortsetzen kann, die Helle vor sich, Finsternis im Rücken. Denn es ist ja alles nicht so schlimm, und der sogenannte Krieg ist auch nicht grausamer als der sogenannte Friede, der im Grunde nicht mehr ist als eine Fortsetzung des Krieges, wenn auch mit andern Mitteln. Wozu alles so schwernehmen, wozu immer miesepetrig sein? So wie du die Welt anschaust, so schaut sie dich wieder an. Es gibt keine Situation, die nicht lebenswert gestaltet werden könnte. Gesetzt den Fall, Lieber, du hocktest im Granattrichter, halb betäubt von giftigen Dünsten – warum so miesepetrig? Jeder Situation läßt sich Reiz abgewinnen. Das beste ist schon, du machst unter der Gasmaske die Lippen spitz und flötest: Ja, wunderschön ist Gottes Erde und wert, darauf vergnügt zu sein ...

Das ist so in großen Zügen die frohe Botschaft, die der Optimist Peus an die arme, müde Welt richtet. Wahrhaftig, man faßt sich an den Kopf. Sollte dergleichen Anschauung im Bunde um sich greifen, dann täten wir besser, auf die zum Sternenhimmel lodernde Flamme als Symbol zu verzichten. Herr Peus läßt keine Gelegenheit verstreichen, ohne von Friedfertigkeit, Versöhnlichkeit, Duldsamkeit zu sprechen. Ein leuchtendes Dreigestirn, in der Tat. Es gibt aber auch eine Duldsamkeit, die zum Unrecht gegen die Sache wird, die man verficht. Ich kann mir nicht helfen, immer wieder rumort mir eine alte Strophe im Kopfe herum, die ihre zweihundert Jahre auf dem Nacken trägt, aber an unheimlicher Aktualität nichts eingebüßt hat:

Man vergißt, sich zu entrüsten,
und verfällt von Zeit zu Zeit
und gewöhnt sich ganz gelassen
zu der Niederträchtigkeit.

 

Monatliche Mitteilungen des Deutschen Monistenbundes, September 1918

 


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