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Wo bleibt das Theater?

Die ersten Kriegswochen waren vorüber, die ersten Schläge gefallen. Die ungeheure Spannung wich. Wir fingen wieder an, uns der Umwelt zu erinnern. Alte Neigungen erwachten wieder. In diesen Tagen öffneten die Theater ihre Pforten. – Nun ist der erste Monat verflossen, und man kann es sich erlauben, über den bisherigen Spielplan ein Urteil zu fällen. Leider muß festgestellt werden, daß die Bühnen uns eine schlimme Enttäuschung bereitet haben. Kein Hauch unserer eisernen Zeit hat sie berührt. Mag sein: wir haben keine gangbare dramatische Ware, die eine gewisse patriotische und pädagogische Note hat, aber durch Schlichtheit der Sprache und Lauterkeit der Gesinnung auch auf diejenigen wirkt, die sonst Tendenzwerke jeder Art unbedingt ablehnen. Heyses »Colberg« ist längst verblaßt, der »Fechter von Ravenna«, den man nun allerorten sieht, ist in seinem Schwulst für uns unerträglich, und Wildenbruchs ehrliche Begeisterung kennt kein Körnchen Selbstkritik und gleitet allzu häufig in die Regionen der Trivialität hinab. Da uns eine eigentliche patriotische Literatur fehlt, müßten wir auf jene Werke zurückgreifen, die für ewige Zeiten als stolze Säulen deutschen Nationalbewußtseins emporragen. »Faust«, »Wallenstein«, »Götz«, die »Hermannsschlacht«, Grabbes »Napoleon« – wo bleiben sie? Die Theater – natürlich machte Berlin den Anfang – bringen uns sentimentale Schmachtfetzen von Anno dazumal, oder, was noch schlimmer ist, sie lassen spekulative Zeitgenossen mit jämmerlichen Reißern zu Worte kommen, die dadurch nicht besser werden, daß sie hochtrabende Titel führen wie »Vaterland« oder »Das Volk steht auf – der Sturm bricht los!« – Sehen denn die Bühnenleiter nichts von dem prächtigen vorwärtsstürmenden Leben dieser Tage? Sie stöbern die vermoderten Spielpläne durch, sie fühlen nichts vom lebendigen Geist, der überall weht – sie stecken bis über die Ohren in verstaubter Kulissentradition und in toter Routine. Darf so die Schaubühne eines Volkes aussehen, das um seine Existenz ringt? – Es ist übrigens nicht verwunderlich, daß unsere führenden Theater, die recht oft Theater gegen die deutsche Literatur waren, nun, da die ausländische Dramatik ebenso plötzlich verschwunden ist wie die ausländische Konfektion, in arger Ratlosigkeit dastehen und ihnen das »Deutschsein« nicht gerade leichtfällt. Immerhin hätte man nicht erwartet, daß der neue Bund mit dem deutschen Geiste so kläglich ausfallen würde. Was bieten uns die Bühnen, deren Mittel auch das Beste gestatten würden? »Gewonnene Herzen« – – »Mein Leopold« – – –! Solche Vorstellungen machen sich die Bühnenleiter vom deutschen Geist! Aber freilich: die Theater hätten nicht in wenigen Wochen so arg versagt, wenn sie nicht seit Jahren versagt hätten. Dennoch tut uns diese Enttäuschung weh. Wir haben erwartet, daß Zauberer erstehen würden, stark genug, um die Geister Schillers und Kleists machtvoll zu beschwören. Statt dessen spuken die Schatten Kotzebues und Raupachs in den Souffleurkasten herum. Wir haben die Schauer der Tragödie ersehnt, und man regaliert uns mit Melodramen. Wir wünschen Unruhs »Louis Ferdinand« – aber die Herren Direktoren liefern die Bretter offenbaren Dilettanten aus, die uns weismachen möchten, die blechernen Töne ihrer Kindertrompeten hätten etwas mit echten Fanfarenstößen zu tun. Das Übel hat sich schon weit eingefressen. Wir können es nicht ändern – aber wir wollen es auch nicht hinnehmen! Verbringen wir unsere freien Stunden lieber bei Clausewitz' Schriften oder bei Hauptmanns »Florian Geyer«, und verzichten wir auf das Theater, das seine Zeit wieder einmal so gründlich mißverstanden hat.

 

Das Monistische Jahrhundert, 1. Dezember 1914

 


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