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Ludwig Börnes Auferstehung

Was wissen Sie von Ludwig Börne? Er ist ein Stiefkind der Literaturgeschichte, in die er eigentlich nicht ganz hineingehört, denn obgleich er jahrelang seine Feder am Theater wetzte, war er doch kein Mann der Kunst, sondern aktivierender politischer Publizist. Für die liberalen Literaturhistoriker ist er der Doktrinär und demokratische Buchstabenfanatiker, der den musischen Kameraden Heine nicht verstand und ihn deshalb mit dem Anathema belegte, für die reaktionären dagegen bedeutet er den Beginn der jüdischen Publizistik. Grund genug, ihn zu verbrennen.

Es war doch Zeit, den lebenden Börne wieder zu entdecken. Gewiß war es schwierig, denn Börne hat keine kompakten »Werke« hinterlassen, sondern nur ein paar Bände »Gesammelter Schriften«, von denen kaum ein Stück länger ist als einen Druckbogen. Aber Ludwig Börne zählt zu den größten Schriftstellern deutscher Sprache, er hat den feinen, klärenden Verstand Lichtenbergs, den skurrilen Humor, das religiöse Pathos Jean Pauls und dazu eine pamphletistische Stoßkraft, die kein Vorbild, keine Ahnen hat, sondern Ludwig Börne ist, nur Ludwig Börne.

Ludwig Marcuse kann das Verdienst beanspruchen, die Gestalt Börnes der toten Historie entrissen zu haben. Marcuse, den Lesern der »Weltbühne« wohlvertraut, seit ein paar Jahren vielbeachteter, vielumkämpfter Theaterkritiker in Frankfurt, Börnes Vaterstadt, hat das Leben, das Werk, die geistige Gestalt des Mannes in einem schönen, klaren Buch zu bannen gewußt: »Revolutionär und Patriot. Das Leben Ludwig Börnes« (Paul List Verlag, Leipzig). Marcuse, selbst ein mutiger Ideenkämpfer, hat ein starkes Bekenntnis zu einer geistigen Erscheinung abgelegt, der er sich verwandt fühlt und sich verwandt fühlen darf. Dann aber hat er um die Gestalt Börnes einen tiefen, farbigen Hintergrund geschaffen: die Ära Metternich, die Demagogenverfolgung, die Julirevolution. Der junge Börne beginnt als großdeutscher Patriot von Frankfurter Lokalfärbung, der Mann ist der Prophet der revolutionären Demokratie, der Sterbende steht an der Schwelle des Sozialismus.

Ausführlich schildert Marcuse die Jugend Börnes, die für sein Verstehen unentbehrlich ist: die Abscheulichkeit des Frankfurter Ghettos, die Kämpfe um die Judenemanzipation. Der junge Börne, der Judengasse entronnen, sucht Deutschland, das Vaterland, womit die hundertjährige Tragödie des deutschen Judentums beginnt. Doch das Vaterland verhält sich ablehnend. Im revolutionären Paris erkennt Börne, daß der Freiheitskampf der Zeit nicht auf einen von gestreiften Pfählen bestimmten Raum beschränkt ist, sondern über diese Pfähle hinweggehen muß. Er wird europäischer Patriot. Und als nach dem mächtigen revolutionären Aufschwung von 1830 der steile Abfall ins Justemilieu kommt, statt der Freiheit der Börsenliberalismus, da wird auch der Ewigsieche todmüde. Er lebt einsiedlerisch, Pathos und Witz fallen wie ein buntes Kleid ab, zurück bleibt ein kranker, innerlich werdender Mensch, der die großen Parolen seiner Jugend untersucht, über das Phänomen nachsinnt, daß auf den Barrikaden nur Arbeiter starben, aber die Geldsackbürger nachher die Herrschaft antraten. Ein früher Tod verhindert eine neue Wandlung.

In dieses Leben hat sich Ludwig Marcuse andächtig versenkt, und ihm gebührt unser Dank, daß er in einer Zeit der kommerzialisierten und mechanisierten Presse diesen vergessenen Urvater der deutschen Zeitungsschreiber wieder lebendig macht, das ideale Bild des freien, unabhängigen, nur seinem Gewissen verpflichteten Publizisten wieder herstellt.

 

Die Weltbühne, 10. Dezember 1929

 


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