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Jetzt erscheinen sie am Strand, dachte Peters – unermüdet, obwohl er seit Stunden schwamm. Der gute Georges, ein wenig steifbeinig wie immer am Morgen, ein bißchen verdrießlich – und neben ihm Maud! Sie kommt mit blitzenden Augen in den Morgen herein, hat ihren Ritt schon hinter sich, will schwimmen, Tennis spielen. Ihr ganzer Körper bebt vor Leben. Alle Augen am Strand halten auf sie. Sie weiß, daß sie hier Sonne ist.
Peters nahm sich vor, Minute um Minute zu verfolgen, was Maud tat, jetzt gerade dachte oder sprach. Das Wasser teilte sich so gehorsam unter seiner ruhig atmenden Brust, weich schnitten die Arme hinein. Er fühlte noch nichts von Kälte, hob sich mit jedem Stoß kräftig über die Wellen. Noch trug ihn die Ebbe, federnd, dem Triumph entgegen. Es kam nur darauf an, mechanisch zu schwimmen, wie man geht, wie man atmet, nicht an das Schwimmen zu denken. Viele Stunden lagen noch vor ihm.
Wie ihre weißen Kleider blitzten! Ganz nagelneu schienen Vater und Kind, vom Kopf zu den Füßen gepflegt, frisch, voll Luxus. So gern zeigte Maud fast bis zu den Waden hinauf ihre Beine, hob das Kleid ein bißchen, als läge der Strand nicht, spiegelglatt und von der Flut gefegt, meilenweit vor ihr.
Sie treffen Bekannte, es geht hin und her mit »How are you this morning?«, »What can I do for you?«.
Überall dieselben Worte. Dann und wann fragt jemand »Wie gehts Ihrem Bonaparte?«
Georges antwortet:
»Hoffe, er erscheint bald. Langweilig ohne ihn.« 123
Peters sah Mauds Gesicht bei diesen Worten, ein klein bißchen spöttisch, aber von einem Spott, der Dritten nicht sichtbar ist.
Warte nur, Spott! Dies Gesicht, so strahlend immer, so voll bubenhaft-guter Laune – seit Jahr und Tag hing es vor ihm. Es würde Jahrzehnte überdauern mit seinem Glanz und eitlen Firnis, jahrzehntelang »boyish« und »smiling« sein – wenn ihm, ihm allein es nicht gelang, Schicksal in diese wasserklaren Züge zu bringen! War sie nicht Fleisch und Blut wie er, dem Schicksal unterworfen, Krankheiten, Hunger, der Leidenschaft?
Mit neunzehn Jahren ein Kind! dachte Peters, ein englisches Fischblut. Girl, Girl – welch lächerlich plätscherndes Spielzeugwort! – Nippt so herum an den Kirschbäumen und Orangen des Globus, pflegt sich, schläft sein halbes Leben weg.
Neben ihr kann einer in Brunst vergehn, aus seinem Verlangen wachsen Taten und Untaten.
So was merkt's nicht, schläft sich die Probleme von der Stirn und plappert entsetzt »O, I say! No hot water for tea!«
Vielleicht wird sie heut einmal angesprochen – es gibt ja alte Damen in England mit Brille und grauem Scheitel, die für ihr geradeaus, ihr straightway, bekannt sind und sich auf dies straightway etwas zugute tun.
»I say, Maud, wie ist es mit Eurem Bonaparte? Bist du in love mit ihm? Er mit dir? Wollt Ihr ein Paar werden?«
Dann wird sie die Augen aufschlagen, so engelklar, daß Peters sie für diese Klarheit haßt. 124
»Etwas wie ein Freund von Papa, Tante Cecil. Das ist alles.«
Und Peters, acht Meilen fort von jenem Strand, die er mit seinen Armen durchschwommen, hört den verfluchten, singenden Klang:
»That's all – das ist alles.«
Es war alles, war noch alles.
Aber es ging nur eine halbe Stunde, nur Minuten vielleicht, bis das Strandgerücht zu ihnen dringt, zu Georges, der jetzt auch sein Handgelenk dreht, seinen Arm zum Tennis massiert und die Steifheit aus den Knien verjagt. Zu Maud, deren Beine unter dem dünnen, plissierten Rock nach Sprüngen und Laufen durstig sind, durstig nach dem einzigen bißchen Austoben im Sport, das sie ihren neunzehn Jahren gestattet.
»Dr. Peters schwimmt momentan nach Frankreich hinüber.«
Beide würden rufen:
»Unmöglich! Wir waren gestern abend zusammen – er hat nicht dran gedacht.«
Aber ein junger Gent, der offiziell die Zeit genommen hat, wird bezeugen.
»Gestartet um sieben Uhr.«
Die Boys, die ihn über die ersten Meilen weg begleitet haben, nach einer Stunde mit guten Wünschen umgekehrt sind, tauchen jetzt schon am Strand auf.
»Grüße von Dr. Peters, Mr. Louistone. Er kabelt Ihnen heute nachmittag von Calais.«
Ob vielleicht so etwas wie ein Schatten über das Kindergesicht, das gletscherglatte, hinzuckt und die engelklaren Augen – ein Wort, so verhaßt, daß man es immer wiederholen muß – ja, die engelklaren Augen unter einem Schrecken noch größer werden? 125
»Ouhh! Dr. Peters forciert den Kanal?«
Ob sie denkt:
»Ich hab' das gewollt!«
Ohne Begleitboot, ohne Vorbereitung, halb trainiert, schlägt er sich jetzt mit den Wellen herum, verliert sein Leben, weil ich, wie eine verspielte Katze, an ihm herumgezupft hab'!«
Jetzt fängt man an, seine Chancen auszurechnen, Wetten zu legen.
An mir könnt ihr Geld verdienen, boys – denkt Peters. Wer ein Pfund auf mich wettet, hat tausend Pfund gemacht, wenn ich lebendig in Calais an Land geh.
Eins zu tausend – besser würden seine Odds nicht stehen. Jetzt vergleicht man seine Maße, seine Chancen mit denen Webbs. Er ist leicht und unerhört sehnig. Seine Arme sind lang, beinah Affenarme. Aber kleine Hände.
Ja, und das Herz? Die Nerven? Die Lungen?
Georges denkt gewiß nicht mehr an Tennis oder Golf.
»Peters ist nervös«, gibt er zu. »Überarbeitet noch, angegriffen von dem Schicksalsschlag im Herbst.«
Die Dame im grauen Scheitel, die straightway-Dame fragt belustigt:
»Der Schlag, einen steinreichen Onkel plötzlich zu beerben? Dr. Peters hat bis dahin nichts zu eigen gehabt als die Löcher in seinen Strümpfen!«
Ob Maud ihr jetzt einen Blick des Vorwurfs, einen fast entsetzten Blick zuwirft?
Louistone sagt ganz bestimmt:
»Wir haben ihn bald nach dem schrecklichen Tod gesehen. War nicht mehr er selbst. War zerschlagen, downhearted zum Erbarmen.« 126
Maud, neben der man ihn täglich sieht, muß jetzt ein Wort sagen. Mindestens dem Vater beispringen:
»Ja, das war er.«
Gütiger Georges, kleine, gleichgültige Maud, was ihr wißt! Hat eins von euch den Abend kommen und die Nacht gehen sehen, fünfmal, sechsmal, ohne den Trost eines Schlafes? Downhearted war ich, niedergeschlagen? Ihr ausgeschlummerten Lämmlein, der Wahnsinn hatte mich! Schon in der dritten Nacht nach Karl Engels Tod war ich kein Mensch mehr, sondern ein zuckender, irrer Nerv.
Warum ich es getan?
Ja jetzt, die Sonne lacht, der Kanal schneidet sich unter meinen Armen wie Öl. Jetzt begreif ich's auch nicht, wo ich unterwegs bin, schnurgerad aufs Ziel! Aber damals, als ich Maud so fern war wie eine Feldratte dem Mond, ein armes, tief verachtetes Privat-Paukerchen in der deutschen Provinz! Und schon damals kein Trachten, kein Wollen als dich, Maud, Siebzehnjährige, Fremde, Hochmütige! Und plötzlich in der Bahn – drei Monate lang – dann wieder heraus, herausgeworfen, mit einem brennenden Fußtritt. Was ich damals getan in meiner Verzweiflung, dafür steh ich, das mußte geschehen.
»Denn ich bin ich! Denn ich bin ich!« grub Peters in die Flut, daß seine braune Brust sich über den Wasserspiegel hob, Schaum aus den Wellen schlug.
Capt'n Webb hatte eine andere Art zu schwimmen, halb auf der Seite, so daß seine Schulter das Wasser schnitt, nicht die Brust. Natürlich war das ein besseres Prinzip, Kraftersparnis sondergleichen. Peters hatte auch darauf trainiert, diesen vielbesprochenen Schlag herauszubringen. Aber nach kurzem ermüdet der neue 127 Schlag mehr als das redliche, langsame Brustschwimmen, mit dem er aufgewachsen. Für einen kurzen Run, den Endspurt vielleicht, mochte dies Ausgreifen des Arms wie mit einem Kanuruder richtiger sein. Nicht über sechzehn wohlgezählte Seemeilen, fast dreißig Kilometer deutsches Maß!
Peters suchte den Kompaß, den er an einer Kette um den Hals trug, nahm die Richtung. Von der französischen Küste noch kein Schatten. Aber er war ja so kurzsichtig. Er peilte häufig, nahm die Richtung nach der Sonne, einem massiven Wolkengebilde. Bisher hatte er noch keinen Schwimmstoß vertan. Er lag genau Süd-Ost, genau auf dem Strich.
Jetzt war eine Ruhepause verdient!
Das tat gut, sich auf den Rücken zu werfen, die Arme breit abgewinkelt, nur mit ganz leisem Plätschern die Richtung haltend. Tief, tief atmen, zwanzigmal!
Er fror noch nicht – Frieren war die große Gefahr bei diesem Gewaltstück.
Frieren, Hunger, Kurzsichtigkeit, Führerlosigkeit. Wenn er zudem anfing, über das Schwimmen selbst nachzudenken, über sein wertes Befinden, alle ihn bedrohenden Gefahren, – dann war er verloren!
Noch schimmerten die Kalkfelsen von Dover recht deutlich, in seine schwachen Augen sogar!
Noch kein Viertel des Weges war getan! Und sicher noch keine Stunde vergangen, seit die braven Jungens abgespurtet waren, die ihn als Schrittmacher ein gutes Stück geführt.
Eins hatte er diesem Webb und allen Muskelprotzen, allen Rekordtigern voraus, einen unendlichen Vorteil! Daß es wohl Frost, Hunger, Schwäche für ihn geben konnte, niemals aber Langweile! 128
Er trug einen Proviant bei sich, zehnmal dauerhafter als Bouillons, Zuckersäfte und Zurufe aus einer Begleitpinasse: sein unendlich wohl assortiertes Hirn!
Die erste leise Müdigkeit, die sich jetzt an ihn schlängelte, war rasch verscheucht, wenn er aus den Schätzen dieser Hirnkammer das richtige Stimulans wählte. Seine Philosophie? Seine Geschäfte und Prozesse? Goethe?
Goethe! Welches Kapitel aus Faustens Leben wählte er nun, um die Stunden rascher verrinnen zu lassen, als sie anderem Volk niederer Art in den Klubsesseln ihrer Theater vergingen? Nichts vom »Vorspiel« mit seinen geschlossenen, glasklaren Gedanken, die der Phantasie zu wenig gaben. Auch nichts von der ganzen Gretchen-Trödelei, diesem großen Geschrei über das Fliegenschicksal eines blonden Gänschens von Violet-Dimensionen.
Die kühnen Theorien aus Faustens Herrscherzeit, am Hof des Königs, – diese tief durchdrungenen ökonomischen Stratageme, Erfindung des Notengeldes, Widerlegung des Goldes als wirtschaftlicher Faktor?
In diesen Szenen war sein Gedächtnis nicht fest. Und es wäre jetzt nicht das Richtige, Verse zu suchen, zu aller Plage des Leibes sein Gehirn abzurackern, das ihn wie ein Ballon forttragen sollte.
Der alte Faust, der eben erblindete! Seine Begegnung mit Frau Sorge, die Monologe der drei Büßerinnen. Das war Lebensbrot! Oder Faust bei den Müttern? Da saß jede Zeile in seinem Gedächtnis!?
Er warf sich wieder auf die Brust, nahm die Richtung, holte tief Atem. Dann ruderte es aus eigener Kraft, ruderte es aus ihm heraus! Sein Körper glitt durch die Wellen, indessen – besser, tiefer im Verstehen und wuchtiger im Ausdruck als ein ganzer Chor 129 geschminkten Theatervolkes –, sein Hirn und Herz den Faust sprachen.
»Und hättest du den Ozean durchschwommen,
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well' auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas, sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne:
Nichts wirst du sehen in ewig leerer Ferne . . .«
Das war die richtige Musik! Jetzt stürmte auch er sein Leben durch, groß und prächtig! Er, Peters, ach, schon sechsundzwanzig Jahre alt und noch Beginner! Aber wieviel Hürden waren dennoch genommen!
»Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil;
Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,
Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.«
Die See wurde bewegter. Längst schon fehlte der Antrieb durch die Ebbe, der bisher dies fabelhaft sichere, leichte Gleiten ermöglicht. Es war unsäglich viel schwerer, seinen Körper über diese kleinen Wellenkämme fortzutragen, den Mund ängstlich geschlossen; manchmal schlug ihm doch eine Handvoll Salzwasser beizend in den Rachen! Dann mußte er spucken, husten, mit neu gebildetem Speichel die Mundhöhle reinigen. Das kostete Kraft – unterbrach die Kette tragender Gedanken.
Wie sündhaft schnell der rauschende Schlußakt des »Faust Zwei« heruntergespult war! Schon sprach Peters, selbst ein kantiger Greis im Talar, niedergewürfelt auf seine Knie, vor tausend angstvoll Lauschenden das große Gebet des Doktor Marianus: 130
»Die du großen Sünderinnen
Deine Nähe nicht verweigerst
Und ein gläubiges Beginnen
In die Ewigkeiten steigerst, –
Gönn auch dieser armen Seele,'
Die sich einmal nur vergessen . . .«
Da war sie, schien mit geschlossenen Füßen zu gehen – die sich einmal nur vergessen, die nicht wußte, daß sie fehle . . . Mit Violets armen Schwalbenaugen, ihren Kinderschultern, die unter der Last seiner Sünde zerbrochen.
Immer drängte sich dies Gesicht, drängte sie diese armselige Gretchen-Lieblichkeit in seine Vorstellung, wenn er die Arme gebreitet hielt, einen Kanal zu bezwingen, etwas heiß Ersehntes zu ergreifen. Fort mit dieser Figur, fort die zerstörte, mit Gold längst aufgewogne Marionette! Das war nur ein bißchen kaputtgegangen und zählte nicht mit.
Der Kampf ging um Maud – auch nicht Weib für einen ringenden Titanen, der gezeugt war, seiner Welt ein neues Gesicht zu geben! Aber immerhin: Rasse, Widerstand! Und jene ungeheuere Macht der Geburt auf den Höhen. Die ließ sich nicht über einen Bettrand wegkippen, die hatte Verachtung, Stolz und Instinkt, sich zu wehren. Die lohnte Kampf!
Wie sie ihn ausgelacht hatte, die Siebzehnjährige aus Bronze, ihn, den Träger einer goldenen Medaille, im Sturm genommen! Ihn, Führer von achttausend Proppenbrüdern, der sein Leben selbst dirigiert hatte, ohne zu speicheln, ohne den Rücken krumm zu machen,– von Knabentagen her!
Sein Kampf mit dem Kanal war eine Etappe mehr 131 auf dem Weg zu ihr, der er den Nacken gründlich beugen wollte. Erkannt, das hatte sie ihn längst! Als er Georges für sich gewann, als er anfing, Georges um den Finger zu wickeln, sein müdes Herz so für sich nahm, wie es kein Mensch vor ihm genommen –, da hatte er auch sie im Zentrum ihres Lebens erwischt!
Weiter, weiter! Morgen brüllten die Zeitungsjungen, brüllten die headlines der Blätter, schrien die Badegäste, schrien alle, alle Menschen, die sie kannte, in ihre Ohren hinein:
»Peters! Peters!«
Morgen schüttelte Georges erstaunt den angegrauten Kopf:
»Peters! Mein Bonaparte!«
Morgen ahnt sie, was sein Wille vermag! Und ob sie wollte oder nicht, würde sie hundertmal an diesem Tag denken und sagen und hören:
»Peters!«
Wenn sie dann erfuhr, daß diese Riesenleistung, doppelter Weltrekord, weil er eben kein Webb war, kein Elefantenmensch, kein Angelsachse – sondern ein deutscher Hirnathlet, der nur so nebenbei Muskelathleten schlug, – wenn sie erfuhr, daß dieser Rekord ihr zu Ehren gemacht war: das würde sie einhüllen wie Weihrauch und betäuben.
Sollte sie ihn lieben? Nein! Unterworfen sollte sie ihm sein, und darum schwamm, mordete, atmete er. Nur, um sie in den Knien zu sehen, preisgegeben seiner Peitsche, seiner Großmut.
Die Sonne war nicht mehr weit von Mittag und schien, wie es Julisonne über dem Kanal nur vermag.
Trotzdem kam jetzt die berüchtigte Kälte, der bis zu Webbs Siegesleistung jeder Kanalschwimmer erlegen. 132 Es fröstelte nicht nur in den Gliedmaßen. Aber Peters dachte kaum daran, seinen fast schon gefühllosen Händen ein bißchen Mitleid zu schenken. Auch in der Brust, die das Herz barg, sein alles und allein entscheidendes Herz!
Gleich nach dieser Feststellung mußte er an den Bauch denken. Nicht an den Magen, der zwar längst schon Hunger gemeldet hatte, Großhunger sogar, – ein fatales und viel zu frühes Ereignis –, sich aber doch noch Schweigen befehlen ließ. Der Bauch war anspruchsvoller und begehrlicher! Er schickte dies Zittern durchs Gebein, die Därme bekamen ein eigenes, scheußliches Leben. Als schleppte man einen nassen, eisigen Sack mit sich, als stockte irgendwo im Organismus das Blut, geränne, vereiste . . .
Peters wollte nicht an Umkehr denken. Er zwang sich neu, so fest an irgend etwas zu denken, so unentwegt auf ein Problem konzentriert zu sein, daß Bauch und Brust einfach verloschen wie die Organe eines Fakirs, der sich lebendig begraben läßt. Noch machte er ein Tempo von einer Meile in der Stunde.
»Jetzt schwimmt Bonaparte schon auf der Höhe des Kanals«, sagte vermutlich in dieser Minute Georges Louistone, Fernglas am Auge, Uhr in der Hand.
»Wir sollten ihm ein Boot nachschicken, Georges? Man stirbt ja vor Angst!«
Das war Maud! Jetzt fing sie an, um ihn zu sorgen.
Man würde die Frage besprechen – ganz gewiß waren Louistones heute der Mittelpunkt aller Sportleute von Hampton Court.
»Um einen einzelnen Mann im Kanal zu suchen? Nicht mit tausend Augen finden Sie den!«
Plötzlich fiel Peters ein, daß Webb sich angeblich mit 133 Vaseline eingerieben hatte, von der Sohle bis zur Stirn, durch Fett litte man weniger unter der Kälte. Irrsinniges Pech – nicht so sehr, daß er es unterlassen hatte, sondern daß es ihm jetzt einfiel! Denn dieser Gedanke vergrößerte nur alle Qual, die Kälte und Hunger ihm antaten. Jetzt war auch sein Gesicht eine frostglühende Masse, Mund und Nase taten ihm weh. Sein Schlund brannte von all dem verschluckten Salz.
Peters dachte an Maschonaland. Man ließ die Ladies an der Küste, in Beira, wo es Hotels und Badestrand gab, Arzt, Apotheke, Musik.
Sie zogen zusammen in den Busch, Georges Louistone und er. Wie würde die Sonne dort munden! Wo die Macht des Transvaalstaates aufhörte, da hieß es einfach, Besitz ergreifen. Georges Louistone hatte Beziehungen bis hinauf in die Ministerien, der Weg zur Königin war ihm allzeit offen. Der Prince of Wales kannte ihn so gut, wie er Karl Engel gekannt hatte. Sie gründeten zusammen eine neue Kolonie, reich an Gold wie Zentralamerika gewesen, als die spanischen Konquistadoren es erzklirrend betraten.
Sie schürften Gold! Schiffe voll Gold schickten sie nach Europa. Sie bückten sich nur, hoben auf, was auf der Straße lag, – und wurden so maßlos reich an Gold und Macht, daß sie von der City, von ihrem Bankpalast aus, die Welt regierten.
Nur daß Gold den zufriedenen Louistone nicht reizte. Für sich besaß er genug, Macht begehrte er nicht.
Die Ehren des Eroberers aber? Gründer einer neuen englischen Kolonie zu werden, – das hatte auch auf ihn gewirkt, als Peters einmal die Saite anschlug.
Als Begleiter, als das eigentliche Hirn dieser Kampagne, dem Georges gewiß von seinem Anteil nichts 134 nahm, würde auch Peters steigen, Titel und Würden empfangen.
Nicht mehr Dr. Peters – Sir Charles!
»Guten Tag, Sir Charles« mußte Maud ihn begrüßen.
»Jüngster Engländer, jüngster Ritter!«
Da schlugen sich Blutwellen, breit und heiß, durch Peters' Adern, strömten breit und heiß in seinen Schädel. Es war, als sei das müde Hirn ganz plötzlich neu und straffer geworden, als dehnte es sich und wölbte die Stirn im Lauf von Sekunden. Sein Schädel weitete sich – es war Geburt!
Eine deutsche Kolonie wurde Maschonaland. Gerade weil er Deutscher war, einer aus dem zweitklassigen Volk, auf das die stolzen Vettern herabsahen, – gerade deshalb lag der Weg ja so leicht vor ihm!
Durch Jahrhunderte ging die Geschichte der englischen Kolonien. Ein Auf und Ab von tausend Namen! Mit Sträflingen hatte Albion Australien besiedelt. Revoltierende Protestanten hatten sich über Nordamerika geworfen. Goldsüchtige Kaufleute hatten Indien erobert . . . Aus Einöden waren englische Kolonien geworden, aus Kolonien freie, selbst sich beherrschende Länder, unermeßlich, da der Globus sich immer neu und demütig dem Eisengriff dieses Volkes bot.
Was war das heut: englischer Koloniengründer? Ein Agent der größten Macht auf allen Meeren, ein Commis voyageur im tropischen Land, einhertrottend auf längst gezeichneter Spur.
Deutsche Kolonie aber!
Vor zwanzig Jahren noch Wahnsinn, davon zu träumen, obwohl kleinere Mächte, Holland, Portugal, 135 Spanien, Frankreich in ferne Weltteile ihre Fahnen gepflanzt hatten. Deutschland, mit seinen Häfen zur Arktik hinaus, wäre nicht in den Sonnenländern geduldet worden.
Aber jetzt, nach den Bismarckschen Kriegen, dem ungeheuren Aufschwung von Königgrätz und Sedan?
Deutschland war an der Reihe! Keine Macht, auch England nicht, würde ihm widersprechen, wenn es die Adlerklaue in afrikanischen Boden schlug.
Nur daß im saturierten Deutschland kein Kopf, kein Herz darauf verfallen war, diese wichtigste, notwendigste Konsequenz aus den Siegen von Sechsundsechzig und Siebzig zu ziehen. Michel kaufte Pfeffer und Kautschuk, Zucker und Kaffee bei den tüchtigen Nachbarn, kaufte, tauschte gegen Arbeit, sah, mit dummem Gesicht unter der Zipfelmütze, in die blühenden Kolonialgärten der Nachbarn hinein.
Jedes Land braucht seinen Erwecker.
Es war unausdenkbar und dennoch so wahr, daß die Erkenntnis sein Blut beizte, seinen Magen füllte, seine Kräfte vervielfachte, das Feuer in seinem Zentrum neu anblies: Deutschland braucht ihn, Peters, um der eigenen Kraft, der eigenen Notwendigkeiten bewußt zu werden!
Ein alberner Traum war das gewesen, die Nationalität zu wechseln wie einen zu eng gewordenen Rock, ein zweitklassiger, brandneuer Engländer zu werden. Nur für die gnädige Erlaubnis, sich vom Sekretär zweiten Ranges hinaufzudienen zum Distriktskommissar, zum Gouvernementsrat. Mühselig und spät vielleicht, vielleicht, einmal zum Vize-König von Indien.
Was war man als Vize-König in Kalkutta? Ein Beamter, den das Indian Office in London abpfeift wie 136 einen Briefträger, pensioniert wegen Verbrauchtheit, versetzt, weil er unfolgsam gewesen.
Indessen Maud, ehe man's auch nur so weit gebracht hätte, ein altes Fräulein wurde, eine straightway-Dame vielleicht, oder die Frau eines Mr. Irgendwer, sechs Kinder gebar, die nicht nach Peters fragten.
»Nur das zu Ende denken!« dachte Peters, dessen Arme nicht mehr gehorchten.
Er warf sich auf den Rücken, Traum von heißem Kaffee umnebelte seinen Kopf, Fata Morganen spiegelten ihm einen Bissen heißen, blutigen Beefsteaks vor. Er träumte davon, seine Zähne in heißes, blutiges Fleisch zu schlagen, ein Glas Claret zu trinken, der wie Glut durch seine Därme rollen würde.
Mit diesem Plan, den er eben gefaßt, gefunden, aus dem Meer gefischt hatte, konnte er getrost umkehren, nach England zurückschwimmen, ohne den Kanal bezwungen zu haben! Das war anderer Gewinn als ein Schwimmrekord oder schmutziges Gold in Maschonaland!
Aber die englische Küste war fern und unsichtbar wie die von Frankreich. Sicher war er über die Höhe längst hinaus, dem Ziel näher als dem Ausgangspunkt.
Wie viele Stunden schwamm er schon? Die Sonne zeigte mindestens zwölf. Dann schwamm er fünf Stunden. Auf neun Stunden höchstens hatte er die Reise geschätzt.
Heiliger Gott! – die Hälfte fast noch vor sich? Jetzt lag er auf dem Rücken, zitternd vor Frost und fast weinend vor Hunger. So litt er, so lebte er noch. Aber jetzt sich umdrehen, mit todesmüden Gliedern, diese entkräfteten Arme wieder in den Dienst zwingen, diese schlotternden Beine . . . 137
»Wenn ich heut siege, siege ich immer!«
Das war die ungeheure, die ungeheuerste Probe aus alle Möglichkeiten seines Daseins. Ob er in der Stunde zugrundeging, in der er seinen Weg erkannt und seine Rolle, von der Geschichte bestimmt?
Wenn ihm jetzt ein Wadenkrampf zustieß, dann ging er unter, ließ keine Spur, war so wichtig wie eine junge Katze, die man, in einen Sack gesteckt, ins Wasser wirft.
Dann wußte niemand, daß der deutsche Gründer eines Kolonialreiches gelebt hatte und auf dem Feld geblieben war, mitten im Sprung.
Das durfte nicht sein!
Wenn er unterging, dachte kein Deutscher an Afrika!
Und weiter durch hohe Wellen, den Wind im Gesicht, Schaumflocken im Haar, kämpfte sich Peters. Er mußte denken, das Hirn mußte ihn tragen!
Immer war dies Deutschtum ihm Hindernis gewesen, ein Stein am Fuße des Eroberers, eine Last beim Wettlauf mit den andern. Neidisch hatte er jeden englischen Kuli betrachtet, der mit einem Bruchteil seines Wissens und Wagens an ihm vorbeimarschieren durfte.
In dieser Stunde hatte er erkannt, daß aus der Not eine Tugend sondergleichen zu machen war!
Als erster würde er die schwarzweißrote Fahne in den Boden Afrikas pflanzen!
So leer, so unbeschrieben war die Karte dieses Weltteils, in dem es doch Gold und Herden gab, Boden und Sonne für alle kolonialen Kulturen, die das hungrige Europa brauchte.
Eine Armee von Soldaten und Bauern, Forschern und Händlern würde er dorthin führen, er, nach 138 Bismarck der erste Mehrer des Reiches, der große Mann vom Ende des Jahrhunderts.
»Peters!« wird die Geschichte sagen.
Und jetzt war es aus mit seiner Kraft. Jetzt hob er den Kopf nicht mehr über schäumende Wellen, preßte die Kiefern nicht mehr zusammen. Jetzt schlug ihm feuriges Salz ins ungeschützte Maul, wußte er nicht mehr, wo Frankreich, wo England lag, und ob er der Nordsee zutrieb oder nach Westen.
Jetzt lag er gut auf dem Rücken, schwarze Nacht vor den gebeizten Augen, in der feurige Ringe kreisten, Raketen, als wenn einem Wütende mit Fäusten die Lider zudeckeln. Jetzt führte sein leerer, zu kaltem Leder geschrumpfter Magen die letzte Sprache, heulte die letzte Litanei. Erfroren, ertrunken, verhungert, verdurstet. Das war um Mittag das Ende eines Welteroberers, der sich am Morgen ins Meer gestürzt hatte, ein Leuchten zu wecken in den Augen seines Mädchens.
Man würde nicht nach ihm suchen. Wer sucht sechzig Kilo Menschenfleisch im grünen Ozean?
Wer sollte suchen, wem fehlte er?
Maud wird sagen . . .
Maud wird nichts sagen. Sie wird gar nichts sagen. Sie wird aufatmen, wenn es keinen Bonaparte mehr gibt.
Eine fette, giftgrüne Woge kam angerollt, hob Peters wie zum Spiel, stampfte ihn unter sich. Wasser quoll ihm durch Mund und Ohren, stickte ihm die Brust, nebelte sein Gehirn ein. Jetzt war er unten und kam nicht wieder herauf. Alle Viere weggestreckt und keinen Widerstand geleistet! Dann war's bald zu Ende.
Aber die Welle ging fort, rollte dem süßen Ufer zu, eine andere trug ihn wieder empor. 139
Da war ja der Himmel, war wieder Sonne! War man nicht verloren?
Doch! Eine andere Grüne wurde ihn ganz hinunterstampfen.
Jetzt wußte er, das war kein schlimmes Sterben. Das ging und kam und machte Schluß. Er brauchte die Tonnen von Seewasser nicht mehr auszubrechen, die er jetzt schon im Bauche trug.
Mutter und Geschwister waren nichts gewesen in seinem Leben. Ein bißchen was Jühlke, den er seit Jahren nicht gesehen.
Ein bißchen was Maud, nichts Liebes, nichts Warmes. Aber doch Ziel für seinen Haß. Denn im Sterben wußte er, daß sein schöner und erhabener Haß, Kompaß seines Lebens, nur ihr gegolten hatte.
Was konnte jetzt noch kommen?
Daß es ihn abermals unter die gläsernen, eisigen Decken zog, deren Kälte nicht mehr weh tat.
Ehe dann die singenden Wellen kamen, dies wohlbekannte Orgelrauschen, und das zirpende Singen eines verstimmten Spinetts dazu, – ehe das letzte Kreisen farbengleißender Sterne begann, die durch eine neue, fremde, fremdeste Nacht bebten, hatte er noch einen einzigen letzten Gedanken: wenn ich überlebe, König in Afrika! Wenn ich nicht verrecke, Sieger! So oder so: Ich bin Ich!
Er tauchte zum letztenmal auf, wissend, daß es zum letztenmal war.
Jetzt war Musik und Farbe das All. Schön starb sich's heut. Sterben ist gut.
Gar kein Sterbenmüssen. Er starb sich zur Freude! 140