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Verehrter Freund!
Ihr liebes Schreiben traf mich nicht mehr in England. Sie müssen wissen, daß ich seit meinem letzten Brief einen bedeutenden Schritt vorwärts getan habe, der Pas de Calais liegt hinter mir. Und nun hier in Boulogne-sur-Mer, inmitten eines leichtlebigen und leichtsinnigen Volkes, soll ich Ihnen meinen Standpunkt zum »heliozentrischen Standpunkt der Weltbetrachtung« auseinandersetzen?
Immerhin wird Ihr Vorschlag den Nutzen haben, daß ich nicht allzu weit von der Flut französischen savoir vivre mit fortgetrieben werde . . .«
So heiter atmete es um Carl Peters, der sich von Onkel Karl getrennt hatte, schön equipiert mit englischen Anzügen, Seifen und Ansprüchen, einer englischen Pfundrente, daß mitten in den Text seiner großen Schopenhauer-Kant-Studie hinein Briefe wie dieser flatterten.
Quadern zu diesem Werk standen seit langem. Zwischen Debatten und Feiern der Londoner Tage, auf Reisen mit Onkel Karl, im vollen Rausch des Lebens, war alles geworden. Eine Weltskizze, in der Kant und Schopenhauer, zwei mächtige Wasser, zusammenströmten mit ihm, dem Vierundzwanzigjährigen.
Nächst dem Größenwahnsinn des Genies verlangte das ein Rüstzeug von Wissen, ungeheuer. – Peters hatte es zusammengelesen, während das Leben am Themsestrand ihm »lieblich einging«, zwischen französischen Romanen, in der Flut französischer Lebenskunst. Von Arbeit zu Arbeit wuchs in ihm diese mystische Fähigkeit, Gelahrtheit an sich zu reißen. 60
Büchermassen, Bibliotheken lagen schon hinter ihm, dem Historiker, Geographen, als er sich anschickte, eine Professur der reinen Philosophie zu erringen. Sechstausend Bücher hatte er durch den Einband erfaßt!
Wenig Ziel schien ihm diese Professur, nur Etappe, Weg, einen Titel zu gewinnen, Anlaß, in Boulogne-sur-Mer zu sitzen.
Denn hier war Welt!
Hier traf sich die Elite der Nationen. Hier sah er eines Tages, selbst nicht mehr Schulmeisterlein mit linkischem Gebaren, das in englischer Konversation von Zitat zu Zitat stolperte, Maud Louistone, Tochter des kommenden Baronets von Wallingham, die Kalifornierin, Weltdame, achtzehn Jahre alt, die ihr schönes Haupt trug wie keine.
Sah sie, die jauchzend aus den Wellen kam, ein Kind, das in Gischt und Flut gespielt hat, die im milden Strahlen ihrer Perlen, tief dekolletiert, zum Tanz erschien, die Cercle hielt, nachmittags, wenn Strandorchester musizierten.
Sah sie Tennis spielen, sah sie zu Pferd, im Herrensattel, extravagant, sah, wie der schöne Vater ihr zu Füßen lag.
Peters grüßte, fing eine Antwort ohne Glanz und Ausdruck, lächelte ironisch und bohrte seinen Blick in ihren Nacken. Im Ballsaal, auf der Straße, wo immer sie erschien, brannte sie dieses Vandalen tödlicher Blick.
Diesmal drängte Peters sich nicht auf. Ein Korb voll Rosen, den er einmal schickte, – schicken mußte, weil das Verlangen in ihm tobte, sich zu äußern, – trug keine Visitenkarte, war von keiner Zeile begleitet. Daß er mit Lippen und Zähnen in jeder Knospe gewühlt 61 hatte, deren Duft sie jetzt einsog, – Maud ahnte es nicht.
Er schwamm jeden Morgen, ohne Boot, ohne Begleiter, viele Meilen zur englischen Küste hin.
Des deutschen Schwimmers enormes Können fiel auf, niemand mehr als den englischen Herren. Die sprachen ihn an, kameradschaftlich und neidlos. Oh, dieser Champion war ein halber Engländer! Verwandt mit den Pagets, Bowmans, Chamberlains, Mitglied des Themseklubs, des Clubs for politics. Ein halber Londoner und vom besten set!
Auch Mr. Louistone, ein stolzer Ballvater, selbst noch Athlet, Tänzer, Tennisspieler, legte Wert auf seine Bekanntschaft.
»Sie wollen den Kanal machen, Doktor?«
»Vielleicht nächstes Jahr, Mr. Louistone. Dies Jahr zu beschäftigt, eine Professur in Philosophie, viel Schreiberei.«
Da Mr. Louistones Tochter in Hannover »scholar« gewesen, sollte ihr der Doktor-Athlet vorgestellt werden. »Tausend Dank, wir kennen uns schon!«
Dr. Peters erzählte vergnügt, daß er die Ehre gehabt, Miß Louistone in seinem Hörsaal zu sehn. Da kam sie. Peters ging ihr artig entgegen.
Nun wußte sie plötzlich, von wem die schönsten Rosen dieser Saison gewesen, und wurde rot vor Empörung. Aber sie ließ ihn sprechen, was bei solcher Gelegenheit ein junger Gentleman zu einer jungen Lady spricht, lächelte und wandte sich freundlich ab.
Ein englisches Mädchen des high life macht keinen »trouble«. Mit Haß aber hatte Maud aus wenig Worten gehört, daß Peters jetzt wirklich Englisch sprach. 62 Den Slang der oberen Zehntausend sogar, des high life, zu dem er plötzlich gehörte.
Ein englisches Mädchen dieser Kreise macht keine Sensation, selbst dann nicht, wenn Konvention es zum Tanz in den Arm eines Menschen zwingt, der ihm Dämon und Prolet zugleich scheint, seines Volkes Hefe entwachsen. Sie tanzte mit ihm und schwieg.
Man intriguiert auch nicht, läßt niemand ahnen, den Vater am wenigsten, daß irgendein Gentleman, Gelehrter, Sportsmann, kein Gentleman ist. Daß er einmal mit frechen und wilden Gebärden, zynische Worte radebrechend, nach einem gegriffen hat, urwäldlerisch wie ein Affe oder wie ein Sklave, der meutert.
Man lächelt, lehnt ab, sooft es möglich ist, und trägt weiter den sengenden Blick im Nacken, das Schandmal gieriger Hände an Schulter und Wange.
Drängt höchstens leise, den Ort zu wechseln, ein anderes Bad aufzusuchen.
Und duldet endlich, da niemand verstehen will: daß man den Gehaßten, Gefürchteten täglich sieht, spricht, empfängt – am Strand, beim five o'clock im Ballsaal. Dreimal täglich, viele Stunden lang, bis man ganz hypnotisiert ist von seinem Blick und der Erbarmungslosigkeit seiner Werbung.
Jede Stunde jeden Tages widmete Peters der Verfolgung dieser Frau, in die er verrannt und verbrannt war. Was Professur, was Etappe! Hier war das Ziel einer Titanen-Laufbahn!
Zur Arbeit blieben nur Nächte. Die opferte er gern, denn sein Schlaf war jammervoll und kurz. So gefoltert schlief einer, dem in sein prunkvoll weiches Bett hinein herbe Salzluft des Meeres durch weit offene Fenster strömte; der, eben noch, mit den großen Helden 63 im Geist gesprochen und gerungen hatte. Ein Vierundzwanzigjähriger, beachtet, geehrt, reich, der seines Körpers Kraft und Pracht täglich erprobt, seinem Idol stündlich nahe war.
Immer wachte er auf, eiserne Klammern um die Stirn geschmiedet, gewürgt, des Blutes finsteres Sausen im Ohr, in weichen Decken, feucht von Angst. Fuhr empor, als sei er zum Gericht erweckt, und hielt mit letzter Kraft den Schrei zurück, der in seiner Kehle Verrat drohte.
In solchen Nächten wurde »Willenswelt und Weltwille« von Carl Peters vollendet. Aus sachlich klaren, abstrakten Folgen stürzt sich der Denker plötzlich in eine Form leidenschaftlicher und zerquälter Subjektivität. Er behandelt das Thema »Schöpfung und Einzelwesen«. Aber dies Einzelwesen, das eben noch Stein, Wurm, Mensch schlechthin ist, wird »Ich«, wird des Verfassers von Furien der Rache und Furien des Verlangens gehetztes »Ich«!
Denn während er schrieb, hörte er um sich das »don't!« eines verzagenden Kindes, manchmal ein Wimmern, oft nur summend. Er brüllte die Stimme nieder:
»Recht hab' ich getan, einer bösen, kleinen, verfänglichen Unschuld mit Violet-Augen und dem geduckten Haupt einer Schwalbe die Larve herunterzureißen! Einen wackeren Greis hab' ich beschützt, der sich in den Schlingen später Verbuhltheit wand, Karl Engel, dessen Menschliches zehn Violets aufwiegt!«
Ihr arges Spiel war nun zerstört. Stolz durfte der Alte seines Weges ziehen, entzaubert und enthoben der lächerlichen Rolle, mit weißem Haar Gatte eines koketten Dirnchens zu sein. 64
Nur daß dies »don't« echt geklungen hatte in seiner Armut des Ausdrucks, in der Hilflosigkeit einer Violet, die nicht listig gewesen, sondern vertrauend, die ihn, Peters, nicht gelockt hatte, sondern mit Unterwerfung geehrt, auf ihres Herrn Befehl. Die nicht eines Paschas machtgierige Buhlerin war, sondern ein demütig-stolzes Mädchen aus dem Volk, eine Abisag, der dieser Fürst David majestätisch und gütig schien. – – –
Es hätte nicht geschehen dürfen, was damals geschah, 54 Addison Road, als er des alten Herrn Glück aufs Bett hinschmetterte und verdarb. Dieser alte Mann, ein Mönchsleben hinter sich, – hatte der ihm Übles gewollt, als er Violet in sein Haus zog, seinem Lager bestimmte? Hatte er nicht, den Tränen nah, gebeten, »Charlie, bleib bei mir! Kamerad! Sohn!«
Peters bäumte auf, warf sich in sein Werk, schrieb:
»Was Wunder, wenn ein brennender Lebensdurst, wie er gieriger kaum zu den Zeiten des römischen Cäsarentums war, die Individuen immer wüster und wilder anhetzt, von diesen Genüssen sich zu erraffen, soviel sie vermögen?«
»Was Wunder?« kam es traurig wie aus einer Orgel von Onkel Karl, der plötzlich hinter ihm stand, die Hand am Hals, als litte er Schmerzen, schön die freie Stirn, voll Licht die Augen.
»Warum mußtest du, Individuum, den einzigen Genuß eines Freundes an dich raffen, gerade desjenigen, der deinen brennenden Lebensdurst stillen wollte mit all seiner Macht?«
Eine Feder schnarrte über das Papier:
»Ich behaupte nämlich, daß eine Reihe böser Neigungen aus dem Zentralwillen 65 emporwächst, die ihre Wurzel nicht in der Lüge haben.«
»Don't!« wehklagte es aus den Fenstern, vom Strand her vielleicht, wo die Flut brandete.
». . . nicht in der Lüge haben!« unterstrich Peters.
Lügen? Gelogen hatte er nie! Und wenn Violet den Befehl nicht ausführte, vor ihrer Hochzeit alles zu beichten, dann tat er es! Dann kabelte er in letzter Stunde! Längst war nicht mehr eine Professur der Zweck dieses Buches, dessen Kapitel ihm aus der Feder rasten, ganze Bündel eng beschriebener Blätter – Nacht für Nacht. Selbstverteidigung war der Zweck.
Helfen mußten Goethe, Kant, Schopenhauer – Jesus Christus und seine Propheten! Sie hatten alle gewußt, daß ein Stein in die Tiefe fällt, weil er schwer ist, jeder Trieb zur Erfüllung drängt, sich für Unterdrückung mit schrecklicher Qual rächt. Daß der Mörder töten muß, wenn ihn die Beute lockt. Sie kamen, halfen willig, hatten's alle gewußt.
»Der Bösewicht empfindet eben das Verruchte seiner Existenz gar nicht so, weil er die abnorme Gesinnung mit einem abnormen Maßstab mißt.«
Onkel Karl verstand nicht.
Über Peters' Schulter gebeugt, las er des Individuums Verteidigung.
»Ich lege keinen Maßstab an deine Gesinnung. Sag selbst, ob du verzichten konntest!«
»Für Askese ist kein Raum in unserer Weltanschauung!« tobte brutal Peters' Feder. »Wenn das ganze Sein mit vulkanischer Vehemenz nach einem Objekt hindrängt . . .«
Es war noch nicht genug der Beichte. 66
»Um Beispiele wird der, der die Verbrecherstatistik kennt, ja der sich nur offenen Auges in seiner nächsten Umgebung umsieht, oder – sich selbst beobachtet – nimmer verlegen sein!«
Es stand geschrieben, war gestanden.
Angst hielt ihn jetzt so geknebelt, daß er die Stirn auf den Tisch krachen ließ, Dämonen zu verscheuchen. Er wagte lange nicht, sich zu erheben, fröstelnd bis ins Mark. Schleppte sich endlich zum Bett, ließ das Licht brennen, warf sich angekleidet in die Decken.
Jetzt fühlte er auch Amalia, an die er nie gedacht hatte. Nur stand sie nicht neben ihm; es war eine Tür dazwischen, obwohl er sie sah. Sie hob nicht die Hände, denn sie waren schwer von Gaben. Sie sprach nicht, war nur da – – –.
So begannen die Nächte. Hatte Peters wieder zu sich gefunden, dann kroch er, wie ein gepeitschter Hund zum Herrn, ans Manuskript zurück.
Weiter! Aber er wußte nie: was hatte er da gestammelt, als Angst und Jammer ihn hetzten?
Er las. Viel Durchdachtes, im Schädelbecken Ausgetragenes, Klares. Dazwischen schrillte »Ich bekenne, bekenne!«
Einmal, zähneklappernd, warf er mitten in sein Werk hinein ein Gedicht aus Knabentagen. Onkel Karls Stirn drohte mit Gott! Gegen den rebellierte er!
»Laß Narren hinknien
Vor dem ewigen Gott,
Wir haben nur Hohn
Für Jehova und Spott.
Heil Satan, dir Stolzem,
Auf flammendem Throne! 67
Dein werde des Weltalls
Blitzende Krone!«
Dies Gedicht blieb, die Hand versagte, als er's streichen wollte. Dies Denkmal seiner Empörung blieb stehn wie jene tintenkalt gewordenen Schreie der Angst.
In einer Nacht aber, den Revolver an der Schläfe, gab er die Feder frei »Ich habe geschändet, Verrat begangen! Ich habe mich gerichtet!«
Verzweifelte Kraft brachte er dann auf, nicht auf sich zu schießen, sondern diese Zeile zu vernichten! Aber rasch, um das Versehen gutzumachen, hatte er gekritzelt und stehen lassen:
»Das Dasein braust wie ein wütender Strom, der alle Dämme durchbrochen hat, schrankenlos dahin, um beim Ruin zu enden, beim Ruin der betroffenen fremden und dem der eigenen Existenz. Im Grunde nicht verschieden davon ist die Lösung, wenn der einzelne in der klaren Erkenntnis von der Hoffnungslosigkeit seines Glücksdranges den Daseinsdrang überwindet im Selbstmord. Ob der Selbstmord aus metaphysischer Einsicht oder praktischer Belehrung vollzogen wird, tut nichts zur Sache.«
Gottlob, da stand es! Eine tote Stelle im fließenden Text, die seine Leser schwer begreifen würden. Ihm kam's darauf an, einmal das tröstende, kühle, sanfte Wort zu gebrauchen:
»Selbstmord . . . Selbstmord . . .«
Onkel Karl wich nicht, stand über seine Schulter gebeugt. Peters hörte ihn tonlos, höhnisch den blassen, geschriebenen Satz wiederholen: ». . . tut nichts zur Sache . . .« 68
Gottlob, es dämmerte der Morgen.
Jetzt eine Stunde Schlaf, dem Satan abgerungen!
Dann Maud. Treibjagd auf Maud.
Nie gab Maud ein Zeichen, als dulde sie gern die heftige Ergebenheit, mit der Carl Peters sie umstellte. Nie erlaubte sie seiner Leidenschaft, nach ihr zu begehren.
Sie hielt ihn gebannt wie eine Dompteuse den zahmen Jaguar, der neben ihr schreitet, mit offenem Rachen die gefährlichen Glieder streckt, fauchend nach Fliegen schnappt, aber von Blut träumt.
Dieser angstvoll-strenge Dompteusenblick verriet, daß sie den Jaguar in ihm witterte. Er würde sie heut nicht wieder an sich reißen wie im Laubwäldchen bei Hannover; aber das Lachen, das echte, frohe Lachen, mit dem sie ihn damals gepeitscht hatte, würde sie nicht finden, wenn er zum zweitenmal nach ihr griff.
»Ob wir uns wiedersehen?« fragte er in einer letzten Stunde am Strand.
Die harmlose Frage trieb ihr, verräterisch, Blut in Wangen und Stirn.
»Ich fürchte, das steht bei Ihnen«, gab sie, schwer und resigniert, zurück. Ihr Vater, der den jungen Doktor als good fellow behandelte, als Sportkamerad und Gleichgestellten, setzte hinzu:
»Peters macht, was er will. Vielleicht wird er eines Tages Vizekönig von Indien und gibt uns einen Empfang.
Maud schloß: »Auf Wiedersehen also, spätestens in Kalkutta im Regierungspalast.«
Sie wußte also, wer er war! Mit Erröten, mit einem Scherz hatte sie sich verraten. 69
Sein ungeheures Selbstgefühl log ihm vor, das sei genug, genug. Noch gehörte sie ihm nicht, aber zum Greifen nah war die Beute! Keinem andern würde sie gehören.
Ihre ganz instinktiv-englische Mißachtung für sein Deutschtum war besiegt. Aber so, daß sie in ihm nicht mehr den Deutschen schlechtweg sah, sondern den Mann, der halb ein Engländer schien.
Wäre er jetzt Engländer, im Anfang einer großen Laufbahn, im Verwaltungsdienst, wie es noch vor wenig Monaten sein und Onkel Karls Plan war, dann könnte man nach Jahren berechnen, wann das Frühstück im Regierungspalast stattfände. So notwendig verliefe dann alles – und wäre eine Wette, ein Kontrakt.
Alles hatten diese Violet-Augen zerstört, die noch nicht Tränen genug vergossen!