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Ich bin Ich.«
Zehn Stunden Schlaf hatten das Wort abermals wahrgemacht, das er als einzig Unumstößliches herausgelesen hatte aus allen Bibliotheken, die sein Hunger verschlungen.
Der da steif und aufgereckt im Totenhaus erschien, in gebügelten Kleidern, die eckig vom hageren Körper standen, einen blitzenden Zylinderhut unterm Arm, den Schnurrbart ausgefeilt, ein schwarzes Bund am Zwicker, Trauerbinde um Hut und Arm, – dem sah niemand an, daß er sich gestern für ein Nachtlager hätte peitschen lassen. Daß er einen Hotelportier fast auf Knien um Einlaß gebettelt, von Angstschweiß bedeckt, in nassen Kleidern.
Noch einmal sahen die blauen Augen ihn an, die niemand geschlossen hatte, seines Opfers zornige Augen. Aus dem Sarg heraus. – Und in den Sarg hinein kam von Peters' harten Blicken die unumstößliche Antwort:
»Ich bin Ich.«
Seine schmale, eckige Hand drückte viele Hände – 102 Peters hielt Kondolenzkur am Sarge des Onkels, Vertreter der Familie, die über die Welt zerstreut war, der greisen Schwester des Verstorbenen in Hannover, des Bruders, der am Michigan-See Schweine züchtete, der Neffen und Nichten überall. Im Angesicht des Todes nahm er das Beileid entgegen, das wie letzte Ernte eines reichen Lebens an diesem Sarg abgestattet ward, zusammengeschleppt wurde aus dem Schloß der Königin, aus Universitäten, Akademien, den Villen im Westend.
Violet Carpenter war nicht unter den Kondolierenden, überhaupt kein Mitglied des Hauses Carpenter.
Vielleicht stand auf dem Weg zum Friedhof, irgendwo an einer Straßenecke, das kleine Weib aus der Masse, das um ein Haar in des Verstorbenen Bettstatt geschlafen hätte, um ein Haar sein Weib, Herrin seines Hauses, Hüterin seines Erbes geworden wäre. Aber wenn sie auch dastand, sich vielleicht dem langen Zug im Schritt gehender Karossen anschloß, im Hintergrund einer vornehmen und hochansehnlichen Trauerversammlung den endlos rauschenden »letzten Worten« zuhörte, konnte Carl Peters sie unmöglich bemerken.
Er fuhr, wie seine Stellung es erheischte, steif aufgerichtet im vordersten Wagen, in einem schwarzen Coupé mit schwarz umflorten Fenstern. Er stand dem Grab am nächsten, hörte gesenkten Hauptes Wort um Wort, Rede um Rede. Warf die ersten Schollen ins offene Grab, – verlor sich dann im Gedränge, entwarf im Gehen die Danksagungen seiner Familie für ganz Londons Teilnahme am Verlust eines Unvergeßlichen.
Er hatte vielen zu danken, viel zu denken und konnte nicht beobachten, ob unter den letzten Leidtragenden eine kleine blasse Beterin war, Violet, die durch Karl Engels 103 Tod mehr verloren hatte als alle Geschwister, Neffen und Nichten, die Carl Peters vertrat.
Tätigkeit hielt ihn aufrecht bis zur Nacht. Kein Winkel im Haus, der nicht die Wirklichkeit des harten Tages zu fühlen bekam: Besen, Waschwasser, eiskalte Luft. Ausgeräuchert wurde Zimmer um Zimmer, bis in die Nacht hinein rührten sich Arbeitshände. Es sollte kein Tuch und kein Tisch weiter dauern, den nicht neue fremde Hände, neue Luft und Wirklichkeit berührt hatten.
Denn Peters wußte »Dämonen wird man schwerlich los«. Ihm war fast jedes Goethewort ins Herz gebrannt.
Er mußte doch weiter und wieder 54 Addison Road bewohnen! Dies Haus war ihm Kampfplatz und Arbeitsfeld. Hier sollte er Wache stehn gegen alle Gerüchte, die sich ballen würden. Trotz hundertfacher Kondolenzen, trotz all der feierlichen Händedrücke! Flucht aus diesem Haus wäre bemerkt worden.
Aber wieder kam eine Nacht ohne Schlaf. Der begrabene Karl Engel, auch der begrabene, ruhte nicht; zu ihm gesellten sich jetzt andere Feinde. Ein Mädchen, das lang schon tot war, so tot wie vergessen, war wieder da, als gäb es nie ein Sterben! Bundesschwester Amalia, die doch auch freiwillig – ganz plötzlich und freiwillig aus dem Leben gegangen. Dazu mauzte und wimmerte es von Violets Jungkatzenstimme durch Halle und Korridor.
Das war kein Kampf mehr gegen einen wie in den ersten Nächten, gegen einen einzelnen, dem man trotz Reue, Leid, Drohung, sein »Ich bin Ich« hinschmettern konnte. Sondern ein Hasten und Tasten durch desinfizierte, geseifte Zimmerluft, körperlos, für den 104 Augenblick ertragbar, fast wohltuend. Aber für die Endlosigkeit einer Nacht, einer zweiten, einer dritten Nacht, der siebenten Nacht seit Hannover, war dies Drängen und Fragen Mord. Von diesen sieben Nächten hatte er eine geschlafen!
Trotz Kant und Goethe, trotz Jühlke und Maud, – es gab kein Ausruhen der Gedanken bei einem friedlichen Bild. Nur Peinvolles kam dem Ruhelosen, der seinen Weg als Waisenjunge angefangen, fast geächtet, der als Kind schon mit dem Leben gerungen hatte, ehrgeizgequält; der die gütigsten Menschen verhöhnt, vor Amalias feuchten Augen die Tür ins Schloß gedonnert hatte, dessen große Leidenschaft verlacht worden. Den Karl Engel emporgehoben, dann jählings wieder abgesetzt und enterbt hatte, auf dem tausend neugierige, ahnende, wissende Augen jetzt ruhten.
Nicht zu halten war dies verfluchte Haus, dem Peters endlich, wahnsinnig und besiegt, entfloh!
Ein altes Weib setzte er hinein, fremd, taub, halb blind, da er sich selbst fast taub gehorcht, blind gespäht und bis zur Selbst-Fremdheit gefürchtet hatte.
Diese Alte war stärker als er . . .
Peters verließ das Haus, als seine Lachkrämpfe und Heuleruptionen, Echo ihm selbst, von den eisigen Mauern widerhallten. Als nach dem Schlaf selbst seine Sehnsucht nach Schlaf, sein Wissen von Schlaf geflohen war. Als er unwiderruflich wußte, daß in wenig Stunden sein Hirn einstürzen würde, an die Wand geschleudert wie eine gläserne Flasche. 105