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»54 Addison Road«.
Von Viktoria-Station bis Addison Road sah man keinen Menschen, sah man kein Licht. Häuser und Bäume waren vom Nebel verschlungen. Seine gelbgrauen Riesenschlangen hatten alle Gassen durchwandert, hatten sich mit schwammigem Leib über die Stadt geworfen. Das war keine Stadt mehr, nur ein Gebrodel aus wüsten Träumen, formlos, uferlos. Aus Palästen waren Schatten geworden, unwirklich, einmal geträumt, aus Bogenlampen Glühwürmer, die kaum Richtung wiesen.
Durch diese Schwadenwelt, in die Ecke eines Wagens gedrückt, das Hirn zum Denken nicht mehr brauchbar, fuhr Peters. Viele Stunden lang wäre er gern so gefahren – kein Leben lag hinter ihm als das einer durchzechten Nacht, nichts vor ihm als wogender Nebel.
Karl Engel hatte seine letzte Apologie nicht mehr gelesen. Was lag daran, er war tot, wie alles einmal tot ist, das seine Zeit gelebt hat. Er spielte die Orgel nicht mehr. 79
Diese Proppensitzung nach dem Ball war das Rechte gewesen! Daß sein Ehrgeiz ihn dem allen so lange entfremdet hatte!
Paul statt Karl, sechsmal P im Namen, Proppenpräsident Paul Peters, zweimal drei, das hätte ihn anders bestimmt. Dann hätte er vieles nicht getan. Drei war seine Zahl. Jede wichtige Zahl seines Lebens war durch drei teilbar. Dieser Tag im November 1882 war nicht wichtig. Weil Onkel Karl tot lag? Er hinterließ ja Erben.
Was mochte er bei seiner letzten Bierrede gestern nacht – wirklich gestern nacht? – gesprochen haben?
Carl Peters legte den Kopf in die Ecke und schloß die Augen. Draußen gab's nichts zu sehn. Aber stärker als alle Müdigkeit war das dumme, kribbelnde Fragen: was war geschehen? Was wird geschehen?
Er hatte Karl Engel ermordet, das stand fest. Auf eine merkwürdige Art, – indem er sein kleines Mädchen übers Bett warf und ihre Röckchen hochriß. Daran war Karl Engel gestorben. – Hatte er gewußt, damals, daß er Karl Engel den Tod gab?
Widerlich, an all das zu denken.
Warum nicht lieber an den Proppenbund?
Oder an Maud Louistone?
Maud war ihm bestimmt. Diese weichen und elastischen Glieder, die er einmal nahe gefühlt, waren sein. Zwischen ihre kleinen Brüste, die sich durch die Kleider verrieten wie die Brüste keiner anderen Frau – zwischen ihre Knie, die durch die Kleider sprachen wie die keiner anderen – an die Lippen dieses Mädchens, das einen tot und zu Dreck lachen konnte, ging sein Weg! Über Länder, über Leichen.
Ein armer Kerl, den quer durch Hannover 80 schiefgetretene Absätze von Privatstunde zu Privatstunde trugen, konnte dies Ziel nicht finden. Deshalb mußte man Karl Engels Sohn oder Erbe am Start erscheinen. Das war's gewesen. Er war nicht unfair gewesen, hatte Karl Engel die Entscheidung gelassen.
Ob diese kleine Violet, die damals noch wollene Strümpfe getragen und einen »Anstandsunterrock« aus krachendem Lüster, – ob sie jetzt in schwarzer Seide und tragisch am Totenbett stand? Vielleicht spie sie ihn an? Vielleicht schlug sie ihm ins Gesicht?
Peters wußte, daß er sich nicht anspeien noch schlagen ließ. Weg mit Karl Engel! Weg, und nicht mehr an ihn gedacht! Der Gütige? Der Weise? Erretter einst aus einem Morast von Verzweiflung?
All das gab's nicht, war lang her, nie gewesen. Graubart, senil-verliebt, zu kleines Format, um ein untreues Mädel zu vergessen oder ein paar Hörnchen lächelnd zu tragen. So mußte sein Bild noch einmal geprüft – und dann vergessen werden!
Müd zum Sterben war Peters, beinah müde genug, um selbst in dieser Stunde zu schlafen! Aber jetzt hieß es stark sein. Dem Butler James gegenüber, dessen Herr er jetzt war. Den zierlichen Mädchen gegenüber, den schwarz gekleideten mit weißen Schürzen, die der Onkel ihm wie einen gepflegten kleinen Harem unberührt hinterlassen hatte. Violet gegenüber, die nach ihm speien oder schlagen würde. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Das fremde Gesicht eines Zwanzigjährigen erschien am Haustor.
»Mr. Peters . . .«
Es huschte durchs Haus, Türen gingen auf und schlossen sich, hinter Mauern wurde geflüstert. 81
Das fremde Gesicht dieses jungen Menschen, so bekannt? . . . Dann wußte Peters, daß er in Violets Augen sah. Ein junger Carpenter war's, ihr Bruder.
»Sofort öffnen!«
So nimmt ein General die Front ab, wie Peters ins Haus seines Onkels trat.
Dies junge Carpenter-Gesicht war eben noch böse und feindselig. Jetzt wurde es servil.
»Wo ist James?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich frage, wo die Dienerschaft ist?«
»Davongelaufen, Sir!«
»Sir«! Soweit war der Bursche, daß er in ihm den Herrn erkannt hatte!
»Wo ist Ihre Schwester?«
Die Züge des Burschen verfielen noch mehr. Daß er sich sofort erkannt sah, nahm ihm die Fassung.
»In ihrem Zimmer, Sir!«
»Welches ist ›ihr‹ Zimmer?«
»Das Schlafzimmer Mr. Engels, Sir!«
James, der Butler, sein Weib, der Gärtner, die zierlichen Mädchen – davon, ohne Lohn, ohne Zeugnis. Ohne Treue für ihren verstorbenen Herrn? . . .
Nein, aus Treue für ihren verstorbenen Herrn, der ein Verbrecher an den Gesetzen des Landes wurde, als er freiwillig und voll Ekel aus dieser Welt ging! Sie standen zu ihm, da sie ihn verließen. Denn sie hatten plötzlich gewußt, was sie längst geahnt hatten.
Weil in einem alten Haus nichts Geheimnis ist, weil Mauern sprechen, verweinte Augen, zerwühlte Betten und verkrampftes Schweigen. Weil ein geschändetes Kind, das Monate hindurch Qual des Schweigens trägt, Qual der Schuld, schlecht wird und niedrig, – 82 anders aussieht als eine stolze, kleine Braut. Weil es jeder längst gewußt hatte, daß der foreign nephew als Dämon in dies Haus gekommen war. Dies Gesicht mit all seinen Hüllen der Augen, des Mundes, der Stirn, jeder hatte es gehaßt. Und keiner wollte gegen den toten Herrn aussagen, was er ahnte: daß er Grund gehabt, sich fortzuwünschen.
Der Herr hatte aus diesem Spukhaus eine Kirche gemacht. Den Spuk zurückgerufen, die Gespenster wiedererweckt hatte der fremde Neffe.
Dem wollten sie nicht dienen! Dem wollte keiner Rede stehn! Von dem keine Befehle, noch Gnaden empfangen! Sie waren geflohen wie eine Schar von Mördern, vom Lager fort, auf das sie ihres Herrn schwere, kalte, starke Glieder gelegt. Ohne Überlegung waren sie geflohen, schlotternd, vom Tatort schaurigen Verbrechens.
»Machen Sie auf, Violet!«
Die Tür versperrt, kein Laut.
Mit dem Stockgriff trommelt Peters an eine Tür, die ihm stets – Tür zum Schlafzimmer des Hausherrn, Tür zum Sterbezimmer Mrs. Engels – feierlich gewesen und hoheitsvoll.
Sie ging auf. Das Zimmer war voll Menschen. Alles arme, kleine Menschen, lauter Carpenters, lauter Hyänen. Violet unter ihnen, arm, geduckt, Carpenter.
»Warum sperren Sie sich ein?«
Kleines Tier, kleine Schlange, mit deinem Schwalbenkopf und deiner tückischen, armseligen Kraft der Schwachen! Die haßte er, die würde ihm nicht ins Gesicht spucken und ins Gesicht schlagen – sondern erkennen, daß ihr Spiel ausgespielt war.
»Sie gehn bitte in die City, 186 Regentstreet, zu 83 Rechtsanwalt Kirby, junger Carpenter. Sie bestellen, Dr. Peters ist angekommen, erwartet Herrn Kirby sofort.« Dann ging Peters' Bändigerblick von einem Carpentergesicht zum andern. Auf Violet blieb er furchtbar hängen.
»Und Sie – führen mich zu Mr. Engel . . .«
Oh, wie beide gehorchten! Wie sich das mausgraue Hyänenvolk im Hintergrund duckte!
Hier gab's nichts zu erben, zu erbschleichen! Hier gab's Betteln, vielleicht ein bißchen Beschenktwerden. Hier gab's Gehorchen, Dienen, dann die Treppen hinunter, zur Tür hinaus!
Gaslicht, flackernd weißlich, füllte den Raum, in dem er, Charlie, damals gewohnt hatte. Sein Bett, über das er Violet geworfen, weil die Hilflosigkeit, Dienstfertigkeit, die Hinterlist dieses Tierchens ihn gereizt hatten.
Auf dem Kissen, in das er Violets Schwalbenkopf gepreßt, auf dem Kissen, in dem er ihren Schrei zerdrückt hatte, ruhte hoheitsvoll Karl Engels Haupt.
Da lag ein toter Mann, Augen geschlossen, Stirn gewaltig und Schädel gewölbt, ein Granit der Kopf, mächtig der Thorax, lang von Wuchs, stark und wie ein Schlafender.
Ein Plaid deckte ihn bis zum Kinn, deckte auch die Hände, diese verstummten, einst herrlich sprechenden Hände.
»Hierher!« befahl Peters.
Da stand das kleine Tier, das ihn zum Mord gezwungen und gereizt! Die kleine Carpenter, die sich Violet genannt und Veilchen gespielt hatte. Dürr, dürftig, schuldbeladen. 84
Peters riß den Plaid hoch von seines Wohltäters kaltem Leib.
Karl Engel trug einen Schlafrock, keinen Schlips, keinen Kragen. Um Kinn und Hals lag weißes Stoppelhaar.
»Man muß Tote rasieren«, fiel Peters ein.
Unter dem Silbergestoppel zog sich eine blaurote Strieme rings um den Hals. Am Strick hatte der sterben müssen, um ein Carpenter-Girl!
»Gehängt!« fluchte Peters dem Mädel in die Zähne.
Und dann würgten ihn Verachtung, Reue, Wut, die austoben mußten. Was noch an Violet war, zerbrach er in titanischem Ekel auf diesem Totenbett. Lautlos griff er zu. Tonlos ging sie zu Scherben.
Eine Stunde später erschien Herr Kirby, der Rechtsanwalt. Von ihm hörte Peters die ersten Beileidsworte.
»Ich zweifle nicht, daß Mr. Engel in geistiger Verwirrung gehandelt hat, Mr. Peters . . .«
Peters konnte nicht mehr bleich werden, sein verkrampftes Gesicht hatte längst keine Farbe mehr. Aber es durchzuckte ihn dennoch: Selbstmord war in England Verbrechen! Eingescharrt wie Aas wird der Selbstmörder, der bei klaren Sinnen gehandelt.
»Testamentsvollstrecker sind Sie, Doktor Peters. Sie sind schon jetzt verantwortlich für Haus und Nachlaß. Die Testamentseröffnung gebe ich Ihnen rechtzeitig bekannt.«
Der lange, starke Citymensch mit den blauroten Wangen stand vor ihm wie ein Denkmal. Seine Augen gingen fort über Peters' gesenkten Scheitel. Jedes Wort klang, als wüßte er. 85
Gottlob, er grüßte, war nicht steinern in den Boden gewachsen, war plötzlich fort.
Alle Carpenters stellten eilfertig ihre Hände zur Verfügung, als Peters seine Befehle gab. Die kränkliche, blasse Mutter, die gleich nicht hereingewollt in dies Haus. Der freche, ärgerliche Bruder, halbwüchsig, der diese Besetzung ausgeheckt hatte, und der jetzt vor Angst schlotterte. Der alte Carpenter, geldgierig und feig, der sich einmal Schwiegervater eines Westend-Gentleman geträumt.
Sie konnten sich nicht hinter Violets Röcke verschanzen. Violet war grün im Gesicht und hatte zerwirbeltes Haar, zerstampfte Mienen. Violet war wie ein Hund, der die Peitsche gründlich geschmeckt hat. Man glaubte, würde später hören, ob er sie gepeitscht hatte. Aber sie hatte hier nichts zu sagen – nur zu fürchten – das sahen alle und gehorchten.
Sie selbst lief, sie kam, sie machte »Ja, Sir«, »Nein, Sir«. Hatte keine Augen mehr im Kopf, so verschwollen waren die Lider. Sie war auch kein feines Mädchen, sondern ein Vorstadtweib, Proletarierkind mit blutlosem Zahnfleisch und weißen Lippen; schleppte Kissen und Decken zusammen, trug im Musikzimmer ein Bett zurecht, als wäre sie hier immer Dienstbote gewesen. Während Mrs. Carpenter in die Küche ging, aus dem Eisschrank Kaviar, kaltes Geflügel, Brot, Butter zusammensuchte.
Er, Vater Carpenter, der den Schlüssel zum Keller längst entdeckt hatte, fragte an:
»Weißer Burgunder, Sir?«
Jetzt putzte der Bursche Peters' Stiefel, der gestern einen Plan zum Sturm auf dies Schloß aller Träume, allen Reichtums entworfen hatte. Er bürstete mit Eifer 86 Peters' schmutzige Hosen, voll Angst, es recht zu machen.
Peters drehte seinen Schnurrbart in nadeldünne Spitzen. Er trug Karl Engels Hausschuhe, weil er die eigenen in Hannover vergessen hatte. Es mußte sein, nach diesen Strapazen brannten ihm die Füße. Er trug einen Hausrock des Verstorbenen, weich, wattiert, heimlich. Wer sonst sollte ihn tragen? Da es ein Testament gab, würde über Hausschuh und Hausrock, Orgel und Haus bald verfügt sein. Einstweilen war er, Peters, Herr und Vertreter der Erben.
»Violet soll bei der Erbteilung nicht vergessen werden«, sprach Peters zum alten Carpenter, der wie ein schäbiger, wegen Alters entlassener Knecht vor ihm stand, in seinen verschrumpelten Kleidern und unrasiert.
»Ich werde für Sie sorgen, mein Kind«, sagte er zu Violet. »Ich verspreche das, ohne das Testament zu kennen. Sie sollen sich dankbar an meinen Onkel erinnern!«
»Thank you, Sir.«
Wie sie dastanden, krumme Rücken und offene Hände!
Wie Violet dastand, krummer Rücken und offene Hände!
Alle wußten alles. Die davongelaufenen Dienstboten, diese Eindringlinge, der Anwalt. Violet hatte Gift und Dolch in Händen, ihn vor dem Richter und der Welt zu verderben. Warum sah ihm keiner in die blitzenden Zwickergläser? Warum waren die Diener geflohn?
Weil es eine vorgezeichnete Bahn für den Eroberer gab, über die Länder hin, Leichen und Meere! Wer Macht in sich hat, hat allzeit Macht; zu sprechen, zu erben, Verbrechen zu begehn, andere schweigen zu machen. 87
»Gute Nacht! Ich schließe ab hinter Euch!«
Das Tor sprang auf, giftiger Nebel lag draußen. Mensch um Mensch, alle gleich arm und gleich enttäuscht, zogen sie hinaus in ihren November! Violet zuerst, ganz hastig, eine Eidechse ohne Farben. Die wurde zuerst unsichtbar im Nebelgekröse, das sie verschlang, die Leichenfledderer.
Reingefegt nun das Haus, in dem Peters Herr war. Was des Toten letzter Wille bestimmte, würde man bald erfahren. Ihm konnte das Testament nicht unfreundlich sein, da er zum Vollstrecker ernannt war.
Von allem Leben gesäubert war das große Haus mit vielen Zimmern, in deren einem der Ermordete lag. Auf seinem, des Mörders, Bett – dort, wo die Tat geschehen war. Einst herzensstark und hirngewaltig, lag er da und hatte zu schweigen.
Peters drehte Schlüssel und schob Riegel gegen ein wütendes Draußen. Er mußte nun allein sein mit dem Toten.
Eine Nacht im Ballsaal lag hinter ihm, Walzer, Exfidelitas im Proppenbund. Eine Nacht an Bord, klamm von Frost an die Reeling gedrückt, im schnaubenden Zug.
Nach langer Gewissensnot, alkoholvergiftet, hatte er diese Fahrt angetreten. Keines anderen Wille hätte versucht, in diesem Zustand tüchtig zu handeln. Reue und Kater waren besiegt. Er hatte gehandelt!
Vierundzwanzig Jahre später noch spürt er in allen Nerven diese Nacht.
»Dichter Nebel schnitt uns von der Außenwelt ab.«
In Afrika, in Manicaland, schrieb er einen kurzen 88 Abriß seines Lebens, vor dem Zelt, in afrikanischer Luft. Er war mit jeder Zelle seines Leibes und jeder Faser seines Wesens ein anderer geworden.
Ein Weg, wie kein Zeitgenosse ihn gegangen, lag hinter ihm.
Aber auch damals und immer noch, stand der Furchtbare in seinem Rücken, blickte in sein Papier, das Peters die Akten seines Lebens nannte: »Dem Gerichtshof der Nachwelt eingereicht, welcher allein kompetent ist, zu beurteilen, was wir in unserer irdischen Tätigkeit angestrebt, und was wir erreicht haben.«
Dem Druck der toten Augen, die auf seinen »Akten« ruhten, konnte Peters noch immer nicht entgehn. Immer noch rang er in Argumenten und Sophismen gegen den Kläger. Die Erkenntnis ward ihm abgezwungen:
»Vielleicht gibt es noch ein zweites Totengericht, welches hinter Raum und Zeit droht . . . Da gibt es kein Anschuldigen und kein Verteidigen. Ein jeder bringt sein Urteil fertig mit . . .«
Über erstorbene Treppen, durch gähnende Korridore kam Peters in des Toten Arbeitssaal. Die Orgel schwieg, aus der sonst Karl Engels Seele rauschend gesprochen. Die Violinen, alte Saitenspiele rings an den Wänden, die einst von Violets Lachen vibriert hatten, waren stumm wie die Orgel. In diesen Wänden lachte niemand wieder. Stumm war das müde, kleine Spinett, das jeden Ton am längsten nachzukichern pflegte.
Wie hatten all die Saiten gedröhnt, wenn irgendwo im Haus eine Tür fiel, eine Stimme laut sich erhob. Heute lebte niemand hier, seine Stimme zu erheben, eine Tür ins Schloß zu werfen. 89
». . . über mir ruhte die Leiche auf meinem früheren Bett, im Kamin brannte ein helles Feuer. Ein kaltes Souper war auf einem Seitentisch für mich aufgestellt.«
Das Bett, der Wein, das warme Feuer im Kamin . . . Nach sechzig Stunden ohne Schlaf – kein Schlaf!
Peters schrieb Brief um Brief, und jeden zerriß er, den er vollendet. An wen denken, an wen sich wenden, in dieser Nacht?
Da war nur Jühlke, dem mußte er alles sagen. Jühlke würde begreifen, daß kein Zusammenhang war zwischen dem kecken Griff nach eines Mädchens Unschuld und dem Tod, der wuchtig über diesem Hause lag. Jühlkes breites, redliches und kluges Gesicht mußte jetzt an diese Mauer gebannt werden über Karl Engels Schreibtisch.
Um zehn Uhr zerbrach die zum Schreiben geknechtete Hand, war längst kein Sinn mehr in dem, was sie malte. Da war das weiche Bett, das warme Bett.
Durfte er es wagen, aufzustehn? Würden die Violinen nicht von seinem Tritt klingen, die Orgel weinen, das Spinett nicht kichern? Würde dies Geräusch den Onkel wecken, droben, nur durch ein paar Planken von ihm getrennt?
Es waren nur zwei Schritte, die er nach langem Zagen tat, brennendes Wasser in den Augen, mit offenem Mund, die Hände gespreizt.
»Schlaf! Schlaf!« heulte es noch vierundzwanzig Jahre später in ihm auf, als er, nach vielen tausend Nächten, von dieser Nacht sprach. »Aber die Flamme des Kaminfeuers spielte entlang den Wänden, bald diese, bald jene Fratze 90 hervorzaubernd. Ich konnte nicht einschlafen.«
Drei Stunden gingen hin. Kein Schlaf, kein Laut, nur eigener Herzschlag, der Tote wecken mußte! Naß wurden Decken und Kissen in diesen zwei Stunden, so preßte die Angst aus seinen Augen Bäche von Tränen, Schweiß aus seiner Haut.
Heulen? Er hatte nicht die Tapferkeit, laut zu heulen. Er durfte nicht heulen, noch beten, noch Hilfe schrein. Unabwendbares geschah, rückte näher von Puls zu Puls. Als eine einsame Turmuhr Mitternacht schlug, warf es den erschöpften Körper empor wie elektrischer Strom.
Wie wach er war, wie fern jeder Halluzination, daß er eine Maus nagen hörte, das Summen einer Fliege.
Onkel Karl war aufgewacht. Er bewegte sich im Bett, streckte den wuchtigen Körper, erhob sich.
Jetzt fand er die Schlafschuhe nicht! Jetzt ging er auf bloßen Sohlen über den Fußboden hin, langsam, nicht tastend.
Kann man sich darüber täuschen, ob eine Tür knarrend geht oder nicht – in einem grabstillen Haus, das nur zwei Menschen herbergt, von denen einer tot ist? O nein, diese Tür da oben ging wirklich, ging auf und zu – diese Schritte von nackten, schweren Füßen kamen wirklich, bedächtig, Stufe um Stufe herab. So sicher geht man nicht ohne Licht, auch nicht durch ein Haus, das man Jahrzehnte lang bewohnt hat. Stufe um Stufe hatte geächzt. Jetzt kam der Korridor, Schritt um Schritt. Jetzt die Tür, ein Tasten, die Klinke war gefunden – die Tür ging auf.
Peters' Hand suchte Waffen, fand nur die Feuerzange. 91
Eine Hand um den Griff gepreßt, die andere in die Tapete gekrallt, sein Gesicht ein weißer Fleck mit brechenden Augen und blutigem Mund – so sah ihn Karl Engel, der lächelnd an der Tür stehenblieb, in der Hand eine Totenkerze mit rötlichem Schein, den Todesstreifen um Genick und Kehle . . . Er sprach nicht, drohte nicht, lächelte nur über den Armen, der ihn zu ewigem Schweigen verurteilt glaubte, mit der Feuerzange noch einmal stillmachen wollte. An seinen Herzschlägen zählte Peters die fünfzehn bis zwanzig Sekunden dieses Aug-in-Aug.
»Dann schloß sich die Tür, ich hörte den Schritt die Treppe zurückschlürfen. Die Tür oben öffnete und schloß sich; der Körper streckte sich wieder auf dem Lager über mir aus, und alles war still.«
Es dauerte lang, lang über Mitternacht hinaus, bis Peters' eiskalte Hand die Waffe fallen ließ, bis er in die Kissen zurücksank. Die Zähne in sein Laken gewühlt, lag er da und bettelte zu Gott, daß Tag werde! Nur Licht konnte ihn retten, jenes trübe, jammervolle Licht, das draußen tagsüber die Nebel färbte.
So verging die Nacht von Montag auf Dienstag.
Am Dienstagmorgen kroch Peters die Treppe hinauf, aber er wagte sich nicht über die Schwelle des Totenzimmers.
Die Treppen wieder hinunter, schleichend, die Angst im Rücken. Endlich das Tor, heimlich Riegel und Schlösser auf – ein Sprung ins Freie!
Wie herrlich war dies Freie, feuchtkalt, von undurchdringlichem Gelb! Ach Götterluft, Nebel, Glück des Atmens! O sicherer Schutz, den die Straße bot, 92 Klappern von Rädern, Klatschen von Hufen. Schatten glitten durch diese Nebel, Stimmen wurden laut, gesegnete Menschenstimmen! Londoner Cockneystimmen, die man umarmen und küssen möchte!
Im Schutz eines Arztes, Stunden später, wagte Peters sich wieder ins Haus, ins Totenzimmer. Die Kerzen standen da wie tags zuvor. Der Körper aber hatte seine Lage verändert!
Ganz so eng an den Leib gepreßt hatten diese muskulösen Arme nicht gelegen vor vierundzwanzig Stunden, als er hier Violet . . . zum Schweigen gebracht, ihre Seele zertreten und so in Grauen gewälzt hatte, daß sie nie genesen konnte.
Um Zehntel Grade war der Winkel verändert zwischen Wange und Schulter!
Der Arzt sah jung und gleichgültig aus.
»Ist er unzweifelhaft tot, Doktor? Ich habe Grund zu glauben – daß er heute nacht . . .«
Peters sah alles vor sich, mit überwachen Augen:
Karl Engel, durch den Glockenschlag vom Scheintod auferweckt, hatte sich erstaunt im fremden Bett gefunden, war die Treppe hinunter – in sein Arbeitszimmer . . .
Hatte den »fremden Neffen« dort liegen sehen, nicht begriffen – – –
War wieder in Scheintod zurückgefallen?
Gegen Abend versammelten sich feierliche Herren, Ärzte, Richter, Geschworene, Zeugen.
Nicht Peters war angeklagt, wurde zum Geständnis eines Verbrechens bewegt, nach mildernden Umständen gefragt. Nicht Violet sollte, schuldig verbrecherischen Gehorsams, verruchten Schweigens, das den Tod eines Menschen verursacht, Verantwortung stehen. 93
Angeklagt war Karl Engel, Musikgelehrter, Virtuose und Komponist, Witwer, unbescholten in fünfundsechzig Lebensjahren. Hatte er, gegen das Gesetz des Landes verstoßend, Hand an sich gelegt, durch diese ungesetzliche Tat sein Leben verkürzt? Durch welches Mittel? Im Zustande freier Willensbetätigung, ungetrübten Geistes?
»Bitte, stellen Sie fest, wann der Eintritt des Todes erfolgt ist«, bat Peters.
Man verstand ihn, wohlwollend.
Wenn Karl Engel zwei Tage nach seiner Tat noch gelebt hatte, war keine Rede von Selbstmord und Urteil.
Nach langer Untersuchung erfolgte, nicht im Totenzimmer, sondern im Diningroom, feierlich das Inquest.
Selbstmord lag vor, der Tod war infolge Strangulation eingetreten.
Aber das Urteil war gnädig – ein ehrenhaft geführtes, langes Leben, auf den Höhen sozialer Stellung, sprach für den Angeschuldigten.
Er hatte, da kein Anlaß zu seiner Tat gefunden ward, kein Vergehen, das sein Gewissen bedrückt haben konnte, seine Vermögens und Lebenslage die günstigste war, zweifellos in momentaner Geistesverwirrung gehandelt.
Der Ärzte Gutachten sprach in diesem Sinne, die Zeugenaussagen – die Richter sprachen Karl Engel von der Anklage des Selbstmords frei. Er war kirchlicher und bürgerlicher Ehren, eines christlichen Grabes nicht unwürdig.
Schwarze Röcke, schwarze Zylinder wallten durchs Haus, zogen sich durchs Tor, den Vorgarten.
Ein junger Mensch, aschfahl, mit nassem Haar, undurchsichtige Zwickergläser vor stummen Augen, stand 94 draußen, beugte sich tief vor den schwarzen Röcken, dankbar für ihr gnädiges Urteil. Sie hoben, Mann um Mann, eine Prozession Schweigender, den spiegelnden Hut, drückten ihm die nasse, totkalte Hand.
Als der letzte Händedruck erlitten, die letzte Gestalt verschwunden war, Nacht heraufzog, Nacht und Nebel undurchdringlich wurden, lag Carl Peters im Garten, sein brennendes Gesicht in den Rasen gepreßt. Hände und Füße im bereiften Gras, heulte er wie ein Hund.
»Hätt' ich's nicht getan! . . .«
Würde sich um Mitternacht das Gräßliche wiederholen? Wieder das Schlürfen, Tasten, Tür auf? Die Strafe!
Lieber hier draußen frieren, lieber im Garten die Nacht durchheulen, von Polizisten mit Fackeln gesucht, emporgezerrt werden!
Aber stärker als die Furcht und mächtiger als Polizeifäuste war ein fremder Wille, der ihn ins Haus zerrte. Es mußte erlebt werden, es mußte gefolgt werden! Totengericht! Wer die Tat begangen, muß am Tatort erscheinen!
Das ganze Zimmer voll Licht, alles Gas entzündet, das in diesem Raum nur strahlen konnte, Kerzen dazu, prasselndes Holz im Kamin.
Da stand, wie lange schon, das kalte Souper, unberührt der Wein. Ein paar Bissen, ohne Messer und Gabel, mit schmutzstarrenden Händen in die Speisen hinein! Mit Wein aus dem Flaschenhals direkt heruntergegurgelt. Gottlob, daß man noch Hunger hatte, reißende Hungerschmerzen im Magen! Essen war gut, war ein Schutz, essen, daß die Hühnerknochen krachten, daß man sich wieder lebendiges Tier fühlte – Tier schlingendes Tier! 95
Ins Bett wagte sich Peters nicht. Erwartete Mitternacht im Schreibtischstuhl, ein aufgeschlagenes Buch vor sich, aus dem er nicht eines Wortes Sinn herauslas, aber mit offenen Lidern.
Diesmal, als es zwölf schlug, regte sich nichts. Der Onkel stand nicht auf, kam die Treppen nicht herunter – denn längst war er da! Stand hinter dem Stuhl wie in jenen Schreckensnächten am Schreibtisch zu Boulogne-sur-Mer.
Er regte sich nicht, stand nur da, und Peters fand nicht für eines Atemzuges Dauer die Kraft, sich umzuwenden, dem Toten ins Antlitz zu sehen.
So verging die Nacht von Dienstag auf Mittwoch.
Am Mittwoch aber – es war ein Wunder in diesem Londoner Herbst – schien Sonne! Ein armer Strahl drang durch verschlossene Portieren, der bald wieder verschwand. Aber minutenlang glänzte er doch und wärmte herein in diesen Saal, spiegelte hin aufs polierte Holz der Geigen, des Flügels und der Orgel, blinkte gegen das Gaslicht an.
Peters lag im Sessel, zusammengedrückt, Arme und Kopf auf der Tischplatte, die Beine unter den Sitz gezogen. Er hatte sich winzig gemacht, sein Volumen verringert, als könnte er so – in nächtelanger Buße – die Schuld fortwischen.
Nach dieser zweiten Nacht im Totenhaus, nach vier Nächten ohne Schlaf, nach dieser langen Nacht, in der Karl Engels Blick nicht von seinem Nacken gewichen, ihn Stunde um Stunde belagert hatte, war auch von seinem Leben nicht viel mehr vorhanden. Aber nun rief ihn die Sonne noch einmal an, wie einen Schwerkranken in halber Agonie der Arzt anbrüllt, um ihn zum Bewußtsein zurückzuzwingen. 96
Für einmal noch gehorchte er dem Befehl zu leben.
Dies bißchen Wärme also war Wirklichkeit? Es löste den Krampf aus seinen Gliedern, mühsam brachte er die Arme frei, die erstarrten Füße. Er reckte sich ängstlich, spähte über die Schulter – wandte sich endlich um, furchtgepeinigt.
Sein Rücken war frei!
Peters kam auf die Füße, tat einen Schritt und fiel zusammen. Die Knie brachen, im Grauen vieler Stunden zusammengebogen.
Aber plötzlich wieder mit Brunst zur Sonne entschlossen, rutschte er als Krüppel zum Fenster, zog sich hoch, brachte die Gardinen auseinander, die Fenster auf.
Licht, viel Licht! Kitzelnde Wärme! Ströme von Luft!
Dann lag er auf dem Teppich, lag ausgestreckt, nicht bewußtlos, in einer Ohnmacht, die kein Schlaf war.
Beim Erwachen war um ihn ein großer, pathetischer Raum, der seit Zeiten nicht gefegt, gesäubert worden. Staub auf den Möbeln und Fournituren, ein Lager, über das Erinyen getobt hatten, zerfetztes Briefpapier um den Schreibtisch gestreut, auf dem Angstschreie zu kalter Tinte geworden. Auf dem Tischchen ein Tablett mit abgefressenen Hühnerknochen, Brotrinden, zerbrochen darunter eine leere Flasche.
Aber kein Spuk in diesem häßlichen Irrsal! Kaum die Erinnerung an dies Gespenst und keine Spur von ihm.
Die Sonne war wirklich!
Ob niemand kam, die Leiche zu holen? Vielleicht gab es ein anderes Atmen, ein anderes Tönen des Blutes, wenn das Bett oben leer war?
Peters' Vergangenheit war, wie zur Kette gereiht, eine Serie gewaltiger Eruptionen all seines Willens. Was vor ihm lag, und was er bezwingen sollte, waren Jahre 97 voll titanischer Leistung. Ihm war bestimmt: mit nackten Händen dem Willen zweier Weltteile siegreich zu trotzen! Mit nackten Händen, ohne Roß und Reiter, ein Land zu erobern, größer als Europa. Er sollte sich sterbenskrank durch Wüsten schleppen! Fieber im Hirn, sollte er Schlachten liefern. Mit halber Überzeugung, ohne Freund, dem Zorn eines von ihm beschenkten Volkes standhalten.
All das, was er getan, was er noch tun würde, scheint gering, mit den Anstrengungen jenes Novembermorgens verglichen. Es zog ihn nur, sich wieder auf den Teppich zu werfen, den Sonnenschein zu genießen, solang es vergönnt war. Und so liegenzubleiben, bis Grauen, Frost und Hunger ihm den Rest gaben.
Trotzdem zwang er das Ungeheure: gewaschen, rasiert, frisch gekleidet noch einmal auf die Straße zu kommen. Er fand taumelnd ein Gasthaus, nährte sich, brachte mit glühend heißem, giftschwarzem Kaffee die gefetzten Nerven, das geräderte Hirn noch einmal zum Dienst. Er nahm einen Wagen, reiste von Tür zu Tür und bestellte des Onkels Begräbnis.
Für heute war alles zu spät. Morgen – es kostete Geld und große Versprechungen, dies Morgen wenigstens sicher zu machen.
So blieb noch eine letzte Nacht zu bestehen.
Gegen Abend fuhr Peters bei seinem »Vetter« Herbert Bowman vor, dem jungen Bankherrn aus Mr. Engels vornehmer Sippe.
Der Vetter nahm ihn kalt auf, kondolierte brüsk, auch er, als wüßte er alles, hielt seine dünnen Lippen fest zusammen. Aber er nahm ihn auf! Peters hätte sich peitschen lassen, um diesen Abend nicht wie den letzten einsam verbringen zu müssen. 98
Wärme kam nicht in Herberts Speisezimmer, trotz des Kaminfeuers, trotz dampfender Schüsseln. Peters schrak oft zusammen, wenn der Diener hinter ihm stand, seinen Teller wechselte. Er beherrschte sich ungeheuer, saß steif da, aß wenig, gab kurze Antworten auf kurze Fragen.
Er dachte nur eines: Herbert besaß ein Fremdenzimmer. Ob er ihn einladen wird, dort zu übernachten?
Wie ein Lied summte ihm die Frage durchs Hirn:
»Du fühlst dich wohl einsam in deinem Haus, Charles?« Er hörte sie nicht.
Auch im Klubsessel, bei der Zigarre, konnte ein Gespräch nicht in Gang kommen. Peters' immer blasses Gesicht war grün und erfroren. Manchmal fühlte er, daß sein Oberkörper schwankte, sein Kopf zur Seite knickte. Bald sprach niemand mehr, die Minuten lasteten über beiden. »Viel Arbeit morgen!« sagte Herbert. »Besser, du schläfst bald.«
Peters fuhr auf, stand stramm, wollte ein Wort sprechen und konnte mit Not einen Ausbruch bezwingen, sinnloses Lachen oder Schluchzen. Er pendelte zum Korridor, ließ sich in den Mantel helfen, wurde zur Tür gebracht. Dort packte es ihn neu, um ein Nachtlager zu betteln. Aber Herberts Gesicht war so aus der Tiefe des Instinkts heraus abweisend, daß Peters schwieg. Er mußte auf die Gasse, hinein in Nebel und Nacht.
Jetzt ging's »nach Haus«, ohne Widerspruch. Nicht in jenem Schritt, der andern gefährlich war, steil ausgerichtet, einem verkanteten Segelboot ähnlich. Sondern erblindet! Durch dickbeschlagene Gläser, verquollene Lider kam kein Bild. Erblindet und mit gebrochenen Knien tastete er vorwärts, kannte den Weg nicht und wußte doch, daß er richtig ging, wider Willen. 99 Unwiderruflich dorthin, wo heute nacht die letzte Marter ihn erwartete! Es war bestimmt. Der Stab gebrochen über seinem Haupt, als ihn Herbert Bowman hinaus auf die Gasse stieß.
Peters kroch, aber doch ging es entsetzlich rasch. Da lag schon der Holland-Park, Duft von welkem Laub und nassen Rinden!
Er machte halt, rückte den Hut, rieb die Gläser. Er hustete grell, qualvoll, als wollte er das Mitleid eines Vorübergehenden anrufen.
»Soll ich Euch ins Krankenhaus bringen, old man? Würde besser für Euch sein, scheint mir.«
Das wäre Almosen gewesen, dies Wort! Dann hätte er gesagt:
»Ja, krank, kalten Zug erwischt.«
Hätte sich hüstelnd, stöhnend wegschleppen lassen. – Aber der einsame Mensch verschwand wie er aufgetaucht war, hatte kein Herz.
Da begann Addison Road.
Peters querte über die Straße, zur Parkseite hin. Umkehren gab dieser gelähmte Wille nicht zu, weiter mußte Peters. Aber nicht dort auf der Häuserseite, wo eisige Finger seine Gurgel würgen, ihm stählern durch die Rippen greifen würden.
Und da das Haus! Ihn, den Gequälten, konnte man im Schatten des Parks nicht sehn; er durfte kundschaften, horchen, die Gespensterburg mit einem sechsten Sinn umkreisen, den er der Angst verdankte.
Da war grau die Masse des Hauses, die sich vor seinem Fieberblick löste. Sie zerfiel langsam in Mauer und Dach, Giebel, Fenster, – jetzt war das eine Fenster unverkennbar, in scharfen Ecken und Kanten, hinter dem jenes Bett stand. Es wurde deutlicher, hob sich 100 mehr und mehr ab von seiner grauen Nacht, wie von innen zunehmend bestrahlt. Heller, heller!
Da ragte hinter der Scheibe Karl Engel, mit blauen, offenen Augen, für die es kein Dunkel gab.
Schon war in seinem Versteck, seinem Schattenloch, der arge Neffe gefunden! Auf ihm lagen die blauen Augen – ihm winkte der schwere Arm. Jetzt wußte er, daß Onkel Karl lang schon dort oben stand, wartete.
»Komm doch herein!« winkte die Hand.
Peters aber, im Dunkel hin, als hätte er nichts gesehen, Armen trotzend, die ihn halten wollten, rückwärts zerren, dem Gesicht entgegen! – im Dunkel hin, taub und dumm sich stellend – kroch weiter! Nicht zurück, der Stadt zu, die er kannte. Nicht in Sprüngen, er, der Läufer, sondern ans Parkgitter gestützt, ohne Hut, fast auf Knien und ganz unhörbar, – weiter, weiter . . . Zähneklappern konnte ihn verraten! Er bezwang es.
In einem Vorstadt-Hotel schlug gegen Mitternacht die Glocke. Nach vielen Sekunden kam der Pförtner auf Filzsohlen heran, öffnete.
Da stand klein, barhäuptig, feucht, als käme er aus dem Grab, ein alter Mensch, der erst deutsch, dann englisch etwas stotterte. Wenn er den Mund auftat, begann ein Kinnbackenkrampf, der seine Worte wegfraß. Ein altes Männlein, weinerlich und bettelnd.
Es war klar, auch ohne Worte klar, um was er bat. Ein Bett! Wärme!
Aber nachts zu Fuß, ohne Gepäck, Hut, Schirm?
»Habt Ihr denn Geld?«
Der Verkommene lehnte sich an den Türpfeiler, glotzte verständnislos, suchte endlich in den Taschen. Es 101 klingelte wie von Gold – dann kam ein Pfund zu Tag und etliches Silber.
»All right«, sagte der Pförtner.
Für ein Pfund tat er viel, machte Feuer, gab Wärmflaschen, wollte sogar Grog brauen. Aber, die Stiefel kaum abgestreift, war Peters in Kleidern und Mantel weggeschlafen.