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Als Doktor der Geisteswissenschaften, Oberlehrer für Geschichte und geprüfter Lehramtskandidat, Preisträger der Goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft, sagte Peters in Hannover Vorträge für junge Damen an. Deutsche Literatur, Mythologie, 23 Kunstgeschichte. Hier konnte er bei seiner Mutter billig leben und sich als ganz privater Dozent vielleicht über Wasser halten.
Immerhin, es war ein anderes, jungen Damen Vorträge zu halten, in denen er Seelen abtasten, ihr Unerkanntes wecken konnte, als dummen Buben die Landkarte zu erklären oder römische Geschichte einzutrommeln. Mädchen, ein ganzer Hörsaal voll junger Mädchen, der Schule entwachsen, zwischen Schule und Leben stehend, – wie alle Augen auf ihn gerichtet waren! Er sprach von Goethes Liebeslauf, von den Abenteuern des Zeus mit Erdentöchtern, über Darstellung des nackten Körpers in der Entwicklung der Generationen.
Damals war »nackt«, das bloße Wort »nackt«, noch ein unzüchtiges Wort. Der »Faust« wurde in gekürzter, purifizierter Ausgabe für die Jugend gedruckt, Baumbach und Wolff, tief verlogen, waren Dichter, aus denen diese Jugend ihre Kenntnis vom Leben nahm.
Peters erschien sich selbst als Priester, wenn er vortrug: wie griechische Sonne über die Leiber griechischer Menschen gelacht. Wie Zeus als Schwan der Leda, als Amphitryon der Alkmene, als Stier der Europa genaht. Er fand sanfte Worte moralischer Mißbilligung für den irrenden, lockenden, verführenden Goethe, den Knaben, der auf einem Schimmel, herrlich angetan, von Straßburg nach Sesenheim reitet, um Friederiken zu gewinnen, zu beugen – und dem die Natur »herrlich leuchtet« bei solchem Tun. Um diese Friederike dann zu registrieren: sah ein Knab' ein Röslein stehn.
»Achten Sie, meine Damen, auf die fast zynische Selbstverständlichkeit in so zauberhaften Worten: half ihr doch kein Weh und Ach, mußt es eben leiden! Dann bringt das Genie, noch nicht durchgerungen zur ethischen 24 Erkenntnis von Verantwortung und tragischer Schuld, dennoch rein ästhetisch die tiefste Erkenntnis mit dem klagenden Vers: Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden.«
»Ist es nicht, als jammerte Goethe über vergossenes Blut, von ihm zerstörtes Leben, wenn er die gebrochene Blume im Staub sieht? Um dennoch zu triumphieren: mußt es eben leiden!«
»Weil Goethe, sein Genius, richtiger, gewaltiger und gewalttätiger war als jegliches Gesetz. Friederike erkannte es zutiefst; die er brach und in den Staub warf, hat ihm nie gegrollt! Als altes Fräulein noch, zierlich, geachtet, hochgesittet, hat sie ihm Grüße geschickt. War er nicht ein Eroberer? Durfte sie es beklagen, daß sie unter den Schritten dieses Eroberers blieb? . . .«
Der so sprach, ahnte sich selbst als einen Eroberer neuer Welten. Neuer Erkenntnisse oder neuer Länder, das ahnte er noch nicht, der von einer Fortsetzung Kants über Schopenhauer zu sich selbst träumte und den größenwahnsinnigen Aphorismus »duobus philosophantibus tertius concludit« auf sich selbst geprägt hatte. »Das Werk zweier Suchender krönet der Dritte.«
Der aber zugleich die Landkarte aller Weltteile durchforschte nach unbetretenem Boden. Der jungfräuliches Land ahnte im Norden Südamerikas, im Torso Afrikas, im weiten europäisch-amerikanisch-asiatischen Radius des Nordpols – und oft empfand: dorthin! Erobern! Nehmen! Wie Ferdinand Cortez gewaffnet einbrechen in goldstrotzende, rührend neue Unberührtheit des Globus! Der ein Drama schreiben wollte, schicksalsvoller, blutrünstiger und unerbittlicher als »Macbeth«, schon als Tertianer, mit einem »Judas Ischarioth« Shakespeare den Kranz vom Haupt zu reißen! Weil er vermeinte, 25 in seinen Nachtstunden am Schreibtisch öffneten sich ihm Abgrunde der Seele und Katastrophen aller Menschenmoral, an die zu rühren Shakespeare selbst nicht der Mann gewesen.
Mädchen haben das Ohr für Illusionen. Ihr Lehrer sprach von Goethe und Zeus und Phidias, malte das Bild der von Eros gegeißelten Psyche zu Pompeji – sie hörten heraus, was die alten Würdedamen in ihrem Kreis nicht hören noch ahnen konnten: daß Peters reifenden Damen von ihrem Werden erzählte; Mädchen, die noch als Kinder gehalten wurden, aber morgen heiraten konnten, die Augen aufriß über ihr Schicksal, Wesen ihres Leibes, Ziel ihres Weges.
Er konnte keinen Verdacht erregen. Sein Zwicker blitzte wie der eines Oberlehrers, seine Redingote, zweireihig, war streng geschlossen. Sein Schnurrbart mit langen Spitzen, Stolz des Vierundzwanzigjährigen, lehnte jede Frivolität ab. Dies Tremolieren in seiner Kehle, faunische Gestalten seiner Finger konnten nur Mädchen mit ihren erkenntnissüchtigen Ohren und Augen vernehmen.
Der Hörsaal wurde voller mit jedem Vortrag. Blickte Peters beim Sprechen, scheinbar kühl und nur von innen heraus beschäftigt, über die Reihen glühender Gesichter, dann packte es ihn, daß er mit kritzelnden Händen, verzogenen Lippen sprach. Dann konnte er denken: »Ihr seid alle mein, wenn ich euch will!«
Manche, auf die er hier Beschlag legte, nahm er. Wo er zugriff, geschnellt vom Lustrausch des Eroberers, beredt, von Skrupeln nie gehemmt, ein trainierter, abermals skrupelloser Ringer – da hatte er seine Beute. Er war kein Liebender, nur Unterwerfer.
Als Maud Louistone zum erstenmal mit ihrer 26 Begleiterin in seinem Hörsaal erschien – er bestand darauf, daß jede neue Hörerin sich persönlich vorstellte, – schienen ihm alle bisher erlebten Frauen blaß. Nicht um ein mehr oder weniger von: schön, schlank, lieblich ging es da. Mit dieser Erscheinung tat eine Welt, die große Welt sich auf.
Fräulein Maud war so gekleidet, daß man ihren Körper ahnte. Die Greten und Hilden waren in Fischbeinkorsetts, Unterröcke, culs de Paris, Kapottehüte versteckt zum Erbarmen!
Dieser Person waren die Kleider eine leichte, sicher nie lästige Hülle. Sie ging, wie der Hannovraner sich Diana dachte. Ihre Röcke schmiegten sich um die Knie, unbeschwerte Arme tanzten, wenn sie sprach.
Miß Maud hatte etwas Ungeducktes, das berauschend war! Deutsche Mädchen wurden mit der Rute erzogen und kannten wenig Regungen, die nicht verboten waren. Maud Louistone zeigte mit einer Bewegung und jedem Wort, daß sie nichts Verbotenes kannte. Man fühlte, daß sie im Herrensattel ritt, über Hürden setzte. Daß sie von den siebzehn Jahren ihres Lebens mehr als zehn in Hotels, auf großen Schiffen, in all den großen Städten der Welt verbracht hatte. Daß sie überhaupt noch nicht wußte, ob es teuere und billige Dinge gab, weil alle hübschen Dinge ihr gehörten. Daß sie in vier Sprachen schwätzte und las, vielleicht sogar dachte.
»Ein Kolibri in meinem Hühnerhof!« erschütterte es Peters, Pfarrerssohn aus Neuhaus a. d. Elbe, Lehramts-Kandidat, Privat-Dozentchen für junge Hannovranerinnen.
»Haben Sie sich schon mit deutscher Literatur befaßt, mein Fräulein?«
»Ouh, nur die Leiden of young Uerther,« lachte Miß 27 Maud, als sei die Frage indiskret. »Und natürlich Henry Heine, you know!«
»Dann fürchte ich, Sie werden Mühe haben, zu folgen,« stakste Peters. Er empfand, daß er jetzt, gerade jetzt, wirklich wie ein Schulmeister schnarrte, ganz hölzern, und über diese Beobachtung in Wut kam.
»Ich glaube nicht so!«
»Bitte, halten Sie meinen Vortrag nicht für leicht!«
Peters begehrte auf, in Rebellion gegen die eigene Bescheidenheit.
»Sie mussen mir Privat-Lektions geben!« verlangte Maud mit einem lustigen Blick ihrer diebischen Augen.
»Ich uohne in Hotel Imperial.«
Und damit tat sie – die sich ihm vorgestellt hatte! – als sei er in Audienz gewesen und mit einem Auftrag entlassen.
Sie knisterte davon, saß gleich darauf ganz zierlich, ganz bescheiden, unter den großen blonden Mädchen auf der Schulbank.
Peters kam bei diesem Vortrag schwer in Fluß.
Natürlich konnte nur die englisch-hannoversche Hofgesellschaft so seltsame Blüten ins deutsche Leben wirbeln. In Berlin, in jeder Stadt Deutschlands, hätte Peters sein Gewerbe als Lehrer, Faszinator, Literat jahrzehntelang üben können, ohne auf seiner Bahn an etwas so Unwirklich-Mondänes, so betont International-Aristokratisches zu stoßen. Eine Wittelsbacher Prinzessin hätte ihm kein Problem bedeutet.
Aber hier war alle Majestät in einer Terrakottafigur zusammengegossen: weiblichste Jugend, Aristokratie, Reichtum, Schönheit und Welt; der Weltteile, nach denen er Durst hatte! Das zerstörte einfach. Das war 28 zu groß, nahm den Atem, daß nur ein keuchendes Schnarren blieb.
Peters erfuhr bald, daß die junge Dame »echt« war. Tochter eines englischen Aristokraten ohne Titel – »jüngere Söhne von jüngeren Brüdern« zitierte Peters seinen Shakespeare – der aber nach dem Tod seines älteren Bruders Baronet wurde; daß sie an vielen Höfen zu Hause; an der Seite ihres Vaters Elefanten gejagt hatte; daß ihre Mutter, eine Kalifornierin, Schätze hinterlassen, daß Maud, als Kind schon, mehr Reisen über das Meer gemacht hatte als Peters zwischen Berlin und Hannover.
Als er das alles wußte, während zweier Vortragsstunden durch Zwickergläser auf sie gestarrt hatte, ohne daß sie auch nur aufgehört, mit ihrem goldenen Bleistift zu spielen, mit ihrer Lorgnette zu kokettieren, einen Zug ihres belustigten Bubengesichtes zu verziehen, – als er auf Abstand festgestellt hatte, daß sie so traumhaft hoch an seinem Firmament hing, wie der erste Blick schon gesagt hatte – ging er ins Hotel Imperial, schickte seine »Dr. phil.« Visitenkarte, gedruckt, groß, patzig. Erschien vor ihr und der Gardedame im Pelz, im Zylinder; deponierte beides Straßeninventar auf einem Stuhl mitten im Zimmer. Und meldete sich zum Unterricht in deutscher Konversation, Aussprache, allgemeiner Bildung. Unmöglich, mehr zu tun, um sich lächerlich zu machen, als er so in der Eile tat. Aber es war die Fremde, die er hier in Hannover betrat.
Wie sollte es weiter gehn, da er, ein armer deutscher Junge, der sich plötzlich für einen Wiking hielt, kein noch so schmales Wikingboot unter den Füßen hatte, keine Germanenmannschaft in wehendem Lockenhaar zu seinem Befehl? 29
Die Gardedame verstand kein deutsches Wort. Peters schwadronierte und deklamierte. Maud lächelte ihr lustiges »ouh« und hielt große, erstaunte Augen auf das Privat-Lehrerchen geheftet. Er stellte Fragen, die sie mit demselben lustig-erstaunten »ouh« beantwortete.
»Ouh yes« oder »ouh no«, je nachdem, ob sie den Sinn seiner Fragen verstand oder nicht. Und hatte sie ihn verstanden, dann kam aus offenen, feuchten Lippen das hingerissene »I never have seen a young man like you!«
Triumph! In den Hof-Salons würde sie freilich keinen jungen Mann wie ihn sehen, der unberührten Boden so betrat! Auch nicht im Windsor-Schloß oder bei den Nabobs. Diesen »young man« gab es nicht im Dutzend.
Peters, der in der Berufung zum Unterricht allein schon einen Erfolg vermutet hatte, steigerte sich von Stunde zu Stunde in Dinge von impertinenter Vertraulichkeit. Er war der Überzeugung, daß solche Mädchen, diese Art ganz aus der Reihe gestellter Mädchen, nie an einen wirklichen Mann geraten.
Wer als erster, ein ganzer Kerl, nach Gürtel und Schleier griff, mußte siegen!
Und mit jedem Wort, das er sprach, riß er wuchtig an Gürtel und Schleier. Als er trotzdem zur zweiten Lektion bestellt wurde, hielt er sich – diesmal wie immer – für den Sieger.
Das war freilich ein anderes Siegen als über die Trinen und Stinen seiner Ferienabenteuer in den Dörfern, über die tragisch vergangene Amalia, über die Barchent-Enthusiastinnen seiner Muse!
Bebend und erschöpft würde er diesmal Viktoria rufen. 30
In den anderthalb Wochen, seit Maud aufgegangen wie ein Stern, hatte Peters' Begriff von Frau und Verlangen sich ganz verwandelt. Eine ersehnte Welt war diese Maud. Wie sie das Haupt trug!
Es kam zu jener Begegnung, die ihm so notwendig bestimmt war, wie er sie herbeigewünscht und erbetet hatte. Ja, dieser junge Pantheist aus Trotz gegen seine Kindheit im Pfarrhaus hatte, mit gefalteten Händen und auf Knien, Bitten zu Gott gelallt.
»Mach, daß ich sie bekomme, lieber Gott! Hilf mir, daß ich sie heut sehe, lieber Gott! Mach, daß sie mich lieb hat, lieb hat, lieber Gott!«
Und hatte Nächte ohne Schlaf gelitten.
Die governess fern, der Reitknecht mit den Pferden weit ab, standen sie auf einem Hügel, unter alten Eichen, das Stück Hannoversches Land vor sich gebreitet wie eine Karte. Er sprach gut französisch und wußte viele englische Zitate – niemand hörte zu, vor dem er Gedanken verstecken mußte. Es gab ein Plaudern, ein köstliches Konversieren, das über drei Sprachen hüpfte, immer auf Flüssiges, Geprägtes für jeden Einfall stieß.
Ob sie wirklich glaubte, »a young man like him« würde in dieser Stunde, in diesem Waldduft, Topographie und heimische Flora lehren?
Unmöglich dumm, diese Idee, die ihm schattenhaft nahte: daß sie gar nicht wisse, wie es um ihn stand! Hatte sie sich doch nie so zierlich und exotisch, so hinreißend fremd gemacht wie zu diesem Rendezvous.
Und so polterten die Worte heraus, die er für Liebesschwüre hielt, ob sie gleich Wünsche, grimme Befehle waren.
»Dich will ich! Du gehörst mir!« 31
Er hielt ihre Hände, blühende Hände, klein und duftend – in Fesseln. Schnarrte, fieberte, prahlte.
»Du ahnst nicht, wer ich bin! Nur du hast mir gefehlt. Ich wußte es selbst nicht. Jetzt nehm' ich die Welt in Besitz! Dich mach' ich zur größten Frau Europas!«
Er riß sie mit seiner nervösen, barbarischen Kraft in den Arm, drängte sein Gesicht an ihr Gesicht.
Da kam ein »ouh!«, das erstaunt und empört klang.
Und dann ihr Lachen!
Er fuhr zurück.
Sie lachte, daß ihm das Herzblut gerann.
Sie lachte wie ein entzücktes Kind vor'm Affenkäfig, ganz echt, aus freier Kehle heraus.
Er griff noch einmal zu, noch fester – da spitzbübelte sie mit den Augen dorthin, wo der Reitknecht die Pferde hielt. Im Augenblick seines Erschreckens fand sie eine reizend-kokette, aber tüchtige Art, sich seinen Händen zu entziehn.
»Ich bin traurig, meine Zeit ist um!« sagte sie, nicht zornig, nicht einmal schwerer atmend.
»Sie bleiben wohl noch eine Viertelstunde, Doktor? Es macht mir fun, allein nach Hause zu reiten.«
Da, als sein härtestes Wort und sein rohester Griff versagt hatten, brach er weinend-wütend aus:
»Einen Menschen wie mich in den Dreck zu schleudern!« Es sah aus, als finge sie jetzt an, zu begreifen.
»Was haben Sie nur gedacht, Doktor?«
Dieser Aufschrei hatte sie berührt.
Aber unbeschwert, den Kopf so frei im Nacken, ging sie hinaus aus dem Waldesdunkel, brach leicht durch Sträucher und Dickicht, erreichte die lichte Stelle, Pferde, Reitknecht. Das Sattelzeug knarrte, als sie sich 32 aufschwang, ihr Roß aus der Welfen Marstall tätschelte. Dann tapften Hufe schwer über moosigen Grund.
Peters blieb nicht fünfzehn Minuten lang zurück, sondern Stunden. Später war der Platz wüst, auf dem er gerastet hatte. Jungholz lag niedergetreten. Schwere Äste, vom Baum gerissen, hatten weißblutende Wunden in der Rinde gelassen. Gras und Vergißmeinnicht hingen zerrauft. Peters' Wut hatte sich ausgetobt an der Reinheit dieser Wald-Lisière, die ihn gesehn in seiner Schmach.
War er nicht mehr wert als ein Rind-Prinz von Asturien oder ein Milliardärslümmel aus dem Schlächterpalais in Neuyork?
Nur, daß nichts in seiner Hand lag – nichts von Krone, Macht, Milliarde. Wollte sie nicht wissen, daß er tausendmal mehr Mann war als diese Machterben, er, dem die Bestimmung zur Macht auf die Stirn geschrieben stand?
Noch gab es Reiche zu stürmen, Weltteile lagen unberührt!
Universität. Blecherne Goldmünze für Wissenschaft. Jungfernkäfig zu Hannover.
Das waren Umwege, verlorene Jahre! Von heute gab's einen anderen Weg!
Was war sie? Tochter des jüngeren Sohnes eines jüngeren Bruders! Er würde sein Weib zur Königin machen.
Aber dann! Dies ungehemmt glückselige Lachen büßte sie ihm! . . .
Maud hatte wirklich zu sehr das Gefühl gehabt, in 33 Deutschland unter »Natives« zu sein – wie sie's in Indien, Ägypten gelernt hatte – um einen deutschen Lehrer überhaupt zu beachten. Sie hatte ganz naiv Peters für eine Art »Mann aus dem Volke« gehalten, der quasi angestellt war, Sitten und Sprache seines Stammes vorzutragen, und dessen Temperamentausbrüche, rollendes Auge, geballte Stirn, dröhnendes Organ eine Art Dialekt, etwas ethnographisch Seltsames bezeichneten.
Sie war erst belustigt, als er mit Worten und Händen nach ihr griff, dann angeekelt. Als Mensch war Peters ihr nicht aufgegangen.
Sie hatte wirklich »von Herzen« gelacht, als sie ihn zusammenlachte.
Nachdem der Orkan seiner Wut über Laub und Gräser getobt, lag Peters qualvolle Stunden lang erschöpft im Moos. Jetzt wurde ihm auch das klar: daß er gerade als Deutscher so heimgepeitscht worden. Er hatte sie als ein höchstes Wesen empfunden, sie aber fühlte sich nur als ein Wesen höherer Rasse.
Gestern erst hatte er im Kursus vordeklamiert:
»Umgürte dich mit dem ganzen Stolze deines Engeland. Ich verachte dich, ein deutscher Jüngling!«
Hatte Maud die Drohung nicht gehört?
Nein, er gestand sich in tiefster Vernichtung, die seinem Wüten folgen mußte: er, ein deutscher Jüngling, verachtete sie nicht! Er verlangte, sie zu unterwerfen, jetzt tausendmal mehr, weil sie einen Heloten in ihm sah wie jener Holthaus zu Ilfeld.
Sie mußte er zu Boden ringen wie jenen, durch Taten, die seine Zeit nicht erwartete.
Dann ritt Peters auf seinem Mietgaul nach Hause, durch werdende Nacht, kurzsichtig und elend. 34
Im Hörsaal erschien Maud nicht wieder, er nicht mehr zum Einzelunterricht im Hotel Imperial.
Aber sie erschrak, als er ihr eine Woche später schrieb: sie möge den faux pas in seiner Konversation entschuldigen, seinem mangelhaften Englisch zugute halten. In London, wohin er übersiedele, hoffe er, ihr wieder, sprachlich besser gerüstet, zu begegnen. –
Sie erschrak, obwohl auch in London der kleine deutsche Lehrer sie kaum zu Tisch führen würde. Obwohl sie in London seltener war als in San Francisco und Kalkutta. Trotzdem war es ihr, als rücke dieser Mensch, den sie im Wald einfach niedergelacht, einen riesigen Schritt tiefer in ihre Atmosphäre, wenn er in London erschien.
Daß es ihnen bestimmt war, einander wieder zu begegnen, glaubten jetzt beide. Beide waren abergläubisch wie alle Menschen ihrer Zeit, die gerade den Zufall für Bestimmung und das Bestimmte für Zufall hielten.
Er schien ihr, da er nach London ging, plötzlich stärker und wirklicher. Sie rief seine Worte aus dem Vergessen zurück, entdeckte in seinem letzten Aufschrei die Gefahr.
Peters hatte dies Schreiben so kalt und sachlich gehalten, als läge ihm einzig daran, für den Fall einer Wiederbegegnung sein Pardon für eine Entgleisung vorzubringen. Es hatte ihn heroische Anstrengung gekostet, Zeile um Zeile so zu schmieden, daß kein Wort verriet, in welcher Weißglut des Fühlens er schrieb. Denn ihm war das Märchenwunder geschehen, das Unfaßbare!
Von seiner Niederlage im Waldpark heimgekehrt, hatte er sich eingeschlossen, Nacht und Tag und Nacht auf dem Bett verbracht; hatte sich mit allen zehn 35 Nägeln die Kopfhaut zerfetzt, knirschend die Zähne fast zerbrochen. Er hatte geflucht und geheult, ein schweres, stöhnendes Heulen, das seine Mutter durch dünne Wände hörte.
Sie bettelte um Einlaß.
Er antwortete nicht, verweigerte sich gegen Trost und Nahrung, ließ die alte Frau in Sorge vergehn.
Er zerwühlte sein Leben, jede Möglichkeit einer Zukunft, verrannte sich in blasse Möglichkeiten, hetzte Zukunft auf hauchdünner Spur bis zur Grenze jeglicher Vernunft.
Raus aus diesem Dunst, dieser Pfarrerswitwen-Atmosphäre, seinem phantastisch-albernen Gewerbe! Das wußte er.
Aber wohin? Da gab es einen Onkel, der in Amerika Schweine züchtete! Peters besaß athletische Kräfte, ritt, schoß, schwamm, boxte! Er konnte viele Nächte ohne Schlaf, Tage ohne Brot ertragen. Er marschierte vierzig Kilometer an einem Tag.
Nur langsam gehn, auf Vordermann trotten, seine Stunde erwarten, konnte er nicht!
Wo sich in den Sattel werfen zum Sturm auf Macht und Wirklichkeit? Städtegründer, Gaucho, Sektenstifter, Schweinezüchter, Insurgentengeneral, Goldgräber, Seeräuber –? Alles war recht und besser als das hier, wo jede englische Gans einen anspuckte, weil man Deutscher, Privat-Paukerchen, doppelter Paria war!
Bis die Mutter ihm zurief »Aus London! Von Onkel Karl! Das ist sicher was Gutes!« und einen Brief durch die Türritze schob.
Peters, schwach von Herzensnot und langem Fasten, stand auf, ging zur Tür. Auf dem Weg sah er sich im 36 Spiegel: ein verwüstetes Gesicht mit kranken, glasig geheulten Augen, Stirn und Lippen blutig.
Dies Bild ekelte ihn. Er haßte Weichlinge, hatte nur Verachtung für Geschlagene und Klagende.
Dann öffnete er den Brief, las ihn einmal durch, reckte die Arme und schrie ein schrilles, höhnisch triumphierendes »Eihh«, Schrei eines Irren.
Onkel Karl Engel in London, Glanz der Familie, der mit Herzögen speiste, ein Palais bewohnte, Diener und Pferde hielt – wollte ihn adoptieren! Seine Frau war nach langer Krankheit gestorben, er alterte kinderlos, fror von Einsamkeit.
Unter seinen Neffen war einer, Carl Peters, der im Anfang seiner Laufbahn stand, mit jeder Tat seines jungen Lebens Geist und Feuer verraten hatte.
Dem öffnete er Herz, Haus, Bankkonto. Seinen Einfluß auf die Großen jenes Landes, in dem man Deutsche sonst für »Natives« hielt!