Balder Olden
Ich bin Ich
Balder Olden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Komm in mein Arbeitszimmer!« bat der alte Herr. Da stand ein gedecktes Tischchen; eine Flasche Wein, tief in Spinngewebe, lag im flachen Weidenkörbchen.

Heilig-ernst besorgte der Butler das Öffnen, ohne den Rüdesheimer aus seinem Korbbett zu bewegen.

Noch wußte Peters nicht, warum die Feier.

Grauer, großkörniger Kaviar im Eisblock, Toast, Butter. Karl Engel war so strahlend heute.

»Weißt du, daß es ein Wunsch – lach nur, Charlie – ein großer Wunsch meines Lebens war, einmal 37 Kaviar mit dem Löffel zu essen? Das gönn' ich mir heute zum erstenmal.«

Peters hatte sich in diesem halben Jahr voll ruhigen Wohllebens an alle guten Dinge gewöhnt: bedient zu werden, Geld auf privatem Bankkonto zu wissen, edle Dinge zu tafeln. Für die Freude seines Onkels an einem gastronomischen Exzeß war er zu jung.

Er liebte solche Tafelstunden mit dem geistig beschwingten, doch stets exakten Onkel, der ihn gelten ließ, nur als Freund behandelte. Der alte Wein strömte warm und mild durchs Blut, man saß weich und sicher, konnte über Begonnenes und zu Beginnendes sprechen. Es sollte eine gute Stunde werden.

Was mochte der alte Herr an heimlichen Freuden erleben, die er so zu feiern dachte? War ihm in geheimes Dunkel einer musikhistorischen Frage plötzlich Licht gefallen? Sammlerglück? Eine Amati zu Spottpreis?

»Gestern hab' ich mich mit Violet ausgesprochen, Charlie.«

Wie von innen bestrahlt war sein großes, von dichtem Haar gerahmtes Haupt. Die blauen Augen hingen in Peters' Augen. Um seine rasierten Lippen hüpfte ein Lächeln, ganz jung, fast überlegen, als ironisierte der Mund sein junges Herz.

Schon ein paarmal, bald nach Peters' Ankunft, als der alte Herr noch arm und müd' war von schweren Schlägen, hatte er zärtlich von Violet Carpenter gesprochen, die »seine Kranke« mild und tapfer gepflegt hatte.

»Bei allem Schrecklichen einer solchen Pflege – immer kleine Dame, immer ein frohes Mädchen.«

»Ich habe sie oft wiedergesehen, ganz heimlich hab' ich sie getroffen . . .« 38

Die Gläser klangen aneinander.

»Du weißt ja schon alles, Charlie. Natürlich bin ich hoch bei Jahren. Aber wenn einer mit Vierundsechzig gesund ist, arbeitet, Sport treibt, Nächte zum Tag macht, ohne bestraft zu werden; ist er dann alt? Zu alt für ein Mädel, das ihm so gefällt, daß er von einem Wiedersehen zum anderen wartet, bebt und komponiert und bis zum Morgendämmern Orgel spielt?«

Peters starrte, ein höflich-heiteres Lächeln um den Mund gefroren, den Bräutigam an, dessen Nase so herrisch wie seine eigene Nase aus dem breiteren Gesicht sprang, dessen volles Haar so gepflegt war, der Augen so voll Licht hatte. Dieser greise Onkel war stärker, rassiger, unbedingt jünger als er selbst. Was er begann, war ernst zu nehmen.

»Schau her, Charlie!«

Der Onkel sprang auf, stand breitbeinig da. »Fühl diesen Biceps! Ist das nicht ein junger Arm? Da, diese Thorax! Charlie, mein Lieber . . . Schlag mit voller Faust auf diese Thorax!«

Er prallte selbst seine Faust auf den Brustkasten, daß es dröhnte . . . »Ich komm nicht ins Wanken und werde nicht atemlos!«

Mit beiden Armen, deren feste Muskeln der Neffe eben geprüft hatte, umschlang er ihn jetzt von oben her, den straffen, kleinen Sportsmann, drückte ihn an diese gewölbte, eben gepriesene Brust.

Dann stießen sie wieder an, in die tiefen Klubsessel zurückgekehrt, leerten bedächtig, liebevoll Flasche um Flasche. Beide lebten stets mäßig, fast als Temperenzler. Heut brauchte der Alte Wein, die Zunge frei zu haben.

»Dir kann ich's sagen, Charlie. Es waren viele Jahre 39 mit meiner Kranken, meiner armen Kranken – seit sie mir keine Frau mehr war! Wir leben hier in London auf dem Präsentierbrett. Ich war der Eingewanderte, Eingeheiratete in der großen Gesellschaft. Für mich gab's das nicht, was man daheim in Deutschland vielleicht gewagt hätte: einen Trost, ein Liebchen, eine Zerstreuung. Nein, für mich gab's das nicht. Meine Kranke hätt' mir's erlaubt und gegönnt. Aber der cant, der englische cant! . . .«

»Dieser Heuchelei hast du dich gebeugt, Onkel?« fragte Peters gedankenlos, nur bedacht, nicht ganz zu schweigen, ein gerade erwartetes Stichwort zu geben.

»Viele Jahre, Charlie! Meine Bücher hab' ich so geschrieben, viele, viele Bände! Als Mönch! Die Musik verführt und spricht vom Lieben. Hier in meinem Arbeitszimmer oder da drinnen auf meinem Feldbett war ich immer zu finden – immer allein!«

Er zog Violets Bild, ein gemaltes, in Gold gefaßtes, kleines Pastell aus der Tasche, liebelte es an, reichte es Peters.

»Schau dir die kleine Tante an, Charlie. Schau sie dir an! Kannst du glauben, daß sie mich gern hat? Ich sag' mir oft: vierundsechzig – einundzwanzig! – Und finde nichts dabei. Ganz, als müßte es so sein. Glücklich bin ich, aber es wundert mich nicht.«

Peters hatte sich gefunden. Endlich machte der Rüdesheimer ihn warm.

»Auf dein Glück! Ich war überrascht. Aber ich war überrascht von einer Freude!«

Dann steigerten sich die Ausdrücke von Wohlwollen, von Liebe, von Seligkeit des Onkels. Die von Dankbarkeit, ganz echter Ergebenheit des Neffen.

»Glaub nicht, Charlie, daß dir ein Weniges nur, ein 40 poor little bit, von meiner Freundschaft genommen wird. Mein Haus, dein Haus. Alle Mittel zu deiner Verfügung, die du für den großen Weg brauchst. Denn du gehst einen großen Weg! Du bist ein Organisator, ein konstruktiver Kopf, der stärkste, den unsere Familie je produziert hat. Bestimmt hat Deutschland seit Bismarck nichts hervorgebracht wie deinen Kopf. Aber du mußt den Dachstubenheroismus nicht beweisen. Die Hungerkür des deutschen Genies brauchst du nicht zu durchlaufen. Wie ein junger Pair von England schwingst du dich hinein in den indischen Zivilservice. Wenn du willst, vielleicht, bist du in ein paar Jahren der jüngste Viceroy von Indien, den England je ernannt hat. Deine Begabung, deine wütige Energie, deine Intuition, mein Junge! Und dazu meine Konnektionen. Als hätt' ich diese fünfunddreißig Jahre London nur gelebt, um dir ein Fundament zu sein!«

»Du braver Alter, Goldkerl von einem Onkel!«

»Mich haben sie nicht gerade herzlich aufgenommen, die Pagets, Chamberlains, die Bowmans. Ein junger deutscher Musikant plötzlich brother in law bei all den großen, feinen, alten Familien! Aber aufnehmen mußten sie mich, da ich einmal Schwager war. Fünfunddreißig Jahre lang hab' ich dann nie etwas gewollt vom high life, dieser Nobelsippe. Ich, ein Künstler, Musikforscher – was sollte ich wollen? Daß die Queen meine Konzerte besuchte, mich einlud, im Schloß spielen ließ – nun ja, sie verstand Musik, und dafür war ich dankbar. Daß ich beim Kensingtonmuseum helfen durfte –. Wer sollte es gerade in meinem Fach tun? Das waren keine Gnaden und nicht als Gnade gedacht. Wenn der Prince of Wales mich fragt: ›Hallo, Engel, what can I do for you?‹ kann ich jedesmal nur antworten: 41if you had got a nice cigaret, Sir!‹ Mehr als eine Zigarette hat er mir nicht zu geben.«

»Du bist Künstler, Onkel. Das sind die Großen, Freien, Herrschenden!«

»Ach, blooming nonsense, mein Junge. Blühender Unsinn ab heute. In ein paar Jahren werd ich ihm sagen: ›Hier ist mein Neffe, Sir. Dem die Steigbügel, dem ein Wort auf seinen Weg, das können Sie für mich tun, Sir! Er ist ein sehr junger Engländer, aber ein guter Engländer. Und was Sie für ihn tun, das tun Sie für England.‹«

»Nie das sagen, Onkel! Keinen Schritt von deiner Linie!«

»Ich bin ein redlicher Bursche, Charlie. Wenn ich dich nicht wirklich liebte wie einen Sohn, würde ich offen sagen: geh du deinen Weg! Du sollst drüben in Deutschland marschieren, wo du geboren bist. Schlag die Trommel und fürchte dich nicht und küsse die Marketenderin! Am Geld soll nichts scheitern. Ich aber, ich hab' eine junge Braut und fang mit vierundsechzig Jahren das Leben neu an!«

Seine Stimme kam ins Wanken. Viel zu beherrscht, um – trotz vielem Rüdesheimer – in Tränen auszubrechen, erstickte er doch in der mächtigen Brust ein Kämpfen und Atemholen, das wie unterirdisches Weinen war. Ganz in die Faust gepreßt hielt Karl Engel jetzt die Miniatur, verbarg sich selbst die Züge seines Mädels. Aber er starrte diese geschlossene Faust an, als strahlte ihm durch Finger und Ringe ihr Kindergesicht.

Vorsichtig hatte der Butler Flaschen und Gläser entfernt, servierte schwarzen Kaffee, Mineralwasser, kleine Medizinperlen, die hurtig Alkoholdämpfe teilen und vor Haarweh schützen. 42

Eben noch hatte Peters sich mitgefreut. Eben noch sein Herz freimachen wollen mit immer neuen Versicherungen: daß er kein Ballast sein wollte im Boot des alten Herrn. Daß er froh sei, ihm das Trauerjahr erleichtert zu haben, und gern, dankbar, bereichert in die alte Wegspur zurücklenkte.

Da fiel das Wort: »Und fang mit vierundsechzig Jahren mein Leben neu an!«

So war es! Er fing an Peters vorbei ein neues Leben an! Das »wenn«, mit dem er seinen Satz begonnen hatte, – conditio irrationalis lallte, beruhigend, ein vergessener Schulmeister aus Peters' Erinnerung – dies »wenn« galt nicht! Hier, endlich einmal, sprach Wahrheit aus dem Wein! So geschah es, vor dieser Tatsache stand man! »Ein neues Leben an . . .«

Er, Peters, war da, bei Wein und fröhlichen Worten, in einer bärenherzlichen Umarmung, unter Tränen der Liebe, – hinausgeworfen! Aus der Rolle des Erben und Fortsetzers zum foreign nephew, dem fremden Neffen, – so nannte man ihn stets in London – zum Stipendiaten degradiert.

Nie sollte er dieser Maud Louistone seinen Fuß in den Nacken setzen, ihrer hochmütigen Sippschaft nicht als stolzer Prätendent begegnen. Plötzlich war er wieder, was er in Hannover gewesen.

Vizekönig von Indien? Das wurde vielleicht der Säugling, den eine Violet ihrem grauhaarigen Jüngling von Ehegatten ins Bett warf. Er, Peters, war und blieb: Privatpaukerchen zu Hannover oder zu Dingelding am Dingsfluß.

Grausam rasch wirkten bei ihm die Ernüchterungsmittel des Kammerdieners. So rasch, daß er aus sentimentalem Rausch in kantig-böse Wahrheit hineinstürzte 43 wie ein glückseliger Schläfer, der aus dem Bett fällt.

Heucheln war seine Sache nicht. Er konnte höchstens lügen und tat auch das mit schwerem Mißbehagen. Tausendmal lieber renommierte er mit einer Untat, einem schändlichen Gedanken, einer gutmenschlichen Niedertracht, als daß er versteckte.

Und so kam die Antwort schonungslos, mit aller Schärfe in die kosigen Träume hinein.

»Sagst du's nicht doch, Onkel? Daß du ein neues Leben anfängst?«

Karl Engel schwamm noch in seinen Wolken.

»Nein, bei Gott nein, Charlie! Neben mir wird Violet sein. Aber in deiner Hand meine Hand. So wahr ich ein ehrlicher Bursche bin. Sie wird mich froh machen. Aber mein Stolz, Charlie, mein großer Stolz bist du! Sie wird mir keinen Sohn mehr schenken. Du bleibst mein einziger Sohn!«

»Und doch – geh' ich nach Deutschland zurück!«

In Peters' Stimme war wieder das harte Schnarren aus allen bösesten Stunden seines Lebens.

»Aber warum? . . . Warum, Charlie?«

»Darf ich offen sein? Natürlich darf ich, du würdest eine Lüge nicht verzeihn.«

Es zitterte ein wenig um Engels schönen, festen Mund.

»Was ist denn, Charlie?«

Karl Engel nahm, sich zu beruhigen, ein Glas Mineralwasser in die Hand. Dann warf er es an die Mauer und grollte auf.

»Willst du die Luftschlösser zusammenschmeißen, die ich für dich gebaut hab?«

»Das tust du selbst, Onkel.« 44

»Das tu ich nicht!«

»Als deine gütige Einladung nach London kam . . .«

»Seither hat nichts sich verändert!«

»Seither hast du dich verlobt . . .«

»Das schert dich nichts, das benachteiligt dich nicht!«

»Das verändert deine Position.«

»Meine? . . . Meine Position? . . . Die ist in Jahrzehnten gezimmert! An die rührt keiner!«

»Verzeih mir, Onkel. Wenn du dich erregst! . . . Wir brechen besser ab. Ich will dich nicht beeinflussen. Ich will nur begründen, was ich mit mir zu tun gedenke.«

Engel fuhr sich über die Stirn, als hätte er Schleier fortzuwischen. Endlich lachte sein Gesicht wieder, aber ein armes Lachen.

»Ihr Akrobaten der Logik von der deutschen Universität! Ein Dr. phil., in Berlin preisgekrönt. Wie soll ich alter Musikant eure Sprache verstehn?«

Die Flaschen edelster Kreszenz, vor Jahrzehnten abgezogen, in Jahrzehnten nie bewegt, nie belichtet, nie im heiligen Gedeihen ihrer Süße gestört, waren vergessen und nutzlos verronnen. Peters war böse und entschlossen, wie man nur am Grab einer Illusion werden kann.

Der Alte sprach wieder freundlich, aber irritiert und in Angst. Von den scharfen Lippen, aus dem in Logik exerzierten, kalten Hirn seines Neffen würde ein Schlag kommen, der seine Freuden vernichtete!

»Weil es etwas anderes ist, Onkel Karl, ein Schwager der Pagets, Bowmans, Chamberlains zu sein oder der Carpenters. Deshalb. Weil ein großer Künstler, Kunstgelehrter und Witwer ein anderer ist, als ein alternder Herr im grünen Kranz der Brautschaft. Weil hier der cant herrscht, wie du sagtest, der diese Ehe mit 45 einer nurse als eine Witwertollheit und Eskapade aus dem high life empfinden wird. Der Prince of Wales wird dich nicht mehr fragen: »what can I do for you?«, und so wirst du ihm nichts antworten können . . . Er wird lächeln, »oh, poor old Engel, married again? Wer ist die Kleine? Soso, Miß Carpenter?«

»Charlie! Dies Mädchen! Anmutig, bescheiden, gebildet.«

»Ich weiß, Onkel. Nehme wenigstens an.«

»Das sollen sie mir verdenken?«

»Ich bin ein Kind in London. Du kennst es, Onkel. Was du mir gesagt hast . . . Frag dich selbst!«

»Und wenn . . . Sei offen, Charlie. Ich denk an meine Kranke, meine Standhafte! Bin ich's ihr schuldig, dies Glück zu verschmähen? Sag mir's, Charlie. Denk, daß ich verliebt bin, wie du es sein könntest. Wie ein Kadett, sagt Ihr da drüben. Daß ich Herzklopfen hab, wenn sie an die Tür pocht. Daß meine Hände, meine Finger, glücklich werden, wenn ich ihr Haar berühre. Ich kann noch dreißig Jahre leben, soll ich für dreißig Jahre ohne Weib sein? Ich tu's nur, wenn ich's ihr schuldig bin.«

»Das stand nicht zur Diskussion, Onkel Karl. Ich glaube nur, ich tue besser, auf die Pläne in England zu verzichten. Von der Sekunda an auf eigenen Füßen! Ich kann auf eignen Füßen weitergehn.«

Nachdem sie lange nichts gesprochen hatten, fing Engel traurig, verschleiert wieder an.

»Du wirst sie kennenlernen. Sie bezaubert. Du wirst alles begreifen. Aber wenn du wirklich glaubst, dies Mädchen, das von alledem noch gar nichts weiß, als daß ich sie liebe, nichts von meinen Heiratsplänen, – wenn du wirklich glaubst, sie stört die Zukunft, die ich dir 46 bauen wollte . . . Du wirst nicht böse auf sie sein, Charlie?«

 

Violet ging behutsam durch das große, noble, alte Haus, in dem ihr bestimmt war, Herrin zu werden.

Erlaubte man sich in diesem feierlichen Saal, Karl Engels Arbeitszimmer und Museum, ein helles Lachen, dann sang es aus der Orgel, weinte es aus dem Klavier, vibrierte das Lachen noch und immer noch aus den Violinen, allen Saitenspielen rings an den Wänden. Ein müdes, kleines Spinett kicherte das Lachen nach, ein bißchen spitz und vielleicht höhnisch.

Fiel irgendwo im Haus eine Tür heftig zu, – es passierte manchmal bei dem foreign nephew, dem jungen Doktor, dessen Stieftante Violet werden sollte; oder erhob er seine harte, leicht schnarrende Stimme – dann dröhnten all die tausend Saiten und wollten nicht ruhig werden.

Freilich, meist saß Violet hier neben dem alten Herrn, ihrem Bräutigam, gestreichelt von seiner guten tiefen Stimme und geborgen im Schutz seines großen, herrschenden Wesens; dann war dies Hallen und Schweben der Instrumente tief wohltuend; so schön und eins mit Karl Engel, daß es schien, all diese Musik käme aus seiner Brust, wäre das Tönen seines großen Herzens. Oft spielte Karl Engel nur für sie; der Raum war noch zu klein für das ungeheure Rauschen seiner Orgel, die immer in ihr Blut dröhnte, aufweckend, hinreißend und entführend.

Lange, dunkle Korridore führten durch das Haus, die Violet nur ungern durchschritt. Viele, viele Zimmer gab es, die sie nicht betrat.

Der Reichtum dieser Vorratskammern, 47 Kupferfunkeln der Küche, kalte Pracht der Empfangszimmer machten sie scheu und taten weh, seit alles ihr gehören sollte. War es nicht Mrs. Engels Eigentum gewesen? Durfte man das tun: erben? Alles, das Herz des Mannes, den Namen Mrs. Engel, das Haus 54 Addison Road? Aussicht auf den Hollandpark und seine Luft, Maienluft mit Jasmin und Flieder, die ihr gehört hatten?

Es war vieles erschreckend und drohend in diesem Haus. Hier hatte es gespukt, sagten die alten Dienstboten. Es hatte gespukt, das ganze Viertel wußte es, bis Karl Engel hier einzog mit seiner Orgel, seinem Flügel, Violinen und Saitenspiel. Erst als Musik von solcher Gewalt Himmelschöre dröhnend gegen die alten Mauern schlug, hatte kein Spuk sich mehr gezeigt. »Der Herr hat sein Haus zur Kirche gemacht.«

Das gab Violet Festigkeit. Da er sie gerufen hatte, dem kein Spuk widerstand, konnte sie hier kein Eindringling sein; daß sie hier leben, wünschen, regieren würde, war kein Verrat an der seligen Mrs. Engel, die sie, das arme Kind, ihre kleine scheue Pflegerin, auf dem Sterbebett gestreichelt hatte.

Woher aber dies Ängsten und Drohen?

Der alte Butler war gütig-achtungsvoll, und seine Sympathie bestimmte auch den Sinn der ergrauten Köchin, die seine Frau war, des Gärtners, der beiden Mädchen. Sie zeigten freundliche Gesichter, wenn Violet klein und schüchtern das große Portal durchschritt, ganz rasch, ganz ordentlich ihr Mäntelchen, ihr Hütchen ablegte und aufhing, ein bißchen in den Spiegel sah, an ihrem Gesicht herumpuderte, das blonde Haar glatt bürstete; und dann durch die Halle, über schwere Läufer, am Eichengeländer der Treppe hin zum Arbeitszimmer 48 Mr. Engels zagte. Mit armen Schrittchen, den Kopf geduckt wie eine Schwalbe.

Fürchtete sie sich vor dem »fremden Neffen«? Der lachte sie freundlich an, und wenn er sie zu melden hatte, hieß es »Onkel Karl, die kleine Madonna!«

Er war aber selten zu Hause, der fremde Neffe.

Frühmorgens ritt er im Hydepark, frühstückte später im Klub und debattierte mit jungen Engländern der hohen Klasse über Politik, von der er grausam viel verstand. Bis in die späte Nacht studierte er. Erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber der große Onkel sprach mit seltsam tiefem Respekt von ihm. Wie sein Neffe in ein paar Monaten London, die Sprache, Sitten, das Wesen der Engländer erfaßt hätte, daß sie ihn fast schon als einen der ihren behandeln mußten. Was er als Wissenschaftler schon geleistet. Eine goldene Medaille besaß er, die mehr galt als alle Examina, die er auch gemacht. Daß er stark war, der kleine Kerl, den Kanal überschwimmen könnte! – Sicher gehörte er zu den besten Schwimmern Europas.

»Du mußt immer gut zu ihm stehn, Violet«, sagte der Bräutigam, den sie in ihren Gedanken immer noch Mr. Engel nannte, am liebsten Onkel Karl genannt hätte, wie der foreign nephew.

»Er versteht die Wirklichkeit, bricht jeden Widerstand. Wenn er dich lieb hat – und ich einmal tot bin – schützt er dich gegen jede Macht.«

So groß er war, dessen Namen sie tragen sollte, – war der Neffe bei ihm, dann bekam er etwas Befangenes. Oder täuschte sich Violet? Die beiden sprachen oft deutsch in ihrer Gegenwart, vielleicht, daß sie alles mißverstand?

Dann hatte Carl Peters sich beim Reiten verletzt und 49 brachte ein paar Tage ganz im Hause zu. Er hatte sicher Schmerzen zu leiden – eine gezerrte Sehne ist darin schlimmer als ein Bruch. Aber als das Schlimmste der ersten vierundzwanzig Stunden vorüber war, lachte er sich selbst aus, seine Sonntagsreiterei, sein Wehwehchen, das alle so ernst nahmen.

Zwischen Onkel Karl und dem Butler, an beider Schultern baumelnd, kam er die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer. Violet, die sonst zaghaft auftrat, bekam flinke, energische Beine. Sie war ja geschulte nurse. Da gab's was zu tun, was sie verstand. Kissen wurden zusammengetragen, der kranke Fuß hochgebettet, Lichter verteilt, daß keines ihn blendete, sein Gesicht aber doch bestrahlt war.

Dann musizierte Karl Engel. Violet verschwand in einem tiefen, gepolsterten Lehnstuhl. Sie zog die Füße auf den Sitz herauf, duckte sich zusammen und war jetzt ganz wie ein Vogel im Nest. Man konnte sie nicht sehn, sie hatte den dunkelsten Platz gewählt. Aber sie konnte ganz unbeachtet beobachten.

Wie stark und tapfer war die Stirn Mr. Engels! Er saß am Flügel, spielte Beethoven, ohne Noten anzuschauen, ohne auf die Tasten zu blicken. Ganz frei und hoch war sein Haupt gereckt, die Augen schauten so gut und fest ins Dunkel hinein, wo die kleine Violet sich verborgen hielt. Dieser Sturm von gewaltigen Tönen, der unter seinen Fingern entsprang, rauschte ihr zu, umbrandete sie und galt nur ihr.

War er nicht schön? Sein Mund besonders, um den alles so heiter war. Die glattrasierten Lippen hatten vielleicht nicht einmal harte Worte gesprochen. Die Backenbärtchen an seinen Wangen schimmerten weiß, machten aber dies große, tief belebte Gesicht nicht alt. 50 Das Haupthaar war noch ganz dunkel und ein wenig gelockt. Violet verstand nicht, warum sie den Kopf, den Schädel ihres Bräutigams am schönsten fand. Seine Stirn war hochgewölbt durch ein langes Leben im Geiste und in der Musik. Geist und Kämpfen um hohe Güter hatten auch nach hinten den Schädel gebuchtet, daß er wie etwas Kolossales, wie ein Monument auf dem kraftvollen Hals lag. Das fühlte sie dunkel, daß hier ein Mensch war, der sich selbst das Haus für edle Gedanken erbaut hatte.

»Karl?« dachte sie »Herz, Liebster?«

So ging es nicht, sie mußte denken »Mister Engel!«

Aber dann, wenn sie sich so zu ihm stellte, wie sie es immer getan, die kleine nurse Violet zum Herrn des Hauses, in dem sie diente, – dann schossen ihr Tränen empor aus großer Zärtlichkeit. Sie hätte nicht gewagt, ihn zu küssen, bot ihm nur Stirn, Wange, Mund – ganz wie er sich an ihr freuen wollte. Aber seine Hand küßte sie gern, die so schwer war, auf deren Rücken ein Astwerk blauer Adern lag.

Nach der Hochzeit, in wenig Monaten schon, würde sie in einem breiten, feierlichen Haus von Bett, das sie manchmal ängstlich betrachtete, neben ihm schlafen –. Es war niedrig, braun poliert, Kopf- und Fußwand verliefen in schön geschwungenen Bogen. Sie würde ganz verschwinden in diesem großen Bett, sie würde noch kleiner sein neben diesem großen, gewaltigen Herrn, und ihr Kopf mit dem Scheitel wird gar nicht da sein auf dem Kopfkissen, wenn sein riesiges Haupt darauf ruht.

Wenn er einen Wunsch hatte, würde sie mit nackten Füßen aufspringen; im Nachthemd, mit nackten Armen, aber sich immer ein bißchen vor ihm schämen.

Wenn er befahl, würde sie ihre nackten Arme um 51 seinen guten Hals legen und ihr Gesicht an seine Brust. Dabei würde ihr wohl sein, das wußte sie. Aber weiter zu denken, wagte sie nicht. Dann kam Furcht und Ehrfurcht über sie, schrecklich gepaart die beiden Fürchte. Dann war ihr grausam bewußt, daß sie in einem ganz dünnen Hemdchen, fast nackt, unter einer Decke mit ihm liegen sollte.

Aber wer solche Musik macht, wer so mit freier Stirn und froh ins Dunkel hineinspielt, der konnte nie grausam und niemals schrecklich sein! Mehr dachte sie nicht! Und dort drüben, der fremde Neffe, vor dem sie in Angst und fast auch in Ehrfurcht gehalten war, obgleich er nur wenig Jahre mehr als sie zählte? Obgleich er, als Mann, mit seinen Vierundzwanzig eigentlich an der Schwelle des Lebens stand wie sie mit ihren Einundzwanzig? Sein Gesicht war schmal, ein langer, dünner, gedrechselter Schnurrbart zerschnitt es und versteckte den Mund, der gewiß sehr kalte und schmale Lippen hatte. Wieviel schöner der freie, gute Mund Mr. Engels! An des Doktors schwarzgerändertem Zwicker – der auch wieder verbarg, die Augen verbarg, die Mr. Engel so weit und freudig aufschlug – hing eine schwarze Schnur. Das alles war so künstlich und gerüstet! Seine Stirn freilich mußte man gernhaben. Sie war schmaler, aber fast noch stärker gewölbt als die andere Männerstirn dort drüben. Das wußte Violet von Mr. Engel, daß riesige Arbeit unter dieser jungen Stirn geleistet wurde, und daß man einen Mann schön finden muß, wenn auf seinem Gesicht Wollen und Wissen liegt.

Die Schultern Carl Peters' waren breit, als seien sie bestimmt, Lasten zu tragen. Aber seine Hände hatten schmale, spitze Finger und schmale Rücken; das waren keine Arbeiterhände. 52

In diese Hände verlor sie sich jetzt, während die letzten Takte der Eroica aufbrausten. Von diesen Händen war alles zu erwarten: Liebkosung und Schläge, sogar der furchtbare, rasche Griff an eine Kehle, der alles Leben löscht. Jetzt lagen sie matt und untätig. Aber wenn Peters sprach, schnellten die Finger manchmal empor, als schwirrten sie Einfälle, oder sie schlossen sich zu einer kleinen, kantigen Faust, sicher hart wie Granit.

Peters hatte gefühlt, daß Violet ihn betrachtete. Jetzt schauten auch seine Augen zu ihrem dunklen Nest hinüber. Er konnte ja nichts sehn, nur ein Stückchen ihres blonden Scheitels. Und außer seinen Blicken lagen auf ihr die schützenden Mr. Engels.

Trotzdem sehnte sie die letzten Töne herbei; gleich wollte sie alle Lichter aufflammen lassen, wenn das Spiel zu Ende war. Sie konnte es ja nicht ertragen, daß der fremde Neffe sie so im Auge hielt; durch die Polsterkissen ihres Verstecks hindurch sie sah und von ihr dachte, was er denken mochte.

Mr. Engel wollte sie dienen, den hatte sie lieb. Aber Mr. Peters mußte sie gehorchen aus Angst. Nicht, daß es hier einmal gespukt hatte, jetzt wußte sie alles, machte sie befangen in diesem Hause. Sondern der da, mit dem verhängten Mund und verborgenen Augen, drohte!

Sie wollte sich nicht fürchten. Sie wollte ihm Wohlwollen und Gutsein abdienen, abbetteln sogar, wollte sich ihm gegenüber nicht einbilden, daß sie Herrin wurde. Hier war sie nurse gewesen. Das würde sie bleiben, so lang Carl Peters in diesem Hause war. Die Hände immer in Bewegung für ihn, immer auf den Füßen für ihn, daß er nicht mehr dazu kam, so mit einem Blick auf sie niederzustoßen! 53

Jetzt legte sie beide Hände vor ihr Gesicht, kroch noch mehr in sich zusammen, in ihrer tiefen, kleinen Festung.

Schöne Frühlingstage, von Gott gemacht, waren vergangen. Violet hatte neben Mr. Engel in Jasmin und Flieder geschwelgt, drüben im Hollandpark, Vollmond und Frühling zugleich erlebt, und die vollen Lippen des alten Bräutigams hatten ihrem Mund nicht weh getan. Nein, es hatte nicht weh getan, so zärtlich geküßt zu werden.

»Nur: nicht weh?« fragte sich Violet.

Doch, mehr, mehr! Sein schönes Haus war nicht das Gute, das Feste ihrer Zukunft. Auch nicht dieser früher so erhabene Name »Mrs. Engel«; nicht das viele Geld, von dem alle Carpenters sprachen. Sondern Mr. Engel war selbst wie ein lieber Gott in ihrem Leben, ein zärtlicher lieber Gott, dem seine Zärtlichkeit nichts von seiner Herrlichkeit nahm. Es war doch gut, von ihm geküßt zu werden. Auch auf den Mund.

 

Mehr und mehr wurde Violet, fast gegen seinen und Mr. Engels Willen, Peters' Pflegerin. Es war ihr so natürlich, da er krank war.

Man sprach jetzt viel von Trennung und Reisen. Onkel und Neffe wollten zusammen über den Kanal fahren, um die alte Frau zu besuchen, Peters' Mutter.

Dann hatte Peters seine eigenen Pläne in Deutschland, die Onkel Karl nicht billigte, aber denen er nicht widerstand. Kein Civilservice, kein Indien – sein Neffe würde nie als Vizekönig in Kalkutta und Simla thronen. Mit einer guten Rente ausgestattet, würde er sein Schopenhauerwerk herausgeben, als Habilitationsschrift irgendwo einreichen, wo gerade ein alter Professor 54 der Philosophie gestorben oder ein junger Dozent verdorben war.

»Solcher Nonsens!« sagte Onkel Karl. »Professor in Tübingen oder Marburg! Mit diesem Kopf! Mit dieser Zähigkeit! Mit dieser Kraft!«

Aber Peters hatte gesprochen. In jener Stunde, auf die sie nie zurückkamen, aber deren sie immer dachten. Er war nicht der Mann, sich zu beugen, vor Macht so wenig wie vor Güte.

Seither wußte Karl Engel, daß er die Wahl hatte zwischen ihm und Violet.

Carl Peters lassen?

Er litt daran, seine große Hoffnung, seinen Stolz zu verlieren. Carl Peters nicht mehr um sich haben! Es hieß auch Einsamkeit. Einen Sohn braucht der Mann von sechzig. Ein Sohn trägt die neuen Ideen von draußen herein, schafft Umwelt und Jugend ins Hans, setzt fort, was man sich erlebt, erwollt hat.

Das Mädchen lassen?

So ein Mädchen ist weich wie ein ganz junges Tier und gibt süße Zärtlichkeit, die man zur Musik braucht. Es fühlt sich an wie eine besonnte Frucht, man wird ganz glücklich, wenn man hinstreicht über so warme Glieder. Ihre Zärtlichkeit ist neu, hat noch keinem gehört. Und in ein paar Monaten nach der Hochzeit, – vielleicht, daß er selbst wieder jung wurde, so jung wie vor zwanzig Jahren, als man ihn, den Vierundvierzigjährigen, »young Engel« nannte!

Charlie zog die Konsequenz – man kann von einem Menschen, den man seiner Beharrlichkeit willen liebt und achtet, kein Nachgeben fordern.

»Je älter, um so unlösbarer die Probleme« klagte Karl Engel. 55

»Vielleicht hast du furchtbar recht, Junge, daß du nicht auf mich hörst. Jugend ist weiser als Alter, gerade, weil sie Tatsächlichkeiten übersieht. Instinkt ist tausendmal mehr als Erfahrung.«

Als das Kofferpacken ganz nahe war, dachte Engel trotzdem: nein! Er schwankte und litt.

Konnte Violet nicht die Abisag seiner Davidjahre werden, auch als Miß Carpenter, auch wenn Carl als Prätendent im Hause thronte? Oder würde ihre kristallene Reinheit dies Kompromiß ausschlagen?

Gut, dann kappte er die jungen Stauden, lebte wieder, wie er gelebt hatte durch viele Jahre: als Mönch, Gott erbarm dich, als frierender Mönch.

Aber sein Wort?

Wohl hatte er von seiner allzu jungen Braut nur Küsse genommen. Aber brach er sein Wort, dann waren es erschwindelte Küsse und gestohlene Zärtlichkeiten. Oh, viel mehr. Dann hatte er eine brave, nichts verlangende, kleine Krankenschwester aus ihrer Bahn gelockt, mit Luxus geblendet, vor den Ihren gedemütigt.

Er tat's nicht! Vielleicht würde sie ihn nicht nur »liebhaben«, wenn er sie weich und weise zu seiner Frau gemacht. Bedeutet der erste Mann einer Frau nicht alles? Es durchfuhr den alten Künstler mit Gluten, wenn er daran dachte: nicht nur Violets Glück, ihre Leidenschaft und Erfüllung zu werden!

Darüber wurde gepackt. Darüber geschah es, daß Violet den hinkenden Peters zum letztenmal als Pflegerin in sein Zimmer führte, ein wenig traurig, daß wieder einmal etwas aufhörte, das gewesen und in Bitternis schön gewesen. Heimlich beglückt, daß er fortging und die schwerste Angst ihres Lebens von ihr nahm.

»Werden Sie manchmal an ihre kleine Tante-nurse 56 denken, Mr. Charlie?« fragte Violet bettelnd, während sie zusammentrug und bastelte, was er für die Nacht gewöhnt war. Sie hatte ihm viele Bedürfnisse angepflegt. Peters sah das Kind mit seinem blonden Scheitel und den so blauen Augen. Waren sie nicht ein bißchen zu blau und zu kindlich, um echt zu sein?

Zum erstenmal erwog er, daß alles Komödie sein könnte, diese Dienstbarkeit, dies Unschuldigsein.

Hatte sie ihn nicht verstohlen angestarrt, wenn der Onkel musizierte? Hin und her waren ihre Blicke gegangen, hatten gewogen, verglichen.

Waren das nicht, zum Teufel, Avancen gewesen? Warum dies ewige Stützen und Helfen und Begleiten, Holen, Mit-Sorgfalt-umgeben?

»Armer alter Onkel!« dachte Peters.

 

»Don't Don't!« hatte sie geweint. So rasch konnte sie nicht glauben, daß der fremde Neffe, Heiligtum im Hause, Respektsperson für sie, kalt und unnahbar für ihr Empfinden, plötzlich Tier und Verbrecher wurde.

Plötzlich. – Denn es waren kaum fünf, gewiß nicht zehn Minuten später, daß sie hinausgestoßen wurde, eine ganz andere Person, feig, hassend, verbuhlt, zu jedem Menschen ihres Daseins in einem neuen, scheußlich neuen Verhältnis.

Wissend, die Mutter hassend, Karl Engel verachtend, selbst nicht mehr klein sondern verachtet, in einem Atemzug genommen und vor die Tür gesetzt! Ein stolzes, demütiges Kind war sie gewesen, jetzt heulte sie auf Knien vor einer verschlossenen Kammer.

Drinnen stand Peters, sah im Spiegel sein entstelltes Gesicht, fühlte seine Kainshände zittern. Tobte diese 57 Minuten seiner Untat noch einmal durch, fragte sich und bespie sich und wußte endlich nur eins: Ich bin Ich.

Was ihn beherrscht hatte und hingerissen, ahnte er nicht, stand selbst vor Unfaßbarem, Geschehenem. War es nur diese Gewohnheit, Liebliches an sich zu zwingen, um es zu vernichten? Nur weil er sich selbst bestätigt fand, wenn er mit einem entsetzlichen Griff Widerstand brach, wenn sein furchtbarer Blick sogar den Notschrei einer Gepeinigten erstickte?

Oder hatte er eine Heuchlerin entlarven, den alten Gent vor Enttäuschung schützen wollen?

War er wirklich so niedrig, daß er Rache nahm, weil dem Onkel sein tüchtiges Wollen, sein Eifer, Eingehen auf alle Pläne nichts mehr galt neben dem Lächeln dieser zierlichen Hexe? Hatte er Maud Louistone in ihr strafen wollen, die sich vor Lachen geschüttelt hatte über den Privatlehrer? Weil auch Violet jetzt eine große, englische Dame werden sollte, die einmal über ihn lachen könnte?

Er hatte nichts gewußt und nichts gedacht, als er Violet an sich riß. Sie war ihm zu nah gekommen, er hatte Feuer im Leib, seine Flammen hatten das Mädel gepackt.

Nichts lag an dem Mädel! Das war ein junges Stückchen Fleisch, das gab es in Masse. Aber Stolz und Gewißheit des alten Karl?

Den betrügen? Nein! Das war ein Mann, einer von den wichtigen, ein guter! Wenn seine Freude kaputt oder Lüge war, dann mußte er's tragen. Aber Anspruch auf Wahrheit hatte er. Violets gab's in Fülle. Nie wieder einen Karl Engel!

So tat sich die Tür auf: 58

»Weh dir, Violet, wenn du heiratest, ohne die Wahrheit zu sagen!«

Und knallte ins Schloß.

Das Kind, das arme Kind wollte hinunter, anklagen, gestehen. Aber es huschte vorbei an der Tür zum Arbeitszimmer, aus dem wieder, und als sollte es ewig so sein, die ungeheure Macht der Orgel dröhnte.

Ihr war das Häßliche widerfahren. Sie war getreten. Sie durfte nicht das Aufatmen und Zu-Gott-sprechen eines höheren, hohen Menschen stören. Davor hatte sie Angst.

Wie beschmutzt sie in ihr Mäntelchen kroch, das Hütchen aufstülpte.

Wie sie die kleinen Röcke hochnahm, als es über die Straße ging, voll Pferdeschmutz und Gemeinheit.

Zu Fuß, nur zu Fuß!

Sie wagte sich nicht in das Blickbild eines Omnibus-Schaffners.

Quer durch den Park mit gerafften Kleidern, die Beine schwach, Lippen verzittert, und weiter, zu Fuß, durchs Zentrum, in den Osten der Stadt! Irgendwo stand ein Bett, in dem man jammern durfte.

Peters, Mörder, Tier!

Er hatte sie rausgeworfen.

Alles tat ihr weh, die ganze Violet. In Schmerzen, verstoßen, verkommen. Ihr Herz weinte um Mr. Engel. Arme, kleine Violet, dachte sie von sich selbst und flennte vor sich hin, »arme, arme . . .« 59

 


 << zurück weiter >>