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Peters war Sekundaner, als sein Vater starb. Der Sohn eines Dorfpfarrers war im noblen Ilfeld nicht viel gewesen unter all den feinen Buben, den Grafen, Prinzen und Ministersöhnen. Aber jetzt war Peters ganz arm und paßte nicht mehr ins Alumnat Ilfeld.
Er hatte viele Tage lang um seinen Vater geweint. Als dann besprochen wurde: wohin mit dem Jungen? Postfach? Zoll?, trocknete er seine Augen.
»Ich bleib' in Ilfeld.«
Damit hatte er sich auf eigene Füße gestellt.
Er gab Privatstunden, heimlich, am frühen Morgen.
Aber es sprach sich herum.
Ein Oberprimaner ulkte ihn zwischen zwei Klassen an:
»Na, Privat-Paukerchen?«
Auf dem Turnplatz stellte Peters den Gesellen, der groß und breit war und drei Jahre älter. Peters war dünn wie eine Latte. Sein schmales, langes Gesicht war nicht mädchenhaft, dazu lag die Stirn zu hoch, war viel zu gewölbt von Nächten, in denen er Dramen gedichtet, Shakespeare vor sich hin rezitiert hatte; aber es war noch ganz weich. Das Männergesicht eines Kindes.
»Graf Holthaus, Sie haben mich heute . . .«
»Dummer Bengel«, sagte der mit dem Schwammgesicht und den zwinkernden Augen. »Man wird doch einen Spaß machen dürfen.« 8
Da fuhr Peters ihn an wie ein Polizeihund. Er mußte einen Sprung tun, den großen Kerl im Untergriff zu erwischen. Holthaus aber bekam einen Arm zwischen seinen Bauch und Peters' Brust, so daß der Griff nicht sehr gefährlich war. Ohne Erregung zog er aus, um dem Kleinen eine Maulschelle zu kleben. Aber da kam's aus Peters heraus, Toben und Bellen wie aus einem Motor.
Seinen Kopf schützte er vor dieser schrecklichen, brutalen Ohrfeige – die ihn erniedrigt hätte, selbstmordreif gemacht – in der Achselhöhle des Gegners. Auf den Hinterkopf durfte man schlagen wie auf kalt Eisen. Das brachte keine Schande.
Die Ilfelder standen im Kreis.
»Wer hat angefangen?«
»Peters.«
»Der Kleine? . . .«
Und dann, ohne Beinstellen, nur durch Werfen, fachrichtiges Schleudern seiner fünfundvierzig Kilo Gewicht, überlegene Ringerkunst glückte es ihm, daß er den lächelnden Holthaus plötzlich ums Gleichgewicht brachte. Der dachte noch, alles sei komisch, da lag er mit seiner Masse auf dem eigenen rechten Arm, fühlte den linken Arm so gefesselt, daß er ihn durch Abwehr gebrochen hätte. Und Carlchens wutweißes Gesicht, seine bebende rechte Hand über sich.
»Jetzt könnt' ich Sie maulschellen, Graf Holthaus, nach Herzenslust.«
Dann gab Peters den Gegner frei und stand auf.
»Soviel für das Privat . . .«
Es gab bald darauf Wahlen zum »Kommers«, der aus elf alten Schülern bestehenden Selbstverwaltung. Peters agitierte für die »rote« Partei der Bürgerlichen. 9
Er sprach wie Demosthenes und hetzte wie Catilina. Daß er ein armer, verwaister Knabe war, der sich die Groschen selbst verdiente, galt nicht mehr, seit er den großen Holthaus angegriffen und besiegt hatte.
Als Sekundaner war Peters noch nicht wählbar. Aber er brachte seine Partei zum Sieg und machte zum Präsidenten des »Kommers« den Oberprimaner Hartung. Besiegt waren die »Weißen«, die vom hohen Adel. Zerrissen, durch Peters' Agitation, die Mittelpartei der »Blauen«.
So herrschte zu Ilfeld, Herbst 1873, der kleine Peters über alle Schüler.
Peters hatte einen schwarzen Vollbart und war Primaner, Präsident des »Kommers«, Alumnatsgenie, Meisterringer. Er trug noch keine Gläser, seine Kurzsichtigkeit machte ihn interessanter, weil es immer aussah, als stieße er durch Nebel auf ein Ziel, wenn er ein Rapier oder den Schoppen zur Hand nahm.
Der Schoppen war wichtig, Peters schwang das Rapier auf der Kneipe, wie er im »Kommers« präsidierte.
Zwölf Bierjungen in einer Sitzung, zu all den »offiziellen« und »speziellen« Ganzen – man sprach davon. Auch von seiner Unfehlbarkeit im Skat, mit dem er fast sein Taschengeld gewann. Er lebte mit allen in Frieden, seit er alle beherrschte. Seine Mitschüler, die jüngeren Jahrgänge, die Professoren sogar!
Denn einmal, als Primaner, hatte er seinem vergangenen Ordinarius aus Obersekunda auf eine Anrede »Sie da . . .« geantwortet: »Sie da an der Tür! Was wollen Sie hier eigentlich?«
Und sich dann entschuldigt: 10
»Ich bin im allgemeinen ein höflicher Mensch. Aber wenn ich mit Flegeln zu tun hab', bemüh' ich mich, ihre Tonart zu treffen.«
Er war nur eingekarzert worden. Auch die Professoren hatten jetzt Angst vor ihm.
Nur dem Direktor, seinem Schwiegeronkel, war er noch unhold. Einmal, knapp ehe Kultusminister und Schulrat zur Inspektion kamen, kommandierte Peters seine Prima zur Kneipe. Alle kamen betrunken nach Hause, aber sie hielten sich. Peters stieß die Alkoholnebel aus seinem Gehirn. Er war nüchtern, wenn er es sein wollte. Diesmal mußte er es sein, um den Betrunkenen gut zu spielen.
Als Minister, Schulrat, Professoren und Schüler ihre Hände zur Andacht falteten, krähte dieser Knirps im Vollbart:
»Das Abendgebet wollen wir uns heute sparen; ich denke, wir sind alle zu angeheitert. Bitte, setzen Sie sich, meine Herren.«
Wurde er damals relegiert, kurz vor dem Abitur, arm, ohne Verwandte – dann war er für Deutschland ein Prolet. Er wäre Schiffsjunge geworden, nach Amerika gesegelt. Hier in Ilfeld gab es galonierte Diener, die ihm die Schüsseln reichten. Hier war er ein junger Herr.
Das hatte er alles bedacht, diese ungeheure Rebellion dennoch begangen.
Das Wunder geschah, daß er abermals nur Arrest bekam.
Vielleicht ahnten die Mitglieder des Kollegiums, wer Peters war. Vielleicht fürchteten sie, als Verkenner dieser Persönlichkeit auf die Nachwelt zu kommen?
»Päters, Päters«, sagte der Direktor, »mit Ihnen 11 nimmt es ein schlechtes Ende. Sie arbeiten nicht, Sie wollen auch nicht bäten.«
Was geschah nun? Daß der Primaner im Vollbart sich über die Hand des alten Pädagogen beugte, fast, sie zu küssen. Daß er aufschluchzte und nicht mehr wußte, »warum hab' ich den weißhaarigen Herrn kompromittieren wollen?«
»Arbeiten tu' ich doch, Herr Direktor?«
War er nicht der gelehrteste Abiturient?
Er hatte diesen Direktor gehaßt, nur, weil er ihn nicht beherrschen konnte. Jetzt hatte auch der sich beugen lassen.
Stud. phil. Peters war erster Präses im »Proppenbund«, den er gegründet hatte. Er thronte an der langen Tafel, ein Rapier in der Hand, dessen Griff ein riesiger Pfropfen war, einen Pfropfen in der Westentasche, einen Pfropfen im Knopfloch. Das war große Amtstracht.
»Werte Proppenbrüder und Proppenschwestern! Durch Entstehen einer Sektion Tübingen ist unserem Bund die achte Tochtergesellschaft geschenkt worden.
Silentium!Wer noch einmal die gelahrten Ausführungen des Präsidenten von insgesamt siebentausendachthundertdreiundsiebzig Proppenträgern unterbricht, steigt in die Kanne bis . . .
Silentium strictissimum! Bundesschwester Amalie! Du wirst sonst drei Meter Spitze häkeln, Kopfkissen und Bettuch eines hohen Präsidiums zu umranden.
Ich fahre fort . . .«
Siebenunddreißig Mitglieder, alle im Besitz des Westentaschenproppens, diverser bürgerlicher und akademischer Ehrenrechte, nach Haarfarbe und Geschlecht 12 leicht erkenntlich – denn dies waren, geistvoll abgefaßt, die Bedingungen der Zulassung zum Proppenbund –, tranken Bier nach Peters' Kommando und bemühten sich, am frühen Abend ausgelassen fröhlich zu sein.
Die Herren waren meist hohe Semester, kein Gesicht ohne Mensurschmisse, kaum eines ohne Zwicker. Sie hatten tagsüber gebüffelt, Kolleg gehört, Seminare absolviert, in der Bibliothek geochst. Jetzt erholten sie sich.
Drei Damen saßen mit am Tisch. Zwei waren »filia hospitalis«, gingen mit ihren »möblierten« Herren in die große Welt. Die dritte, Proppenschwester Amalia, von Peters selbst eingeführt, kannte niemand auch nur bei ihrem richtigen Namen.
Ein paarmal versackte der Bierulk gänzlich. Es war schwer, den Kopf rauchend voll von geschichtlicher Quellenkritik oder Philologie, plötzlich in lauter gespreiztem, erzwungenen Bierhumor zu leben und das Hirn in Narrentracht zu kleiden; obgleich die Satzungen des Proppenbundes gedruckt neben jedem Glas lagen, auch das Gefühl, einer mächtig aufsteigenden Organisation anzugehören, etwas Erhebendes hatte.
Aber Peters kannte keine Gnade.
Wieder schwang er das Rapier.
»Abermals muß ich die werten Proppenbrüder Herostrat und Perkeo Gracchus in die Kanne steigen lassen. Wegen ödester Fachsimpelei! Wer noch einmal über den Frieden von Venedig quasselt, verliert auf drei Tage das Recht, den Proppen zu tragen, und schuldet jedem Mitglied auf die Frage ›Mitgebracht?‹ ein Glas Freibier in der nächsten, zu Fuß oder per Achse erreichbaren Karawanserei. Dixi!«
Die verurteilten Bruder stiegen in die Kanne und stärkten sich. 13
»Hohes Präsidium!« erklärte Perkeo Gracchus, »ohne die Verfügung eines hohen Präsidiums anfechten zu wollen, erlaube ich mir diese Anfrage: liegt der Verfügung eines hohen Präsidiums nicht vielleicht der Umstand zugrunde, daß es nicht jedem gegeben ist, eine Preisaufgabe wie die über den Frieden von Venedig auch nur in ihrem Umfang zu erfassen?«
»Pflaume!« rief es aus dem Hintergrund.
»Hängt!« brüllte Peters. Er schwenkte sein Glas und tat humorig bis zum Überschäumen. Aber das Blut stieg ihm zu Kopf und färbte seine Augäpfel rot, als sei er betrunken.
»Die Pflaume hängt! Ich werde den Preis selbst machen. Die Herren brauchen sich mit der ganzen Geschichte nicht mehr zu befassen!«
Siebenunddreißig Menschen wieherten vor Lachen.
Das hohe Präsidium wurde blaß.
»In welchem Jahrhundert ist der bewußte Friede etwa geschlossen worden?« erkundigte sich Herostrat.
»Das brauch' ich heute nicht zu wissen, alter Tempelverbrenner. Das Kapitol Peters wird nicht in Asche gelegt, verlaß dich drauf. Kurz gesagt – wir werden das Ding drehn.«
Dann ging die Feier weiter, bei der es nichts zu feiern gab. Peters trank jetzt vorsichtig und handhabte sein Präsidium schwach. Er drückte sich beizeiten.
Aber als er in Pelz und Zylinder – seiner Uniform auch bei leidlich warmem Wetter, seit er cand. phil. war – auf die Auguststraße kam, stand Proppenschwester Amalia schon vor der Tür und wartete im tröpfelnden Regen, ohne Schirm. Er machte kein erfreutes Gesicht.
Schlank und elegant ging sie neben ihm. Einen halben 14 Kopf kleiner als sie, reckte er sich in den Schultern, nahm aber sonst wenig Rücksicht auf seine Begleiterin. Er tobte, sehr trainiert, sehr elastisch, gradaus, zwang alle Begegnenden, ihm auszuweichen, schien tief in Gedanken und eilig. Amalia hielt mit Mühe Schritt. Endlich nahm sie seinen Arm und zwang ihn, langsamer zu gehen.
»Ich will dir keine Vorwürfe machen, Carl. Nur fragen will ich dich etwas.«
Er fuhr auf, als hätte sie ihn im Schlaf gestört, als hätte er gar nicht bemerkt, daß sie neben ihm ging.
»Was denn nur!«
Sie beherrschte sich mühsam. Es war ihr zum Weinen.
»Du weißt wohl nicht, daß du schon seit Wochen kaum Zeit für mich hast? In den Proppenbund muß ich gehen, um mich wieder einmal von dir mißhandeln zu lassen.«
»Arbeit, Examen.«
»Aber für den Proppenbund hast du Zeit?«
»Unsympathisch, diese Kontrolle . . .«
Nach ein paar Schritten lenkte er ein.
»Es ist doch klar, daß ich den Bund, den ich gegründet habe, einen Verband von heute achttausend Mitgliedern, nicht einfach laufen lassen kann. Ich habe das Präsidium wieder angenommen und muß es führen.«
»Mußt einem – Proppenbund präsidieren.«
»Immerhin achttausend Anhänger. Auch wenn sich's nur um Bierulk handelt.«
»Achttausend Narren, die nach deiner Pfeife tanzen.«
»Als Student kann ich kein Armeekorps kommandieren.« 15
Sie verzögerte noch mehr den Schritt. Die kritische Straßenecke war nah, an der er sie absetzen würde.
»Und war das nötig, dieser Witz mit den Wäschespitzen? Fühlst du nicht, wie du mich bloßstellst?«
»Ein Bierulk. Wenn du's übelgenommen hast, Pardon!«
»Carl!«
Jetzt kam die Ecke. Das Tiergartenviertel war nicht mehr fern. Hier pflegte er sie in eine Droschke zu setzen, damit man sie nicht zusammen sah – sie führte zwischen Elternhaus und Peters' Atmosphäre ein jammervolles Doppelleben.
»Du weißt, daß mir nur acht Wochen bleiben für diese Preisschrift. Ein paar Dutzend fachtrainierter Leute schuften schon seit vier Monaten dran.«
»Das war dein Ernst, Carl?«
»Was sonst?«
»Aber sie haben ja alle gelacht, Carl! Du fängst ja erst an als Historiker! Das ist ja unmöglich!«
»Überlaß es freundlichst mir, zu entscheiden, was möglich ist!«
Er reckte sich. Aber sein Zylinder allein überragte sie. Für diese Minute war er zu kurz geraten.
»Ich gewinne den ersten Preis! Gerade weil ihr's alle nicht glaubt!«
»Verzeih mir! Ich weiß, wenn du etwas willst . . .«
Wie sie ihn ansah, mit diesen in Ergebung schwimmenden Augen, immer noch zum Weinen bereit, widerstandslos ertrunken in Gefühlen zu ihm!
»Für diese acht Wochen also kein Proppenbund . . . leb wohl, liebes Herz. Mein letzter Seufzer ist: Amalia! . . .«
Er winkte einer Droschke, in deren Dunkel sie, 16 ungeküßt, blitzschnell und gehorsam verschwand. Dann gab er dem Kutscher ihre Adresse, sah aufgerissene Augen am Fenster, winkte leicht, mit einem forciert freundlichen Lächeln. Der Gaul zog an.
Sie sah ihn noch durch den Regen gehen, sehr trainiert in den Beinen, sehr elastisch, den Kopf, dessen Linie der Zylinder komisch verlängerte, ein bißchen schief, Augengläser reibend, die sich rasch beschlugen.
Ganz deutlich erinnerte er an ein Segelboot, das mit vollem Wind durch kochende See kantet. So rasch – er überholte alle Menschen und wich keinem ans.
Acht Wochen lang kein Wiedersehn! Und dann?
Amalia empfand das Dunkel ihrer kalten Droschkenzelle wie Symbol ihres ganzen Schicksals.
Das war jetzt Abschied gewesen. Durch acht Wochen wollte er sie nicht sehen. Und in acht Wochen dachte er nicht mehr an sie. Abschied von einem Menschen, der einem das Herz genommen, ohne zu fragen: »Willst du?« Der einen aus der Bahn gerissen, rund ums Leben eine blutige Kerbe gezogen, die nie verwachsen konnte.
Da tobte er, schräg und verkantet, kurzsichtig – aber deshalb nur für andere gefährlich – durch den Regen, über die nassen Trottoirs. Achttausend Menschen sahen zu ihm auf, dem großen Maestro des Bierulks. Ein junges, kluges, sogar schönes Mädchen lag in seiner Bahn, überrannt und vergessen mit Proppenbrüdern und Proppenschwestern. 17