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Das antarktische Winterwetter ist nicht verlockend. Die Kälte ist allerdings auf diesen Breitengraden nicht annähernd so stark wie auf der nördlichen Halbkugel. Aber dafür spielt der Wind eine um so grössere Rolle. Mit südlichen Winden kommt die Kälte, knallend wie Kanonenschüsse schlagen die Sturmböen gegen die Bergwände; in unserer Hütte flackern die Lampen, und das Dach läuft jeden Augenblick Gefahr, abgehoben zu werden. Woche auf Woche kann die Kälte anhalten, zuweilen tritt allerdings eine Unterbrechung ein, aber auch die ist sehr unangenehmer Art. Denn der Wechsel vollzieht sich ungeheuer schnell, in ein paar Stunden kann die Temperatur von -20° bis auf den Nullpunkt steigen, und ein paar Stunden später haben wir wieder 20 Grad Kälte. Während der langen Kälteperioden beobachteten wir den Himmel unzählige Male, um zu sehen, ob die Wolkenbank hinter der Dundee-Insel sichtbar wurde. Das war unser untrügliches Zeichen: dick und dunkel steigt sie dort hinter dem Inlandeis dieser Insel auf, plötzlich fängt das Quecksilber an zu steigen, und mit rasender Geschwindigkeit stürzt sich der Westwind auf uns, Massen von Schnee aufwirbelnd und uns Hals über Kopf ins Haus hineintreibend. Wir freuen uns über den heulenden Wind, der jetzt draussen auf dem Meere eine tüchtige Arbeit ausrichtet, indem er das Eis nach Osten hinaustreibt. Es muss hier zum Frühling, wenn das Schiff kommt, eisfrei sein. Die Tranlampe tanzt an ihrer Schnur auf und nieder, die Schneemassen peitschen das Dach, das sich unter ihrer Last senkt. Der Reif hat sich gelöst, das Segeltuch ist weich und nass. Es ist warm und schön, hier drinnen, d. h. wir haben +3-4 Grad, und die Karten werden hervorgeholt. Es ist amüsant, zu sehen, wie die Laune um die Wette mit dem Quecksilber steigen und fallen kann. An solchen warmen Abenden sassen wir in der Regel ein wenig länger auf als sonst, und wenn wir uns schliesslich entschlossen, in die Säcke zu kriechen, war es ein angenehmes Gefühl, nicht an den Füssen frieren zu müssen; ja, man konnte sich sogar ein ordentliches Luftloch zum Atmen machen. Aber ach, wie oft erwachte ich nicht davon, dass mich die Kälte wieder in die Nase biss. Ich sah auf, die Lampe hing unbeweglich an ihrer Schnur, und das Dach glitzerte wieder von tausend kleinen Sternen. Und mit einem Seufzer der Ergebung bohrte ich den Kopf in den Filz hinein, schloss das Ventil und schlief weiter.
Das warme Wetter hatte allerlei kleine Unbequemlichkeiten im Gefolge, namentlich wenn es mehrere Tage nach einander anhielt. Der »Karl Johan« taute auf, und ein unheimlicher Gestank verbreitete sich von dem Abfallhügel, in den die vornehme Promenade, jetzt verwandelt war: verfaulte Fischgräten, Speckstücke und Fleischüberreste vermischten sich mit Schneeschlamm und einem unbeschreiblichen Schmelzwasser, das sich hier und da zu kleinen Seen ansammelte. Schlimmer noch waren die verfaulten Pinguinhäute. Um das Lager weicher zu machen, hatten einzelne von den Kameraden Pinguinhäute unter den Schlafsack gelegt, und wenn man zufällig daran rührte, verbreitete sich ein fürchterlicher Geruch in dem ganzen Raum. Ich hatte einige alte Kleidungsstücke als Unterlage benutzt, gegen Ende des Frühlings waren sie in einen einzigen Schimmelhaufen verwandelt, den man mit den Fingern auseinanderpflücken konnte. Wenn man aus der frischen Luft ins Haus hinein kam, konnte man zuerst kaum atmen, so schrecklich war der Gestank. Es erscheint hinterher wunderbar, dass wir uns während der ganzen Zeit einer so guten Gesundheit erfreuten; dass infolge der Diät zuweilen einige Verdauungsstörungen eintraten, ist ganz erklärlich. Allerdings zeigte sich auch, dass bei ernsten Krankheitsfällen keine Rettung möglich war. Die Apotheke war nicht sehr umfassend, denn es waren nur sehr wenige brauchbare Sachen an Land gekommen.
Wir blieben nicht von Krankheit und Tod verschont, so wie wir es gehofft hatten. Wennersgaard hatte sich schon lange elend gefühlt; er bekam, sobald er hinausging, heftige Hustenanfälle und zeigte, soweit wir uns darauf verstanden, allerlei Anzeichen von Schwindsucht. Bald konnte er sich auch nicht mehr bewegen, da die Beine lahm wurden, und nun glaubte Larsen mit Sicherheit zu erkennen, dass er an Skorbut litt; mit jedem Tage schwand er mehr hin.
Aber was waren seine körperlichen Leiden im Vergleich zu seinen seelischen! Dort in Schmutz und Elend zu sitzen, zu hören, wie die Kameraden von Rettung, von Heimat und Freunden sprachen, und zu fühlen, dass er selber verurteilt war, für immer hier unten zu ruhen, nie sein Vaterland wiederzusehen! Nie vergesse ich den Augenblick, als er, ein lebensfroher einundzwanzigjähriger Jüngling, erfuhr, dass er sterben müsse. Wir hatten nicht viel, womit wir ihm das Dasein erleichtern konnten. Pinguin- oder Seehundssuppe konnte er nicht essen, er musste sich mit Kakao, Fruchtsaftsuppe und etwas Brot begnügen. Zuweilen raffte er sich wohl auf, war munter und guter Dinge und plauderte mit den Kameraden. So z. B. am 17. Mai, dem Nationaltage der Norweger, den wir hier unten festlich begingen, indem wir unsere Hütte mit schwedischen und norwegischen Flaggen schmückten. Die schönen, klaren Farben hoben sich unheimlich ab von all dem Schmutz und machten mich ganz trübselig. Die Bücher waren jetzt alle gelesen, und wir mussten alle Kräfte aufbieten, um uns selbst und die andern aufzumuntern. Ich trug mein Teil dazu bei, indem ich Selma Lagerlöfs »Gösta Berling« erzählte. Glücklicherweise hatte ich keine kritische Zuhörerschaft.
Mit Riesenschritten näherten wir uns dem ersehnten Pfingstfest. Wir hatten jetzt Glück mit dem Wetter. Die Kälte liess für ein paar Tage nach, und der Tag vor Pfingsten brach mit strahlendem Wetter an. Ich beschloss, auszugehen, und zwar schon vor dem Frühstück, eine ganz ungewohnte Entfaltung von Energie, aber der Sonnenaufgang lockte mich.
Der Himmel war fast klar, das Eis lag grau da. Leise huschte das erste Erröten über den Gletscher, die steilen Gipfel auf der Joinville-Insel färbten sich rosenrot, und zwischen einigen Wolkenstreifen stieg die Sonne empor; die Unebenheiten in der Eisdecke glitzerten und schimmerten, Ströme von blendendem Licht ergossen sich allmählich weiter und weiter über die farbenwechselnde Eisfläche. Die Sonne war strahlend, aber kalt und machtlos; einige Stunden lang schaute sie auf die Landschaft herab, um dann wieder zu verschwinden.
Im Hause herrschte Freude und Feststimmung. Auch Wennersgaard fühlte sich auf kurze Zeit ein wenig erleichtert, angesteckt von der allgemeinen Fröhlichkeit. Ergreifend war es, ihn einige Abschiedsworte an seine Eltern und Geschwister schreiben zu sehen. Stunde auf Stunde während der Nacht sass er still da, leise stöhnend. Er fand nur selten Ruhe, und wenn man im Laufe der Nacht einmal aufsah – mich pflegte der Rheumatismus häufig zu wecken –, so begegnete man seinen grossen, angstvoll und traurig blickenden Augen. Nur selten hörte man ihn klagen, er jammerte nur ganz leise vor sich hin.
Es war am Morgen des 7. Juni. Er hatte seinem Wärter, Martin, mit den Worten: »Jetzt wollen wir gehörig schlafen«, gute Nacht gesagt. End dann schlief er in sitzender Stellung, in der einzigen, die ihm möglich war, ein. Da fühlte sein Nachbar plötzlich, wie der Kranke gegen seine Schulter sank, einige röchelnde Laute, und das Leben war entflohen.
Es war still und dämmerig im Hause; kalt, klar, still war es draussen – der Tod, der einzige Gast, der zu uns gelangen konnte, hatte seine Hand schwer auf den Kameradenkreis gelegt, der so lange gemeinsam für das Leben gekämpft hatte.
Schweigend ging der Zug durch die niedrige Tür; in seinen Schlafsack eingenäht, den einzigen Sarg, den wir ihm bereiten konnten, ward er in eins der Boote hinausgetragen, die halb eingeschneit dalagen. Ein paar Tage später gruben wir seine Leiche in eine mächtige Schneeschanze ein; erst als es Frühling wurde, konnten wir ihm eine dauernde Ruhestätte bauen.
Völlig machtlos standen wir der Gewalt der Krankheit gegenüber, – wer würde das nächste Opfer sein? Mehr denn je galt es jetzt, den Mut nicht sinken zu lassen. Das ist doppelt schwer, wenn ein Glied in der Kette, so wie hier, durch einen Zufall zerreisst. Wie hatten wir uns nicht gegenseitig an unsere kleinen Eigenheiten gewöhnt! Wie deutlich entsinne ich mich noch in dieser Stunde Wennersgaards fröhlichen Lachens, das schon nach wenigen Tagen meine Aufmerksamkeit auf sich zog! Ein Lachen, das in den Herzen aller Kameraden wiederhallte, das an Bord in jeden Winkel des alten Fahrzeuges drang, das uns so oft verleitete, mit zu lachen! Langsam gingen wir zurück und versammelten uns wieder in der Hütte, wo alles von Tod und Vergänglichkeit redete, versammelten uns – jetzt aber nur noch neunzehn an der Zahl. Nach allen Symptomen zu urteilen, scheint es ausser Frage, dass Wennersgaard einem Herzleiden erlegen ist.
Die Mittwinterszeit rückte jetzt schnell heran. Die Tage wurden immer kürzer, die machtlose Sonne stieg kaum mehr über den Dundee-Gletscher empor, um gleich wieder zu verschwinden. Es war nur gut, dass sich zu allem andern nicht noch beständige Finsternis gesellte.
Immer härter erschien uns die Kälte, alle Schaffenslust hemmend. In der Dämmerung konnten wir tagein, tagaus daliegen, während draussen der Sturm heulte; wir hungerten und froren, und die Zeit schlich unsagbar langsam dahin. Der »Mittwinterabend« kam mit Reisbrei und herrlichem Wetter; wir hatten nur ein paar Grad Kälte. Schon allein der Gedanke, dass die Sonne jetzt wieder zu uns zurückkehren würde, rief eine wahre Feststimmung in unserm Kreise wach. Am Mittsommertage hatten wir nur -5° C.; es war unmöglich, drinnen zu bleiben, die Luft war geradezu entsetzlich. Welch ein Genuss, Stunde auf Stunde draussen umherzustreifen, mit weichen Schuhen, ohne an den Füssen zu frieren, und obwohl die Mütze aufgeschlagen war, schwitzten wir. Die Katze sprang wie toll umher und freute sich sichtlich ihres Lebens. Ach, es kann sich niemand eine Vorstellung davon machen, wie herrlich es war, nicht mehr frieren zu müssen!
So verging eine Woche nach der andern unter Freude und Kummer, lange Tage und noch viel längere Nächte, während welcher sich all unser Interesse auf den Kampf ums Dasein konzentrierte. Und es ging, und es ging ganz gut. Kalt und trübselig schwanden der Juli und August dahin, die Sonne stieg höher und höher am Himmel empor, das Leben in der Natur erwachte mehr und mehr, der September und der Oktober hatten Frühlingsstürme im Gefolge, aber auch Seehunde und Pinguine.
Gott weiss, wie die Zeit verging, bis wirklich der Tag anbrach, an dem das Boot, das Larsen, K. A. Andersson und ihre Begleiter nach der Winterstation bei Snow Hill bringen sollte, sich langsam von dem Eisrande entfernte. Lange Blicke sandten wir ihnen nach, auf sie setzten wir unsere ganze Hoffnung. Büssten sie das Leben zwischen den Eisschollen ein, wer hatte dann eine Ahnung davon, dass auf der Paulet-Insel eine kleine Hütte stand, in der noch ein Dutzend Menschen lebten und des Tages harrten, der ihnen Errettung bringen sollte?