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»Seemann bin ich, werde nie was andres,
Arm nur bin ich, werde niemals reich,
Doch ich hab' ein ehrlich Seemannsherze,
Und ich hab' ein treues Mädchen lieb.«
So singt Grunden.
Er ist heute Koch. Leise und vorsichtig ist er aus dem Schlafsack gekrochen, hat sich angekleidet und ist in die »Küche« hinaus gegangen, wo er nun Feuer in dem »Tranqualmer« angezündet hat. Während das dünne Nachteis im Kaffeekessel auftaut und der Seehundspeck in der Pfanne prasselt, sitzt er da und singt. Aber jetzt schweigt er plötzlich. Offenbar nimmt eine wichtige Arbeit seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Noch halb schlafbefangen liege ich im warmen Schlafsack und lausche seinen Bewegungen da draussen. Manch einen eisig kalten Morgen habe ich selber dort gesessen, und jeder kleinste Laut verrät mir, was er vornimmt. Jetzt kratzt er mit einem Stück Holz den Russ unter der Bratpfanne weg, und nun legt er die ersten Fleischstücke in das siedende Seehundsfett. Dann steht er auf und stampft eine Weile auf und nieder, um den Blutumlauf in den erstarrten, vor Kälte schmerzenden Füssen wieder in Bewegung zu setzen. Es ist offenbar kalt und windig draussen. Der Sturm heult und pfeift in dem kleinen Schornstein, und bei den schlimmsten Böen fegt ein raschelnder, prasselnder Strom von losgerissenen Schneestücken über das Dach hin.
Es ist traulich und angenehm, auf diese Weise in der Schneemasse begraben zu liegen, in sicherem Schutz gegen die Verheerungen des Sturmes. Der einzige Teil der Hütte, mit dem der Wind in direkte Berührung kommt, ist die Dachpersenning, aber die liegt jetzt ganz festgefroren, und da sie schon der Gewalt so vieler Stürme Trotz geboten hat, wird sie sich auch wohl noch bis zu Ende des Winters halten.
Grunden hat nun draussen in der Küche die »Lampe« in Ordnung gemacht, hat sie mit Speckwürfeln gefüllt und einen neuen Docht hineingetan. Er reicht sie in die Zeltöffnung hinein und stellt sie auf eine umgekehrte hölzerne Kiste, die des Nachts am Eingang steht und im übrigen abwechselnd als Sofa oder Esstisch dient, das letztere in dem Fall, dass die beiden, die von der Küchenarbeit frei sind, den ganzen Tag über in ihren Schlafsäcken liegen bleiben.
Duse ist jetzt erwacht und dreht sich mit einem freundlichen »Guten Morgen!« zu mir herum. Ich gucke aus dem Schlafsack heraus, aber nur ganz vorsichtig, besorgt, dass die kalte Luft in meinen warmen Schlafsack dringen könne.
Die qualmende Tranlampe vermag nicht die Dunkelheit unserer schwarzen Höhle zu erhellen, in der die russigen Wände alles Licht verschlingen. Aber oben an der Decke leuchten und flimmern, sich von dem dunkeln Hintergrund abhebend, Tausende von kleinen, weissen, sternförmigen Eiskrystallen. Diese »Eisflocken« geben uns einen ganz richtigen Begriff von der draussen herrschenden Temperatur: ist die Reifbekleidung an der Decke dick, so haben wir zweifelsohne einen schneidend kalten Sturm aus SW., sind dahingegen Decke und Wände des Morgens ganz russgeschwärzt, so können wir auf nördliche Winde und wärmeres Wetter schliessen.
Schnell verschwinden die kleinen glitzernden Sterne unseres finstern Gefängnisses, je mehr die Tranlampe die im Laufe der Nacht im Zelte abgekühlte Luft erwärmt.
Grunden singt fröhlich, während er da draussen auf der grossen Gemüsedose sitzt und die Fleischstücke in der Pfanne wendet. Er verfügt über eine bunte Sammlung von Liedern. Bald ist es ein lustiger Gassenhauer, bald ein amerikanischer Niggersong, den er einstmals an der Küste von Florida gehört hat, bald ein fröhliches, norwegisches Liedchen von einem Mädchen, das in geliehenen Schuhen zu Ball gehen will und Stroh hineinstopft, weil sie ihm zu gross sind. Immer aber kehrt er zu den Liedern vom Meer und dem Seemannsleben zurück, er singt von dem Burschen, der im Fjord übergesegelt, aber von seiner tapferen Braut gerettet wurde, oder von dem Jungen aus Arendal, den seine Braut betrog, und der dann aus Kummer darüber zur See ging, – – ein ganzes Epos über das Leben auf dem Meer, dessen schwerfällige Verse von Seemannsausdrücken wimmeln.
Ja, Seemann mit Leib und Seele ist der gute Grunden. Jetzt ist er mit seinen Gedanken weit weg von uns Unglückskameraden, von dem Leben in Schmutz und Finsternis und dem toten, weissen Land, jetzt liegt er in tosendem Sturm vor Lindesnäs und kreuzt auf Tod und Leben mit »Terje Vigen«, während er singt:
Von dem alten norwegischen Land komm' ich her.
Wo die stolzen Schiffe gehen.
Nach Seemannsleben stand all mein Begehr,
Wo übers Meer die Winde wehen.
Wechselnd, wie sein eigenes Leben, sind seine Lieder. Er kann von harten Tagen singen, wo das Leben davon abhängt, ob die Pumpen im stande sind, die alte verrottete Schute lens zu halten, wie von dem lustigen Treiben des Matrosen an Land, wo die Heuer bis auf den letzten Heller dahin rollt und er auf fremdem Schiff von seinem Rausch erwacht. Er kann von weissen Mädchen singen und von gelben und schwarzen, er hat Lieder von englischen, deutschen und amerikanischen Kameraden gelernt und oft in den Hafenstädten Australiens gesungen, um einen Batzen zu verdienen. Aber Norweger ist er mit Leib und Seele, und trotz seiner Zugvogelnatur singt er am liebsten von der alten Heimat:
Von der Nordsee bis au Kölens Strand,
Vom Eismeer bis nach Kristianssand,
Da ist mein Heim.
Da stimme ich ein
Das alte Lied vom Vaterland.
Jetzt ist das Frühstück fertig. Grunden kommt zu uns ins Zelt, wünscht guten Morgen und trocknet seine schwarzen, von Seehundsfett glänzenden Hände in dem schmierigen Zelttuch ab. dann fängt er an »aufzudecken«. Zuerst stellt er den Esstisch, d. h. die umgekehrte hölzerne Kiste, auf den jetzt freien Platz zwischen Duse und mir hin, wo während der Nacht sein Schlafsack gelegen hat. Dann kommt das »Service«. Die weisse Emaille der Essschüsseln schimmert hier und da unter der klebrigen Schmutzschicht aus Russ und Fett hindurch. Wenn man den warmen Kaffee trinkt, bildet sich am Rande der Schale ein weisser reiner Fleck von der Unterlippe. Dies ist jedoch nur das alltägliche Aussehen der Schalen, denn jeden Sonntagmittag werden sie mit Schnee reingescheuert.
Als Teller für das gebratene Fleisch benutzen wir drei leere Kotelettedosen, deren flache Form im Verein mit dem guten Eisenblech sie zu diesem Zweck geeignet machen. Ist nun die Butterkruke herbeigeholt, der Kaffee eingeschenkt und das gebratene Fleisch verteilt, so ist das Frühstück serviert. Jeder entnimmt seinem Brotbeutel ein so grosses Stück Brot, wie er für diese Mahlzeit opfern zu können glaubt.
Nachdem wir gegessen haben, reichen Duse und ich Grunden unsere leeren Gefässe mit einem anerkennenden »Danke für die Mahlzeit!« Und er antwortet: »Keine Ursach!« Diese Höflichkeitsformeln wurden regelmässig zwischen dem jeweiligen Koch und den beiden unbeschäftigten Kameraden ausgetauscht, nach jeder Mahlzeit und während der ganzen Überwinterung, und es war uns in unserm elenden verwilderten Dasein eine förmliche Erquickung, in dieser kleinen Höflichkeit einen schwachen Widerhall des Umgangtons zivilisierterer Verhältnisse zu vernehmen.
Wenn uns der Schneesturm zwang, im Hause zu verweilen, blieben die beiden, die für den Tag frei waren, oft in ihren Schlafsäcken liegen. Man plauderte dann ein wenig, machte ein kleines Schläfchen, oder setzte sich aufrecht im Schlafsack hin, mit irgend einer Arbeit beschäftigt. Im Vorwinter hatten wir viel zu tun, um unsere Winterschuhe aus Seehundsfell anzufertigen, und nach »Mittsommer« kam allmählich die Zeit, wo die langwierigen Vorbereitungen für die Schlittenfahrt in Angriff genommen werden mussten.
Zu Anfang des Winters, wo wir täglich drei Mahlzeiten einnahmen, flammte der Tranqualmer den ganzen Tag, und der Koch hatte in dieser Zeit reichliche, ja geradezu anstrengende Arbeit, das Feuer durch Auflegen neuer Speckstücke zu nähren, Speck zu schneiden, Seehunds- oder Pinguinsteaks zu hacken und zu braten, und das Essen zu kochen und anzurichten. Im Spätwinter, als wir uns, wie erwähnt, auf zwei Mahlzeiten beschränkten, um Feuerung zu sparen, wurden die Qualmer mitten am Tage einige Stunden ausgelöscht, und dann hatte der Koch mehrere Stunden Ruhe. Aber wenn die letzte Mahlzeit des Tages serviert und verzehrt war, stand ihm noch eine harte Arbeit bevor. Er musste jetzt Schnee für das Kaffeewasser schmelzen, Fleisch hacken und Speck schneiden, mit einem Wort, alles für das Frühstück des folgenden Tages vorbereiten, damit sein Nachfolger nicht nötig hatte, zu lange draussen in der Morgenkälte zu sitzen, ehe das warme Essen fertig wurde. Die letzte Arbeit des Koches am Abend, bevor er sein wichtiges Amt niederlegte, bestand in dem Zuschneiden und Zusammenknüpfen von ein paar Dochten für die Lampen, die er dann mit der in Gebrauch befindlichen Schwefelhölzerschachtel demjenigen zu übergeben hatte, an dem den folgenden Tag die Reihe war, dieselben Arbeiten zu verrichten.
Die Abendstunde ist die gemütlichste Stunde des Tages. Ehe Grunden in seinen Schlafsack kriecht, stellt er die Lampe für die Nacht an ihren Platz unten im Kochapparat. Das Zelt ist nun ganz dunkel, mit Ausnahme eines grossen, rundes Flecks an der Decke, auf den die Nachtlampe einen flackernden Schein wirft, und einiger kleiner Lichtpunkte unten am Fussboden, wohin der Lampenschein durch die Luftlöcher des Kochapparats sickert. Es liegt etwas von der traulichen Dämmerstimmung des alten schwedischen Kaminfeuers über dem Interieur, jetzt erwachen die Erinnerungen aus den Märchenstunden der Kinderzeit im Halbdunkel vor den glimmenden Holzscheiten, während der Schnee um die Giebel des Hauses weht und das Winterdunkel schwer über dem schlafenden Lande liegt. Auch hier ist ein Heim, wo ein kleines freundliches Feuer Wärme und Traulichkeit verbreitet, während draussen durch die Nacht des südlichen Winters ein Schneesturm braust, im Vergleich zu dem die ärgsten Schneegestöber der Heimat milde Lüftchen sind.
Jetzt ist unsere beste Plauderstunde gekommen. Wir sind abwechselnd bemüht, einander zu zerstreuen. Eines Abends erläutert Duse einige militärische Fragen, z. B. den modernen Kanonenmechanismus oder die Konstruktion des schwedischen Automatgewehres und seinen Vorzug vor andern Typen, woran dann Grunden und ich unsere schüchternen persönlichen Erfahrungen aus unserer Dienstzeit knüpfen. Themata aus dem Kriege interessieren uns sehr, bald sind wir bei Colenso, bald bei Sedan. Grundens Seemannsideal ist Tordenskjold, und wir erzählen ihm die schöne Geschichte von Psilander. Zuweilen liegen wir da und phantasieren von einem grossen skandinavischen Zukunftskrieg. Der Erbfeind hat uns überfallen, ein ganzes Armeekorps des feindlichen Heeres, Norweger und Schweden stehen Seite an Seite in Norrland, während die norwegische Kriegsflagge im Verein mit der blau-gelben in den schwedischen Schären weht. Die Gedanken flattern leicht und ungebunden hier draussen in der Wildnis!
Einen andern Abend erzählt Grunden von seinem stürmischen, wechselvollen Seemannsleben: bald liegt er mit einem treibenden Wrack draussen auf der Nordsee, bald schleppt er Seehundsfelle über die Eisschollen draussen im nördlichen Eismeer, bald tanzt er fröhlich mit den hübschen Mädchen in Mr. Smiths Hotel »Duke of Wellington« in einer kleinen Hafenstadt an der Küste Australiens.
Damit ist die Reihe an mir, zu der Abendunterhaltung beizutragen. Ich komme mit kleinen zoologischen und geologischen Vorträgen, und selbst Steine werden zu Brot für die hungernden Gemüter in diesem einsamen, einförmigen Dasein.
Bücher besitzen wir nicht. Wenn wir das Auge durch ein paar gedruckte Zeilen erquicken wollen, müssen wir die wenigen Dosen hervorholen, die noch von »Le lait condensé, preparé par Henri Nestlé«, von »boiled beef« und »Fleskesteg« vorrätig sind, und die Etiketts lesen, aber auf die Dauer ist das wenig erbaulich. Dem Mangel an Zerstreuungslektüre suchen wir dadurch abzuhelfen, dass wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, was wir unter günstigeren Verhältnissen gelernt haben, und es uns gegenseitig mitteilen. Oft tun Duse und ich uns zusammen und erzählen Grunden einen ganzen Roman. »Die Erzählung des Feldscherers« und »Der Graf von Monte Christo« füllen beide in unserm kurzen Referat mehrere Abende aus, und in der Zeit, wo »Die drei Musketiere« vorgenommen wurden, teilte Grunden seine Bewunderung zwischen d'Artagnans Scharfsinn und Porthos starkem Arm. Aber keiner von unsern Romanhelden entzückte ihn so wie Carlson in Strindbergs »Hemsöborna«. Das war ein mit sicherer Hand dem wirklichen Leben entnommener Typus, den er völlig begriff, und immer wieder kam er auf die saftige Geschichte des unvergleichlichen Wärmlanders und Draufgängers zurück.
Oft lagen wir des Abends da und machten Pläne, wie herrlich wir unser Leben einrichten wollten, wenn wir einmal aus dieser Verbannung erlöst wurden. Einmal nahmen Grunden und ich Duse im Scherz das Versprechen ab, dass er sich bei seiner Heimkehr so schnell wie möglich mit einer Millionärin verheiraten solle. Dann – und das war für uns die Hauptsache – sollte er sich eine Lustjacht anschaffen und Grunden als Kapitän darauf anstellen. Mein Anteil am Vergnügen sollte darin bestehen, dass ich eine Einladung zu einer Fahrt nach dem Mittelländischen Meer erhielt.
Indem ich hier versucht habe, eine Probensammlung von unsern geistigen Zerstreuungen während unseres Aufenthalts in der Steinhütte zu geben, habe ich bei dem Leser möglicherweise die verkehrte Vorstellung hervorgerufen, als ob unser Leben in dieser Hinsicht reich an Abwechslung gewesen wäre. Aber das war leider durchaus nicht der Fall. Das Geplauder, das Scherzen, die Erzählungen waren nur vereinzelte Oasen in einer Wüste von unendlicher Leere, und wir beobachteten selbst mit Staunen, wie unsere Gedanken sich eine wunderliche und dürftige Notkost aus den banalsten Erinnerungen zusammensuchten. Duse und ich wetteiferten, uns des Namens einer jungen Dame zu entsinnen, die wir in Stockholm gesehen hatten, und Duse trug nach mehreren Tagen harter Anstrengung den Sieg davon. Eine lange Zeit litt ich förmlich unter der Unmöglichkeit, den Namen des spanischen Admirals ausfindig zu machen, der in der Schlacht bei Cavite besiegt wurde, und eines Tages fiel mir nach langwieriger Anstrengung zu meiner unbeschreiblichen Freude der Name eines kleinen Dorfes in der Provinz Uppland ein, wo man kurz vor meiner Abreise aus Schweden eine reichhaltige Ansiedlung aus der Steinzeit entdeckt hatte.
Indessen gehörte es glücklicherweise zu den Ausnahmen, dass wir das drückende Gefühl der Langenweile empfanden. Oft wunderten wir uns selbst, dass uns die Tage förmlich unter den Händen dahinglitten, während wir bald mit dieser, bald mit jener Arbeit beschäftigt waren, zu der uns der harte Kampf ums Dasein zwang. In einer Hinsicht war es ein Vorteil für uns, dass wir der einfachsten Werkzeuge ermangelten. Eine Arbeit, die mit passendem Gerät schnell und leicht hätte ausgeführt werden können, nahm hier Tage und Wochen in Anspruch, fesselte unser Interesse und veranlasste zu der so nötigen körperlichen Bewegung. Hier nur ein Beispiel dafür: Als wir zu Ende Mai und im Juni Speck und Fleisch gebrauchen wollten, fanden wir, dass die Felle der zu Anfang der Überwinterung von ihrem Speck befreiten Seehunde so hart am Boden festgefroren waren, dass es lange zweifelhaft erschien, ob es uns gelingen würde, sie loszueisen. Jeden Morgen, wenn uns das Wetter einen Aufenthalt im Freien gestattete, wanderten die beiden, die für den Tag vom Küchendienst befreit waren, nach dem Arbeitsplatz. Fassdauben von einer zerschlagenen Brottonne als Brechstangen und grosse Steinblöcke als Beile benutzend, nahmen wir die steifgefrorenen Felle in Angriff. Dies war eine unbeschreiblich mühevolle Arbeit. Der Bart war eine einzige Eismasse von festgefrorenem Reif, während uns der Schweiss unter dem schmutzigen Wollzeug vom Körper tropfte und unsere Unterbekleidung noch ekelhafter machte.
Am Abhang des Haufens, ganz in der Nähe der Hütte, hatten wir unsern Vorrat an Pinguinfleisch in drei mit Steinblöcken bedeckten Haufen aufbewahrt. Zuweilen kam es vor, dass wir an schneidend kalten Tagen hinaus mussten, um einen der Hügel aufzugraben und unsere leere Speisekammer zu füllen. Die Fleischmasse war indes so hart zusammengefroren, dass wir mit Hämmern und einer als Meissel benutzten Zeltstange aus Eisen die Stücke, die wir benutzen wollten, von einander trennen mussten. Unsere Seehundschuhe waren binnen, wenigen Minuten ganz steif gefroren, und dann hatten wir ein Gefühl, als hätten wir an Stelle der Füsse dicke Holzklötze zu schleppen, während die zerlumpten Handschuhe, die wir nie ganz trocken bekommen konnten, so steif abstanden, dass es eine Unmöglichkeit war, die Finger zu bewegen. Alle fünf Minuten mussten wir die Arbeit unterbrechen, um die Füsse warm zu stampfen und die steifen Handschuhe aufzutauen. Aber dann waren die kleinen Seetauben, die den Arbeitsplatz gierig umtrippelten, auch sofort zur Stelle. Lange hatten sie sich damit begnügen müssen, an den Stücken Seehundfell zu picken, die wir, nachdem der Speck weggehauen war, aus der Hütte hinauswarfen, jetzt schimmerte ihnen das gefrorene Fleisch so lecker entgegen. Wirklich listige kleine Diebe waren diese kleinen Vögel! Sobald man sich nur einen Augenblick abwandte, war gleich einer von ihnen da, um ein losgelöstes Stück Fleisch zu packen und es mit erstaunlicher Kraft über den Schnee zu schleppen.
Auch innerhalb der vier Wände gab es mancherlei Beschäftigungen.
Gleich zu Anfang der Überwinterung kam Duse auf den Gedanken, uns ein Schachspiel anzufertigen. Der rotkarierte Deckel einer grossen Kakaodose diente als Schachbrett. Es wurde in 64 Felder abgeteilt, und von jedem zweiten derselben wurde die Farbe weggekratzt. Als Figuren verwendeten wir Patronen verschiedener Grössen. Leere Schrotpatronenhülsen, von denen die Pappe weggeschnitten war, so dass nur der Metallboden zurückblieb, waren die Bauern, Pistolenpatronen die Läufer usw. Das Schachspiel war sehr gut gelungen, und einige Tage spielten wir sehr fleissig. Bald aber hatten wir wichtigeres zu tun. Die zerlumpten Schuhe wurden mit jedem Tage unmöglicher, aber es wurde Mittsommer, ehe wir unsere Winterschuhe in Ordnung hatten. Als dann das Wetter schlechter wurde, hatten wir wieder mehr Zeit, da aber stellte es sich bei einer vorgenommenen Untersuchung heraus, dass die Schachfiguren, die wochenlang vergessen und, in meine Sommermütze eingewickelt, in einer Ecke des Zeltes verwahrt waren, jetzt in einer grossen Eismasse lagen, die infolge des hin und wieder eintretenden Tauwetters sich um die Schachfiguren, die Mütze und das Zelttuch gebildet hatte.
Das Anfertigen unserer Winterschuhe war eine unendliche Arbeit.
Wir besassen nur eine einzige Segelnadel, und die war das notwendigste Werkzeug. Es war ein grosses Glück, dass sie nicht abbrach, wenn wir aus Leibeskräften zogen, um sie mit dem groben Riemen durch das Seehundsfell zu zwingen. Manchmal verloren wir sie, wenn wir beim Schein der Tranlampe bei der Arbeit sassen. Das war dann ein ängstliches Suchen, bis wir das Kleinod wiedergefunden hatten, oft ganz unten im Schlafsack des Schuhmachers, oder auch im Schmutz des schmierigen Fussbodens.
Zu unserer Schusterarbeit bedurften wir natürlich eines Pfriemens. Wir schnitten einen grossen Nagel aus einer unserer hölzernen Kisten, schliffen ihn auf einer Schieferplatte, die wir auf einem Berggipfel gefunden hatten, und schliesslich befestigte Grunden einen hölzernen Stiel daran.
Ebenso mussten wir uns Material zum Zusammennähen der Schuhe schaffen. Meine jetzt ganz vertragenen Schnürstiefel waren mit dünnem Kalbleder gefüttert. Daraus schnitten wir mit grosser Vorsicht schmale Streifen, was sehr schwierig war, da das Messer stumpf, der Tisch holprig und die Beleuchtung erbärmlich war. Es ging ein ganzer Tag hin, bis wir eine kleine Rolle Streifen geschnitten hatten.
Grunden und ich machten uns Schuhe von derselben einfachen Form. Für das Innere derselben benutzten wir die jetzt gänzlich sohlenlosen lappländischen Schuhe. Diese versahen wir von innen wie von aussen mit Sohlen aus der Haut des ausgewachsenen Pinguins. Um diese Schuhe wurde das Fell eines jungen Pinguins geheftet, und aussen um das ganze herum nähten wir dann einen vollständigen Schuh aus Seehundsfell mit dazu gehörigen Seehundssohlen. Es geht schnell, die Herstellung eines solchen Schuhes zu beschreiben, aber es währte Wochen, bis er fertig war. 20-30 Stiche durch das steife Seehundsfell waren bei unsern mangelhaften Werkzeugen eine tüchtige Tagesarbeit.
Duse machte sich ein Paar ganz kunstgerechte Aussenschuhe mit Holzsohlen. Das Material dazu nahm er aus dem Boden eines unserer Brotfässer. Um das Seehundsfell an diese Sohlen zu befestigen, musste er rund um den Rand des harten Eichenholzes mit einem stumpfen Messer eine tiefe Rinne ausschneiden, in die das Seehundsfell hineingestopft und mit senkrecht eingeschlagenen Pricken aus Eichenholz befestigt wurde. In Anbetracht der Verhältnisse, unter denen diese Schuhe angefertigt wurden, waren sie eine ganz ausserordentliche Arbeitsleistung. Sie waren aber nicht viel stärker als unsere viel einfacheren Schuhe, denn das Seehundsfell nutzte sich am Rand der hölzernen Sohle stark ab. Einen grossen Vorteil gewährten sie indessen, nämlich den, dass sie die Feuchtigkeit weniger anzogen, denn bei Tauwetter schwammen nicht nur der Boden des Vorplatzes, sondern auch die Zeltpersenning im Schmelzwasser. Alsdann ging Duse trockenen Fusses auf seinen Holzschuhen umher, während unsere Seehundsfellstiefel uns ganz durchnässt und schlampig um die Füsse hingen.
An kalten Tagen hatten wir es viel besser. Die Schuhe froren da allerdings zu unförmlichen, grossen Klumpen zusammen, die sich aber doch besser regieren liessen, und in denen die Füsse sich einigermassen trocken hielten. Stets aber waren die Schuhe sehr glatt, so dass man bei den Wanderungen unzählige Male ausglitt und auf dem harten, glatten Boden hinschlug.
Als wir endlich gegen »Mittsommerzeit« alle drei unsere Schuhe fertig hatten, fühlten wir uns ruhig und zufrieden. Wir brauchten nicht mehr so schrecklich an den Füssen zu frieren wie bisher, und konnten nun unbehindert umherwandern, so lange das Wetter gut war, ohne befürchten zu müssen, dass wir den letzten Rest unserer zerlumpten Schuhe vorzeitig verschleissen würden. Aber die Freude war nicht von langer Dauer. Bald hatten die Seehundsfellschuhe ein Loch, und nun folgte ein Flicken ohne Ende. Aber wir schleppten uns doch mühselig den ganzen Winter damit hin, und das war ja die Hauptsache.
Als die kalten Stürme tobten, war die Hütte unser trauliches Heim, das wir in dankbaren Worten priesen. Als aber das wärmere Wetter kam, verfluchten wir sie als unausstehliches Loch.
Wir hatten zu Anfang des Winters die Vorstellung gehabt, dass wir gegen eine viel strengere, aber einigermassen gleichmässige, anhaltende Kälte zu kämpfen haben würden. Um uns gegen diese zu schützen, bedeckten wir nicht nur die Aussenwände. sondern auch das Dach mit einer Schneeschicht. Aber es währte nicht lange, bis das Tauwetter, im Verein mit der inneren, durch das Kochen ausgestrahlten Wärme der Hütte, diese Schneedecke in einen lebhaften Schmelzzustand versetzte, so dass durch die unzähligen kleinen Löcher in der alten Persenning ein förmlicher Regenguss herabströmte.
Nordwinde mit einer Temperatur von um und über Null, und Südweststürme mit schneidender Kälte lösten einander jetzt in schneller Folge ab. Ein Auszug aus dem Tagebuch beweist dies besser als jegliche Beschreibung:
März 18. bis 21. | Schneesturm. |
März 23. bis 24. | Schneesturm. |
April 2. bis 3. | Tauwetter, heftiger Tropfenfall vom Dach, grosse Wasseransammlungen auf dem Vorplatz und dem Zeltboden. |
April 10. | Starker Schnee-Regen |
April 12. | Schneesturm. |
April 15. | Tauwetter, heftiges Tröpfeln und Fliessen des Wassers auf den Fussboden. |
April 21. bis 24. | Schneesturm. |
Mai 8. | Warmes Wetter, Tropfenfall im Zelt. |
Mai 9. bis 11. | Schneesturm. |
Mai 14. | Tauwetter. |
Mai 19. | Starkes Tauwetter und heftiger Tropfenfall. |
Mai 24. | Schneesturm. |
Mai 27. | Schneesturm. |
Mai 29. | Schneesturm. |
Mai 30. bis Juni 1. | Tauwetter. |
Juni 2. bis 6. | Schneesturm. |
Diese Angaben mögen als Probenkarte für den schnellen Temperaturwechsel des Vorwinters dienen. Späterhin im Winter wurde das Tauwetter seltener, aber das Tagebuch spricht doch sogar von Regen im August! Es war der Fluch unseres Daseins, dass wir uns den einen Tag gegen die schneidende Kälte des Sturmes, den andern gegen das fliessende Schmelzwasser verteidigen mussten.
Zuweilen überfiel uns das Tauwetter, während wir schliefen. Duse, der an der niedrigsten Stelle des etwas abschüssigen Zeltbodens lag, erwachte dann infolge eines sonderbaren Kältegefühls und fand, dass er mitten in einer Wasserlache lag, die sich am Zeltboden angesammelt hatte. Grosse Wassertropfen fielen überall von der Decke in schnellem Tempo auf uns herab, bald auf die Schlafsäcke, bald gerade in unsere Gesichter. Wir suchten, so gut wir konnten, diesem abscheulichen Tropfenfall zu entgehen, indem wir überall, wo das Wasser durch das Zeltdach sickerte, leere Konservendosen, aufhängten. Diese Tropfensammler mussten dann oft geleert werden, was Anlass zu allerlei Unannehmlichkeiten gab. Im übrigen bahnte sich das Wasser fortwährend neue Wege durch das Zelttuch, so dass das Dach schliesslich voll baumelnder Dosen hing, die einer Sammlung bunter, leider aber beständig dunkler Laternen glichen.
Eines Nachts wurden wir alle bis auf die Haut durchnässt von dem Wasser, das über den Fussboden strömte. Die Schlafsäcke waren an der unteren Seite ganz nass, und ein grosser Teil des Pinguinfelles, das wir als Unterlage für die Schlafsäcke auf dem Boden ausgebreitet hatten, mussten wir für immer wegwerfen. Mehrere Nächte dauerte es, bis wir mit unserer Körperwärme die Säcke einigermassen wieder getrocknet hatten, und es gehörte nicht wenig Selbstüberwindung dazu, um sich des Abends zu entschliessen, in den nassen, kalten Sack zu kriechen.
Duse, der den schlechtesten Schlafplatz hatte, litt sehr unter der Nässe. Schliesslich kam er auf den guten Einfall, ein paar Fassböden unter den Schlafsack zu legen. Er lag nun einigermassen trocken und zog zweifelsohne das etwas harte Lager der beständig drohenden Gefahr einer neuen Durchnässung vor.
Die Tropftage gaben uns einen unfreiwilligen Anlass, den Zeltboden zu scheuern. Hier und dort schöpften wir das Wasser mit Blechlöffeln aus den Vertiefungen, im übrigen aber besorgten wir das Reinmachen, indem wir den Fussboden mit einem Messer abkratzten! Auf diese Weise sammelten wir jedesmal mehrere grosse Blechdosen voll von einer zähen, schmierigen, halb flüssigen, schwarzen Masse, die aus Wasser, Seehundsfett, Russ, Fellstücken und andern Abfällen bestand.
Auch wenn es in der Hütte nicht eigentlich taute, schmolz doch der Reif unter der Decke, und die Feuchtigkeit sickerte an den Zeltwänden und den steinernen Mauern herab, um am Fussboden, wo die Temperatur unter Null betrug, zu einer dickeren Eisschicht zu gefrieren. Von Zeit zu Zeit trugen wir ganze Ladungen dieser schmutzigen Eismasse hinaus.
Wenn das Tauwetter mit Tropfenfall und plätschernden Wasserlachen einsetzte, wurde das Leben in der Hütte unerträglich. Die beiden, die für diesen Tag frei waren, überliessen dann in der Regel den armen Koch seinem traurigen Schicksal und wanderten ins Freie.
Überhaupt hielten wir uns, soweit das Wetter es erlaubte, im Freien auf. Es war eine förmliche Erquickung, an schönen Tagen einsam über die Hügel dahinzuwandern, zu dem gefrorenen See hinauf oder über das ebene Eis in der Bucht.
Hier war der Schnee immer rein und weiss, bei Sonnenuntergang erglühte der Horizont hinter den Schneezinnen der Joinville-Insel im tiefsten Karmin, und in dem Mondschein der klaren, schönen Abende lag das öde, weisse Land zauberhaft träumerisch in windstiller Ruhe da.
In diesen Stunden einsamen Wanderns schwand der Druck unseres elenden Daseins, und die karge Härte der Gegenwart vergessend, schweifte der Gedanke zügellos dahin, weit, weit fort zu glücklicheren Jahren und in schönere Gegenden.
Oft bemächtigte sich unser ein Gefühl der Unlust beim Anhören der beständig gleichklingenden Stimmen der Kameraden mit den wohlbekannten Geschichten, die wieder und wieder auftauchten, und es erschien völlig sinnlos, eine Unterhaltung zu führen, die gleich wieder in die alte ausgetrocknete Bahn überging. Da tat es denn wohl, einige Stunden allein im Freien umherstreifen zu können.
Nie machte sich jedoch unter uns etwas von dem übellaunigen, sich stetig steigernden Unwillen von Mann zu Mann geltend, worüber von andern Überwinterungen so viel berichtet wird, obwohl diese unter weit günstigeren äusseren Verhältnissen gelebt haben. Im Gegenteil, im Laufe der Zeit, als wir einander mit allen unsern verborgenen Launen und Stimmungen immer genauer kennen lernten, schlossen wir uns um so enger aneinander an, in den harten Tagen, die uns beschieden waren, eine Brüderschaft bildend, deren wir uns in kommenden Jahren sicher alle drei mit Freuden erinnern werden. Ich für meine Person habe ganz besondern Grund zur Dankbarkeit gegen meine Unglücksgefährten, die mir ein nie versagendes Wohlwollen entgegenbrachten, obwohl sie allen Anlass hatten, mir zu grollen, da ich sie mit einer unzulänglichen Ausrüstung zu dem abenteuerlichen Unternehmen veranlasst hatte, das zu unserer Überwinterung führen sollte.
Freilich kam es im Laufe des Winters mehrmals vor, dass wir in Streit gerieten, bald über irgend eine Kleinigkeit in unserm täglichen Leben, bald über Sachen, die Tausende von Meilen entfernt lagen. Dann fielen wohl auf beiden Seiten unüberlegte, hastige Worte in schnellem Wechsel. Aber diese Zwistigkeiten wirkten nur wie auffrischende Gewitter, die das dumpfe Einerlei unseres Zusammenlebens unterbrachen.
Schon am nächsten Tage folgte die Versöhnung, bei der sich die Hände der Streitenden begegneten, der Blick feucht und die Stimme warm wurde, während wir uns darüber einigten, dass es notwendig sei, in gutem Einvernehmen einander zu helfen, das Elend so erträglich wie möglich zu machen.
Als kostbaren Gewinn für das ganze Leben haben wir aus diesen ernsten Tagen auch die Gewissheit mit heimgebracht, dass die ehrliche und warme Kameradschaft eine starke und stolze Kraft ist, wohl im stande, die bösen Mächte der Isolierung und der äussersten Not zu bezwingen.