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Der Active-Sund

XXIV. Winterleben auf der Paulet-Insel.

Die Tage kriechen mit schneckenähnlicher Langsamkeit dahin, das Wetter hält uns fast immer gefangen. Der Tod hat seine schwere Hand auf alles rings umher gelegt. Kaum dass ein Vogel an den Felsabhängen zwitschert, nur die kleine Chionis hüpft um unser Wohnhaus herum, aber es ist, weiss Gott, nicht viel, was die Pauletwilden für sie hinauswerfen. Was nur irgend essbar ist, behalten sie für sich.

Rings um uns her herrscht Winter. Das Eis liegt fest zwischen unserer Insel und der Dundee-Insel, so dass der Schnee jetzt direkt von dem Gletscher der letzteren nach unserm Hause herunterwirbelt. Durch das Zufrieren ist uns aber doch ein Vorteil erwachsen: unser Promenadenplatz hat sich erweitert, wir sind nicht mehr an den Strandstreifen der Paulet-Insel gebunden. Unser neues Terrain ist nicht so einförmig, wie man glauben sollte. Da sind Bergketten und Talstriche, Kämme und Gipfel, Schluchten und steile Abhänge. Dazwischen sind Eisberge eingestreut, die auf dem Meeresgrunde fussen, Stützpfeiler für das gebrechlichere Treibeis. Da sind Spalten und Löcher, in denen der Seehund schnauft, und wo jeden Tag ein wachsames Auge seine Bewegungen verfolgt.

Weiss und tot liegt die Natur da. Mit antarktischer Gewalt rasen die Schneestürme, höher und höher wachsen die Schneeschanzen um unsere Hütte herum an. Bald ragen nur noch die Giebel und das Dach aus dem Schnee auf; die dürfen nicht einschneien, denn einerseits wollen wir gern das wenige Tageslicht geniessen, das die immer kürzer werdenden Tage gewähren, anderseits kann das Dach keine Schneemassen tragen. Von der Tür aus haben wir einen Gang durch die grosse Schneewehe gegraben; leider waren wir mit den Windverhältnissen hier nicht bekannt, sonst hätten wir die Tür an eine andere Stelle gelegt. Jetzt weht der Gang immer wieder zu, und wir haben oft Tag und Nacht die Mühe, uns hinaus und wieder hinein zu schaufeln.

Die Zeit wurde uns ein wenig lang. Aber es gibt etwas in der Welt, was eine gewisse Macht besitzt, die Tage schnell entschwinden zu lassen, nämlich die Hoffnung auf etwas schönes. Und wir lagen hier und sehnten uns, sehnten uns nach Ostern, immer glühender wurde diese Sehnsucht mit jedem Tage, der das grosse Ereignis – den Reisbrei! – näher rückte. So bescheiden war das Ziel unseres Sehnens! Aber was ist Pinguinsuppe gegen den blossen Gedanken an Reisbrei!

Der Abhang

Der Abend vor Ostern, der grosse Tag, kam heran. Ich zog meine dicke Joppe und meine Pelzhandschuhe an und begab mich auf die weite Wanderung, – weit nach unsern Begriffen. Ich wollte unsere Insel genauer studieren und fing an, darauf herumzutappen. Jetzt fühlte ich erst so recht, wie matt und elend ich geworden war. Bei jedem zehnten Schritt musste ich stehen bleiben und mich auf einen Stein setzen, um auszuruhen, so litt ich an Herzklopfen und Atemnot.

Es gibt rings umher auf der Paulet-Insel viel Schönes zu sehen. Ich war nach Nordosten zu in die Ebene hinabgestiegen. Sie ist wie ein See mit langen Dünungen, die plötzlich in Stein verwandelt sind. Ein paar Fuss hohe und einige Fuss breite Hügelrücken ziehen sich an ihr entlang. Dort nisten die Pinguine, und vielleicht haben sie die Erhöhungen geschaffen. Der Weg geht einen Hügel hinan, und ihm folgend, gelange ich an einen schmalen, kleinen, flachen Streifen. Der Berg schiebt sich vor und fordert Platz, die Ebene drängt sich an seinem Fuss zu einem schmalen Streifen zusammen. Nun bin ich am Abhang angelangt. Hier sind viele Abhänge und steil abfallende Bergwände, aber nur einer ist für uns »der Abhang«. An seiner unebenen Oberfläche zeigt der Basalt seine schönsten Zerklüftungen, ein Fächer neben dem andern, aus schmalen Strahlen zusammengesetzt. Wenn die Windstösse gegen die steile Mauer rasen, werden oft Stücke davon losgerissen und stürzen hinab, die Passage oft sehr unsicher machend. Der Weg geht an einer steilen Schneeschanze entlang, an deren Fuss das Treibeis liegt, während an der andern Seite steile Felsabhänge aufragen, die von freistehenden, malerischen Zinnen und Türmen gekrönt sind.

Über mir ertönt ein Zwitschern im hohen Diskant. Um die schwarzen Zinnen schweben einige zierliche kleine Vögel. Es ist die Pagodroma nidea, ein kleiner Sturmvogel, der zu den allerschönsten Erscheinungen hier unten im Eise gehört, leicht und geschmeidig, mit langen, spitzigen Schwingen und seidenglänzenden Federn, weiss wie Schnee, während Schnabel und Füsse schwarz wie Ebenholz sind. Ich blieb eine ganze Weile stehen und bewunderte ihr Spiel um die drohenden Burgruinen.

Jetzt befinde ich mich auf der andern Seite der Insel. Da drüben im Süden hinter dem Eisfelde blaut ein Schimmer von Land. Das ist das Land, wo wir unsere Kameraden vermuten, wo sie umhergehen und sich fragen: »Wird denn die ›Antarctic‹ gar nicht mehr kommen?«

Jetzt fängt der Eismantel der Dundee-Insel an, hinter den Felsabhängen aufzutauchen, und bald sehe ich den Hügel, auf dem unser Haus liegt, schwer zu unterscheiden, so verschneit wie alles ist.

Daheim herrschte bei meiner Rückkehr grosse Freude; sie hatten gerade einen Seehund erlegt und waren nun dabei, ihn abzuziehen. Die Arbeit war bald getan, und wir krochen in unsere Schlafsäcke, andachtsvoll der Ostermahlzeit harrend. Die Unterhaltung drehte sich ausschliesslich um den Reisbrei.

Es herrschte allgemeine Feststimmung. Unter Scherzen und Lachen wurden die Essgeräte hervorgeholt, wir reinigten sogar unsern Teller, wozu ich meinerseits ein kohlschwarzes, von Fett und Russ glänzendes Taschentuch benutzte. Die Tür tat sich auf, die Unterhaltung verstummte; eine gewisse Ehrfurcht lag in diesem Schweigen.

Heute gab es kein gewöhnliches, einfaches Steak. Eine ganze Reihe von Seeschwalben hatten ihr Leben lassen müssen, und wir hatten uns den Luxus geleistet, sie in Margarine zu braten. Unendlich sind die Lobreden über das unserer Ansicht nach ungeheuer üppige Gericht. Plötzlich aber wird wieder alles still, die Küchentür tut sich zum zweitenmal auf, und herein schreitet der Koch mit dem grossen, schweren Breitopf. Ein herrlicher Duft durchströmt das Zimmer, der Dampf erfüllt den niedrigen Raum, und die Teller werden herumgereicht. Ein jeder sehnt sich danach, dass die Reihe an ihn kommt.

Nie im Leben hat uns etwas so gut geschmeckt! Aber es wäre eine zu grosse Verschwendung gewesen, alles auf einmal zu essen; völlig gesättigt, aber mit einem Blick des Bedauerns, stellte ich den Teller auf das Wandbrett hinter mir, ein klein wenig für den morgenden Tag aufbewahrend.

Jetzt kommt eine angenehme Überraschung. Der Steuermann, mein Nachbar, wühlt eine Weile in seinem Kleidersack und bringt schliesslich einen alten Schuh zum Vorschein. Ich mache grosse Augen, als er aufgeschnürt wird und es sich herausstellt, dass er Zigarren enthält. Eine Zigarre! Ich liege gegen das Kopfende zurückgelehnt und blase die leichten Rauchwolken vor mich hin, die leise zu der Decke aufsteigen und sich mit dem dichten Qualm vermischen, den unsere Tranlampen ausströmen. Wir hatten einige kleine, einfache Lampen mitgenommen, die im Maschinenraum der »Antarctic« hingen, und brannten nun Tran darin. Das ging ausgezeichnet, abgesehen von dem fürchterlichen Qualmen. Alles, was wir besassen, selbst der eigene Körper, wurde vollständig mit Russ überzogen. Aber wir wollten ungern auf diese spärliche Beleuchtung verzichten. Das Tageslicht drang nur schwach durch die kleinen Fenster, die trotz all unserer Bemühungen oft ganz oder doch zum Teil zugeschneit waren.

Der Tabakrauch im Zimmer spielte nur während der ersten Wochen eine Rolle. Der kleine Rest von Tabak, der sich beim Schiffbruch auf der »Antarctic« befand, wurde mit an Land genommen und gleichmässig unter uns verteilt. In Bezug auf Kautabak war es noch schlechter bestellt. Nur ein paar von den Leuten hatten noch eine Kleinigkeit davon der gemeinsame Vorrat an Bord ward aufgebraucht, während wir auf die Entscheidung warteten. Durch einen Zufall waren einige Pakete mit Schnupftabak gerettet, und davon erhielt jeder seinen Anteil, man mochte schnupfen oder nicht. Aber wir wussten ihn trotzdem zu verwenden. Die Kauer benutzten ihn an Stelle von Kautabak, die Raucher vermischten ihren schwachen Virginia zur Hälfte mit Schnupftabak. Und das geht sehr gut, wie ich aus Erfahrung weiss.

Das Sparen ist hier in der Welt nicht immer leicht. Der Tabak da unten im Elend regte die Leute mehr denn je an, deswegen rauchte man im allgemeinen leichtsinnig drauf los und entdeckte eines schönen Tages, dass der Vorrat unwiederbringlich verbraucht war. Mit Wehmut betrachtete der Verschwender jetzt seine sparsameren Kameraden, zu denen auch ich mich zählen konnte. Hin und wieder bot man diesem oder jenem eine Pfeife an, um nicht die abscheulichen Surrogate für Tabak zu sehen, die bald zur Anwendung gelangten. Nie werde ich den alten Haslum vergessen, wie er dastand und eine Rauchwolke von haarsträubendem Duft in die Luft entsandte; er rauchte abgebrühte Teeblätter, mit Schnupftabak vermischt. Und Martin, der schon lange im voraus auf eventuell kassierte Pfeifen abonnierte! Wenn er einer solchen habhaft werden konnte, kaute er den Kopf derselben auf. Ein Matrose ohne Kautabak ist gar nicht zu denken! Es war ein wahres Vergnügen, zu sehen, wie Martins altes, verschmitztes Gesicht sich aufklärte, wenn einer seiner reicheren Unglücksgenossen ihm einen Priem reichte. Er genoss ihn mit Verstand und mit Gefühl.

Dasselbe tat ich mit meiner Osterzigarre. Allmählich fing man an, stürmisch die Abendunterhaltung zu fordern. Von Musik konnte leider keine Rede sein. Die Violine des Steuermanns war durch die Feuchtigkeit aufgelöst und für immer verstimmt. Haslums Handharmonika, die ihren Platz oben unter der Decke gefunden hatte, ging ihrem Ende mehr und mehr entgegen; Reinholdz hatte eine Mundharmonika, aber gewöhnlich waren seine Lippen zu steif vor Kälte, um sie traktieren zu können. Wir mussten unsere Zuflucht also zur Bibliothek nehmen. Durch Zufall kamen einige Bücher mit an Land. Da war Orzeskos »Hexe«, Runebergs »Lieder des Fähnrich Staal«, Nansens »Auf Schneeschuhen durch Grönland« und Kapitän P. Möllers »Reise in Afrika«. Ausserdem war da ein englisches Buch »Bob Martin's little girl«, voll spannender Szenen. Es war mein Amt, so lange die Lektüre vorhielt, jeden Abend ein wenig laut vorzutragen. Nie werde ich diese Winterabende vergessen; ich sass dort zusammengekrochen im Schlafsack, das Buch und eine Stearinkerze auf dem Knie, während die Reifflocken vom Dach schimmernd auf die Blätter hinabtanzten, und rings umher lagen die neunzehn und lauschten andächtig Runebergs herrlichen Liedern oder ergötzten sich an Nansens viel bewunderten Abenteuern. Als die schwedischen Bücher gelesen waren, kam die Reihe an »Bob Martin's little girl«, das Ende fehlte, aber man konnte leicht erraten, dass die Liebenden nach ein paar Seiten voll weiterer Prüfungen einander schliesslich doch »kriegten«. Es war oft kalt, so kalt, dass ich jedesmal, wenn ich eine Seite umwenden wollte, die Hände vorher einen Augenblick im Schlafsack auftauen musste.

Heute kam Nansen an die Reihe! Wie haben wir nicht über Sverdrup gelacht, der zweimal hintereinander frühstückte, als sie glücklich an Ort und Stelle angelangt waren! Wartet nur, wenn wir erst an Ort und Stelle angelangt sind, werden schon zwei oder drei Frühstücke niedergleiten!

Am Ostertage lag eine förmliche Feiertagsstimmung über der Insel. Man wusch den ärgsten Schmutz vom Gesicht und freute sich herzlich über die Veränderungen, die Wasser und Handtuch hervorzubringen vermögen. Einige wechselten auch das Hemd; ich hatte meins erst 2½ Monate getragen, da wäre das eigentlich ein Luxus gewesen.

Das Fest ging zu Ende, die gewöhnliche Diät begann wieder, aber in der Ferne winkte ein neuer Stern: Reisbrei zu Pfingsten!

Wie sich unser tägliches Leben während der folgenden Wintermonate gestaltete, ergibt sich am besten aus der Schilderung eines beliebigen Wintertages. Nehmen wir an, dass es windstill, kalt und klar ist, was leider nicht oft der Fall war.

Die Uhr mag ungefähr ½8 sein. Meine Uhr ist schon lange in Unordnung, ich puffe deswegen meinen Freund Karl Andreas, der zu meiner Linken liegt, in die Seite, um zu erfahren, wie spät es sein mag. Die Decke ist glitzernd weiss, eine anständige Schicht aus Reif bedeckt sie. Während der Nacht hat es auf unsere Schlafsäcke herabgeschneit, die weiss in der Morgendämmerung daliegen. Auch die Mauern sind mit Reif überzogen, und alle Spalten sind voll Eis, das nach jedem Tauwetter dicker friert. Natürlich muss man den Sack oft dicht um den Kopf schliessen, um die Wärme darin zurückzuhalten. Man atmet infolgedessen durch den Filz und das Segeltuch, wo der Atem zu Eis gefriert; ich habe oft beim Erwachen eine förmliche Eiswölbung über dem Gesicht gehabt. An wirklich kalten Morgen sind grosse Teile des Sackes steif wie Blech. So gut es geht, suche ich dem abzuhelfen. Mit meinem Löffel kratze ich das Eis von dem Innern des Sackes und den Reif von der Aussenseite ab. Ich habe auch einen alten, allmählich in Fetzen verwandelten Gummimantel darüber gelegt, aber der wurde bald durch und durch nass und diente nun als Sammelplatz für alles herableckende Wasser, das wieder an den Schlafsack abgegeben wurde.

Endlich ist die Uhr acht, und falls das Wetter es erlaubt, wandern Andersson und ich hinaus, um nach dem Thermometer zu sehen. Das kann unter Umständen ein Vergnügen sein, aber – nach einem Schneesturm! Da ist der Gang durch die Schneeschanze bis an die Tür mit hart gepacktem Schnee angefüllt, beim Öffnen starrt mir eine hohe, weisse Wand entgegen. Ist eine Schaufel zur Hand, so schlage ich ein Loch durch den Schnee und krieche hinaus; oft aber bleibt mir nichts übrig, als mich mit dem Kopf durchzubrechen und zu sehen, wie ich mit dem Körper nachkomme. Wenn ich wieder hineinkomme, tönen mir dumpfe Fragen aus der Tiefe der Säcke entgegen. Alle sind neugierig, was das Thermometer sagt; den ganzen Tag hindurch wird fleissig danach gesehen. Dann krieche ich wieder in den Schlafsack, ganz durchgefroren, denn in der Regel hat man sich nicht ordentlich angezogen, weil es zu viel Umstände macht; nur ein Paar Galoschen Die Galoschen haben ihre ganz besondere Geschichte. Als die »Antarctic« in Göteborg beladen wurde, kam aus Versehen eine Kiste mit Galoschen mit aus dem Speicher und wurde ganz unten in den Lastraum gestellt. Verzweifelt schrieben die Eigentümer danach: wir konnten unmöglich das annektierte Gut heraussuchen, versprachen aber, dasselbe bei unserer Heimkehr zurückzugehen. Beim Untergange des Schiffes nahmen wir mehrere Paar Galoschen mit an Land, wo sie zu so unendlichem Nutzen gereichten, dass die Eigentümer sich herzlich über das Malheur freuen müssen. werden übergezogen, und dann gehts hinaus.

Die Paulet-Hütte im Winterkleide

Da ich mich am Abend vorher schon um 7½ Uhr hingelegt und fast zwölf Stunden geschlafen habe, will es jetzt nicht mehr recht gehen. Ich drehe und wende mich, schlafe im glücklichsten Falle noch einen Augenblick wieder ein, erwache aber von einem scharrenden Geräusch. Es ist der »Wassermann«, der das Eis aus dem Eimer losbricht, um frisches Wasser zu holen, das uns glücklicherweise der Kratersee noch immer liefert, wenn es auch schlecht zu erreichen ist.

Ich fange schon an, mich nach Essen zu sehnen und bin wirklich in der Lage, meinen Hunger für den Augenblick zu stillen. Auf meinem Teller liegt ein Stück Fleisch von der gestrigen Suppe; es ist natürlich steinhart, aber dafür gibt es Rat. Ich stecke es in die Kaffeetasse und lege diese in meinen Schlafsack, und nach ein paar Stunden ist das Fleisch aufgetaut und gleitet angenehm herunter. Inzwischen ist der Koch hinausgegangen, und es währt nicht lange, bis man seine regelmässigen Schritte draussen vor dem Hause hört. Und nun liege ich da und sehne mich, sehne mich buchstäblich, intensiv nach dem warmen Kaffee.

Da vernehme ich wieder einen wohlbekannten Laut, der bis in die Tiefe des Schlafsacks an mein Ohr dringt. Es ist der Steward, der die Brotrationen abwiegt, einen Schiffszwieback und ein kleines Stück Margarine. Das Wasser läuft einem förmlich im Munde zusammen, wenn man an das alles andere überstrahlende Brot denkt. Ich habe stets, lange ehe ich an Bord der »Antarctic« kam, eine grosse Vorliebe für Schiffszwieback gehabt, so dass es für mich keine Entbehrung war, kein anderes Brot zu bekommen. Als Gewicht wurde ein ganzer Zwieback benutzt, wodurch ja einem jeden Gerechtigkeit widerfuhr, was hier von grösserer Wichtigkeit war als sonst überall. Sobald das Brot ausgeteilt wird, entsteht Leben und Bewegung. Ein struppiger, schmutziger Kopf nach dem andern guckt aus den Säcken heraus, und ein jeder dreht und wendet seine Brotstücke. Man versucht nämlich, ob es wohl möglich ist, ein kleines Stück für unvorhergesehene Fälle aufzusparen. Hat man das Glück gehabt, einen ganzen Zwieback zu bekommen, so ist das am leichtesten. Denn dann legt man den ganz einfach weg, falls man einige einzelne Stücke hat, die man statt dessen essen kann. Es ist tragikomisch, das Gesicht dessen zu sehen, der einen ganzen, schönen Zwieback bekommen hat und nun nichts besitzt, was er an dessen Stelle essen könnte, mit einem schweren Seufzer seinen Schatz zerbrechen muss.

Platz für den Koch! Der Kaffee kommt! Tassen und Becher werden hingehalten, und gleich strömt der kochend heisse Trank hinein, unsern ganzen erstarrten Körper erwärmend. Wir trinken abwechselnd Kaffee und Tee, ja, des Sonntags sogar Kakao. Das klingt ja sehr schön, aber – man muss entweder die Wochentage zählen oder ein Feinschmecker sein, um die Getränke von einander zu unterscheiden. Der Tee war aber doch entschieden das schlechteste.

Da es schönes Wetter ist, bereiten wir uns nun darauf vor, auszugehen, und ziehen uns danach an. Die grösste Schwierigkeit verursachen allemal die Stiefel; sie sind hart wie Eisen, man muss sie ausbeulen und sie auf alle mögliche Weise künstlich drücken und klemmen, um sie nur an zu bekommen. Der Rock ist auch natürlich wieder und wieder durchnässt und hat infolgedessen am meisten Ähnlichkeit mit einem Panzerhemd, denn Wasser ist hier gleichbedeutend mit Eis. Aber allmählich begeben wir uns an unsere verschiedenen Beschäftigungen im Freien. Einige nehmen ihre Angel und gehen aufs Eis, um sich an ein Seehundsloch zu stellen und dort einige Stunden mit den Füssen zu stampfen in der schwachen Hoffnung, ein Fischfrühstück zu ergattern. Meine Stiefel, die sehr dünn und für Schuhheu eingerichtet sind, erlauben mir nicht, lange still zu stehen, wenn es kalt ist. Ich gehe deswegen in der Regel umher und sammle die gefangenen Fische auf und trage sie zum Ausnehmen nach Hause.

Oder auch ich nehme Teil an der Suche nach einem Seehund. Wir streifen lange auf dem Eis umher – leider aber werden unsere Bemühungen nur selten mit Erfolg gekrönt.

Im ganzen ist es ein trübseliges Vergnügen, draussen umherzugehen und zu klettern. Auf der andern Seite ist der Schlafsack auch nicht gerade verlockend, aber einen andern Zufluchtsort gibt es nicht. Also hinein und aus den Kleidern heraus. Es ist kalt und windig, und ein jeder zieht sich in seine Höhle zurück. Jetzt beginnt ein neues Warten. Es währt noch ein paar Stunden, ehe das Essen kommt, das wahrscheinlich nur aus Pinguinsuppe besteht, aber doch jedenfalls eine angenehme Abwechslung bildet. Es ist kein lieblicher Duft, der uns aus dem Kessel entgegenströmt, wenn er hereingetragen wird, auch sieht das Essen keineswegs verlockend aus auf dem Teller, wo ein paar grobe Vogelknochen und Stücke Seehundspeck in einer dünnen, bräunlich-gelben Suppe schwimmen. Aber es geht alles. Und hat man erst den Inhalt der beiden Teller heruntergeschluckt, so sieht gar mancher voll Wehmut dem leeren Kessel nach, der hinausgetragen wird. Zu Anfang war die Pinguinsuppe gar nicht so schlecht, obwohl sie mit Seewasser gesalzen wurde. Da waren die Pinguine ganz frisch; ihre Herzen und Lebern, die sorgfältig gesammelt wurden, galten als Leckerbissen. Die Schneeschanze schien indes kein so gutes Konservierungsmittel zu sein, wie wir geglaubt hatten; mit jeder Woche, die verging, wurde das Fleisch weniger appetitlich, und schliesslich gehörte wirklich Hunger dazu, um dies Gericht herunterzubringen.

Es ist eben erst 6 Uhr. Wie lang der Abend wird! Hätte man nur hinreichend Tabak, aber jetzt ist es schon ein unerhörter Genuss, wenn man nur einen kleinen Zug aus seiner Pfeife tun kann. Und dann liegt man wieder da und starrt nach der Decke hinauf, wo sich der Reif mehr und mehr ansammelt, denn es wird mit jedem Tage kälter. Niemand aber versinkt in Grübeleien, im Gegenteil, ein jeder tut, was er kann, um fröhlich und unterhaltend zu sein, und der Gesprächsstoff geht niemals aus in der Paulet-Hütte, wie auch Johansson niemals aufhört, seine Melodien zu trällern. Es ist ein grosser Segen, immer guter Laune zu sein, wenn man die Lage auch für ganz verzweifelt hält. Wir zeichnen uns übrigens alle durch einen gewissen Galgenhumor aus.

Eine Stunde Vorlesen regt sehr an, aber auch mit diesem Genuss müssen wir sparsam umgehen, obwohl es oft ganz schwer ist, das Buch wegzulegen. Und dann liegen wir da und träumen noch eine Weile, und allmählich wird es Schlafenszeit. Der Entkleidungsprozess ist gerade nicht sehr umständlich, mühsamer hingegen ist es, das Bett zu ordnen. Das Kopfkissen ist eine Mosaikarbeit aus Kleiderlumpen, der Segeltuchsack hat die Neigung, herabzurutschen, der Filz hat sich verwickelt. Schliesslich aber ist alles in Ordnung, man kriecht hinein, stopft den Filz um sich herum, zieht das Segeltuch über den Kopf und hat jetzt nur den einen Wunsch, schlafen zu können. Zuerst muss man aber doch eine Lage finden, die nicht zu unbequem ist. Das ist leichter gesagt, als getan. Die Unterlage besteht aus Steinen, und zwar aus spitzen, rauhen Steinen, und ist nur mit ganz dünnen, alten Kleidungsstücken bedeckt. Oft, wenn ich mich hinlegte, dachte ich an Hamlets Worte: »Sterben – schlafen –, nichts weiter! – und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stösse endet. Sterben – schlafen – schlafen! Vielleicht auch träumen!«

Viele hundert Träume sind auf unserer Insel geträumt worden. Ich weiss nicht, ob sie dazu beitrugen, uns unser Dasein zu erleichtern. Sie drehten sich alle um zweierlei: um Essen und um Entsatz. Ach, man konnte sich ein ganzes Diner erträumen, vom Schwedentisch bis zum Nachtisch, und arg enttäuscht erwachen. Wie unzählige Male sah man nicht das Entsatzschiff, bald einen grossen Dampfer, bald eine kleine Schaluppe. Dieser oder jener unter uns behauptete, seine Träume gingen in Erfüllung, und berichtete dann von einem mehr oder weniger fernen Tage, an dem uns ganz bestimmt ein Schiff abholen würde. Wie deutlich sah ich es nicht selbst im Schlaf, auf den Wellen schaukelnd, die Tonne oben an der Mastspitze, und in der Tonne ein bekannter! Ja, auf tausenderlei Art ward dieser Traum gedreht und gewendet.

Eine Tranlampe schimmert matt durch das qualmgefüllte Dunkel. Nur die Atemzüge der Schlafenden ...

Auf diese Weise verging ein Tag, vergingen viele Tage mit der einzigen Abwechslung, dass das Wetter oft schlecht war und uns am Ausgehen hinderte. Solche Tage waren nicht gerade erbaulich, die Zeit wurde uns länger im Sack als im Freien, und zuweilen, wenn dieser Zustand vier bis fünf Tage anhielt, konnte man sich wohl in den Schneesturm hinausbegeben, um nur nicht immer im Sack zu liegen. Man erwachte und sah, dass die Decke hin und her schaukelte. Das verhiess nichts gutes, aber einen klaren Überblick über die Verhältnisse gewann man erst, wenn man hinauskam. Nur mit Mühe konnte man sich aufrecht halten, der Wind peitschte Einem Millionen kleiner Eisnadeln ins Gesicht; der Schnee füllte die Tür in wenigen Minuten aus, und durch den Schornstein wimmelten unzählige Flocken herein. Es gehörte die ganze Geduld des Kochs dazu, um am Morgen nach oder, was noch schlimmer war, während eines Schneesturmes mit der Bereitung der Speisen zu beginnen. Der Herd war in eine Schneeschanze verwandelt, die Kaffeekessel waren eingeschneit, ebenso der Speck. Alles wurde durch und durch nass, sobald der Schnee schmolz. Und dann kam ein ununterbrochener Strom durch den Schornstein herab. Wieder und wieder war das Feuer nahe daran, zu verlöschen, ja, zuweilen erlosch es wirklich, trotz Johanssons praktischer, drehbarer Schornsteinkappe. Schändlich kalt war es da draussen, nie aber beklagte sich der Koch. Nein, er war zu bewundern, und stets werde ich seiner als eines Ehrenmanns und tüchtigen Burschen gedenken.

Andersson und ich hatten jeder ein paar Bücher gerettet, er zoologische, ich botanische. Wenn wir gezwungen wurden, zu Hause zu bleiben, beschäftigten wir uns in der Regel mit diesen Büchern, um uns die Zeit zu vertreiben und um unsere Kenntnisse aufzufrischen, was sehr heilsam war.

Gar mancher unserer Unglücksgefährten hat uns um unsere Lektüre beneidet. Die meisten hatten absolut nichts zu tun und versuchten, die Unterhaltung mit Schiffergeschichten im Gange zu halten, von denen eine schlimmer war als die andere. Nur Haslum hatte etwas zu tun, – er nähte, wie immer, Schuhzeug. Kapitän Larsen verfügte über einen unendlichen Vorrat von Geschichten aus seinen Jahren als »Vorsteher des Walfischfanges«, und in der Regel begann er mit den Worten: »Weisst du noch, Anton, damals, als wir –« Anton war viele Jahre lang als Bootsmann mit Larsen gefahren.

Nicht alle Tage lebten wir so spartanisch. Der Sonnabend war der grosse Tag der Woche, denn wer da nicht satt wurde, hatte sich selbst die Schuld beizumessen. Das Mittagessen bestand nämlich aus einer unendlichen Menge Seehundsteaks und einem Teller sogenannter Fruchtsaftsuppe. Ja, Suppe war es wohl, aber der Fruchtsaft? – Da das Braten im Wohnraum und auf dem Primusbrenner vor sich ging, wurde es als die wichtigste Zeremonie betrachtet. Der Reif musste von der Decke gekratzt werden, denn sonst bildete er bald eine Eismasse, die langsam in Form von Wasser auf die Schlafsäcke heruntertropfte, jeder von uns nahm seinen Teller und seinen Löffel und kratzte die Decke über seinem Platz rein. Es gelang uns jedoch niemals, alles zu entfernen, und gegen Mittag begann der Tropfenfall; es war sehr ergötzlich, alle die Blechgefässe zu sehen, die aufgestellt standen, um das Wasser aufzusammeln.

Mir graut, wenn ich an die Mittagsportionen denke: sieben bis acht grosse schwarze Beefsteaks, die in braunem Tran schwammen und mit gebratenen Speckstücken garniert waren. Man packte alles hinein und strahlte vor Wonne. Die Suppe hatte wenig Geschmack, und es gehörte ein starker Glaube dazu, um das Wasser in Saftsuppe zu verwandeln. Aber wir waren, gottlob, alle gläubig und ergingen uns in Lobeserhebungen über den köstlichen Genuss. Die Erbsensuppe am Sonntag gehörte ebenfalls zu den Lichtpunkten, wenn sie auch entsetzlich dünn war. Wir zerbrachen uns die Köpfe, um ein neues Gericht für den Mittwoch zu erfinden, da uns eine Abwechslung von der ewigen Pinguinsuppe nötig erschien. Und eines schönen Tages komponierten wir ein nagelneues Gericht, nämlich Labskaus, bestehend aus Seehundleber, Seehundfleisch, Seehundspeck, gedörrten Wurzeln und Brotkrumen. Und als wir es erprobt und seinen ausserordentlichen kulinarischen Wert erkannt hatten, waren wir sicher ebenso froh wie Marconi über seine drahtlose Telegraphie. Man muss nur verstehen, die zu Gebote stehenden Mittel zu benutzen, sonst wird das Leben unerträglich. Und dann eine extra Tasse Kaffee hinterher, und wer etwa noch ein Stück Brot aufgespart hatte, der konnte wahrlich nicht klagen!

Die Paulet-Insel

Hin und wieder kam eine Unterbrechung in das ewige Einerlei. Der erste Mai! Welch eine Bedeutung liegt nicht für einen Upsalaer Studenten in diesem Wort! Daheim sitzen nun unsere Kameraden um den Maimittagstisch, der Champagner perlt in den Gläsern, man stösst an auf den Lenz und die Jugendfreude, auf die Männer mit grauen Haaren und jugendlichem Sinn. – Und wir sitzen hier in unsern von Russ und Schmutz und Tran schwarzglänzenden Säcken und essen Blutpudding. Aber auch hier herrscht Erste-Mai-Stimmung, alte Erinnerungen werden aufgefrischt, und ich erzähle einer aufmerksam lauschenden Schar von all unserer Maifreude und unserm Zug durch die Stadt. Als es Abend wird, richte ich mich im Sack auf und singe, singe von Lenz und Freude, von dem Vaterland in weiter, unendlich weiter Ferne, hoch oben im Norden: Wie herrlich die Maiensonne uns lacht! Hier unten in der schwarzen Winterfinsternis heult der schneidende, eisige Wind aus den ewig eiskalten Gegenden des Poles über die erstarrte Erde dahin. Aber im Herzen ist es warm, da glühen Sehnsucht und Liebe.


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