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Am 29. September brach endlich der Tag der Abreise an.
Die Türöffnung war, wie immer nach einem Unwetter, zugeschneit. Aber an diesem Morgen machte sich der Koch nicht die Mühe, uns auf gewohnte Weise auszugraben. Sobald er sich davon überzeugt hatte, dass das Wetter windstill und freundlich war, riss er das provisorische Dach von dem Vorplatz herunter und kletterte auf diesem Wege hinaus. Der Himmel war wolkenbedeckt und die Luft nebeliggrau, aber es war kein Grund zum Zaudern vorhanden. Es war noch nicht 5½ Uhr, als er die Kameraden weckte.
Es waren noch allerlei Arbeiten zu verrichten, ehe wir die Hütte verlassen konnten. Die drei schweren Fossilienkisten wurden losgeeist und in einem mit der Dachpersenning bedeckten Depot am Abhang des kleinen Hügels nördlich von der Hütte untergebracht.
Duse hatte während der letzten Sturmtage auf ein Stück Holz folgende Inschrift geschnitzt:
J. G. Andersson, S. Duse, T. Grunden
from S. S. »Antarctic«
wintered here 11.3.-28. 9. 1902.
Diese Tafel wurde an die Stange des grossen Zeltes gebunden, die wir dann an der Wand der Hütte befestigten. Unter der Tafel wurde eine Flasche angebracht, in der einige in englischer Sprache abgefasste Mitteilungen enthalten waren, die ich während der letzten Tage mit Duses Beistand geschrieben hatte. Es war ein kurzgefasster Überblick über unser Geschick sowie einige Anleitungen für das Entsatzschiff, das möglicherweise aus Anlass der Depeschen auf der Astrolabe-Insel hierher kommen konnte. Von diesem Dokument will ich hier nur einige Zeilen anführen, die eine Vermutung enthielten, die sich später bestätigen sollte:
»We have all reason to suppose that captain Larsen after our landing has tried to penetrate the pack outside Joinville Island. Thus fragments of the »Antarctic« and its crew are to be looked for on the N., E., and S. coasts of Joinville Island and adjacent small islands.«
Es war bereits 4 Uhr nachmittags, als dies alles besorgt und der Schlitten beladen war. Gegen 6½ Uhr schlugen wir unser Zelt an einem Moränenrücken auf dem Landeisabhang auf, wohin wir vor einigen Tagen allerlei Proviant getragen hatten. Während wir uns zur Nachtruhe anschickten, begann ein verdächtiger Wind das Zelt zu umheulen.
Am nächsten Morgen war die wilde Jagd in vollem Gange. Die Schlafsäcke waren ganz steif gefroren, das Zelt erzitterte unter den Windstössen, und ich, der ich meinen Platz an der Luvseite hatte, lag unter dem Druck der Schneemasse, die sich gegen die Zeltwand aufgehäuft hatte. Duse, der das keineswegs angenehme Amt übernommen hatte, die »Mutter« für die Schlittenpartie zu spielen, kroch am Vormittag aus dem Sack und kochte ein Gericht Grütze. Ihn fror dabei so schrecklich, dass er Handschuhe anziehen musste, um das Kochgeschirr und den Primusapparat anfassen zu können.
Der Sturm wurde immer heftiger, und gleichzeitig nahm die Kälte zu. In der nächsten Nacht wurde das Zelttau an der Luvseite losgerissen und fiel mir auf den Kopf, der Schnee häufte sich über mich, ich hatte keinen Raum, wohin ich mich wenden konnte, denn wir nahmen den Boden des kleinen Zeltes völlig ein. Ich lag bald festgeklemmt wie in einem Schraubstock, aus dem ich erst dreissig Stunden später erlöst wurde, als der Sturm nachgelassen hatte. Die einzige Bewegung, die ich machen konnte, war, dass ich die Beine sehr mühselig ein wenig krümmen und sie nach einiger Zeit wieder ausstrecken konnte. Am folgenden Tag konnten wir nicht daran denken, aufzustehen und Essen zu kochen. Hin und wieder reichte uns Duse einen Schiffszwieback, an dem wir knabbern konnten. Fünf solcher Schiffszwiebacke per Mann war alles, was wir im Laufe von 24 Stunden bekamen.
Die folgende Nacht war entsetzlich für mich; ich lag noch immer eingeklemmt unter der Schneeschanze. Der Druck auf den Kopf, den ich schliesslich nicht mehr bewegen konnte, wurde zuletzt ganz unerträglich, zuweilen verging mir die Besinnung, ich versank in eine Betäubung, in der schwache Eindrücke von einem heulenden Sturm, einem schmerzenden Kopf und vor Kälte erstarrten Füssen sich mit den buntesten und weitschweifendsten Phantasien vermischten.
Am nächsten Tage hatte glücklicherweise das Wetter ausgetobt. Duse und Gründen krochen zuerst aus den Schlafsäcken und bereiteten eine herrliche Mahlzeit. Dann konnte auch ich herauskrabbeln und meine steifen Glieder rühren.
Der Himmel war jetzt klar und blau. Die Sonne schien herrlich auf den Sund und die weissen Eisabhänge. Unten auf unserer Landzunge konnten wir die Hütte als dunkeln Fleck unterscheiden, die Gedenktafel an ihrer Stange ragte über die Mauer empor.
Während der nächsten Tage kämpften wir uns langsam vorwärts in wechselndem, oft schlechtem Wetter. Wir hielten denselben Kurs wie auf der Herfahrt während der ersten Schlittenfahrt.
Am 6. Oktober waren wir an die Bucht gelangt, die ich früher als die Bucht der tausend Eisberge beschrieben habe. Der Schnee zwischen den unzähligen Eishügeln lag jetzt fest, eben und hart, so dass wir schnell vorwärts gelangten.
Wir hatten die Zeit für unsere Ankunft auf der Winterstation so berechnet, dass wir uns im Notfall dort selber mit Seehunden und Pinguinen ernähren konnten, denn wir hielten es für sehr zweifelhaft, dass die Kameraden nach zwei Überwinterungen noch etwas für die unerwarteten Gäste übrig haben würden. Deswegen hofften wir sehr, auch auf diesem, mit festem Eis bedeckten Gewässer Seehunde zu finden, und spähten jetzt eifrig nach dem ersten aus.
Ganz in der Nähe unseres ersten Zeltplatzes entdeckten wir denn auch schon ein paar Weddell-Seehunde, die durch die schmale Spalte hinaufgekrochen waren, die durch die Flut beständig offen gehalten wird. Während der folgenden Tage beobachteten wir diese Tiere zu Hunderten, bald vereinzelt, bald paarweise oder in Scharen bis zu zwanzig Stück. Sie gehörten alle derselben Art an, den Weddell-Seehunden, die offenbar eine ausgeprägte Strand- und Festeisform bilden, so wie der andere gewöhnliche antarktische Seehund, der Krabbenfresser, auf das Treibeis und die Teile des Meeres gehört, die den Küsten fernliegen. Eine oder zwei Meilen innerhalb des Randes des Festeises halten sich die Weddell-Seehunde offenbar den ganzen Winter auf, denn wir sahen hier und da, mitten auf dem ebenen Eisfeld die Löcher, durch welche die Seehunde auf- und niedertauchen und die sie ohne Unterbrechung offen halten müssen, damit das Eis nicht so dick wird, dass sie es nicht mehr durchbrechen können.
Am zweiten Tage unseres Aufenthalts auf dem Treibeise (am 7. Oktober) machten wir einen Abstecher an den Platz, wo wir während des Schneesturms am 8. bis 10. Januar einen Teil unseres kostbaren Gepäcks verloren hatten. Die Schneeschanzen hatten sich jetzt allerdings verringert, waren aber doch immer noch so hoch, dass sie unsere Sachen verdeckten, so dass wir, nachdem wir eine Stunde nach ihnen gegraben hatten, den Versuch aufgeben mussten.
Hier gewannen wir einen in hohem Masse bedeutungsvollen Überblick über die Eisverhältnisse draussen im Golf. Von einem einige Kilometer weiter östlich, auf dem Festlande gelegenen Punkte aus erstreckte sich der Eisrand quer über die Mündung des Kronprinz Gustav-Sundes bis eine Strecke innerhalb Kap Gordon auf der Vega-Insel. Hinter dieser Landzunge befand sich ebenfalls ein Eisrand, aber östlich von dem eben erwähnten Festeisrande war das Meer völlig eisfrei, soweit wir es in der nebeligen Luft erkennen konnten. Dies waren Beobachtungen, die eine unzweideutige Sprache redeten. Rings um Kap Gordon lag kein festes Eis, gelang es uns aber nun, über die Vega-Insel oder innerhalb derselben bis nach Snow Hill zu gelangen, so konnten wir ganz sicher sein, dass die »Antarctic« oder ein Entsatzschiff uns dort im Laufe des Sommers erreichen würde. Die Eisverhältnisse des Golfes waren jetzt, zu Anfang Oktober, offenbar günstiger, als mitten im Januar im vorhergehenden Sommer, und im Antarctic-Sunde, der den ganzen vorhergehenden Sommer voll Eis gewesen, war jetzt, wie wir während der letzten Wochen mehrmals beobachtet hatten, das Wasser bis an die Rosamel-Partie völlig eisfrei.
Den ganzen Vormittag hatte ein frischer Nord-Nordwestwind mit nassem Schnee geweht. Jetzt, zur Mittagszeit, als wir damit beschäftigt waren, die verschneiten Sachen zu suchen, kam ein heftiger, mit Schnee vermischter Regenschauer, der uns alle bis auf die Haut durchnässte, so dass das Wasser bei jedem Schritt in den Schuhen quatschte. Um uns warm zu halten, eilten wir nach dem Schlitten hinab und fuhren in schneller Fahrt über den Sund auf die Vega-Insel zu. So ging es drei Stunden ununterbrochen vorwärts. Der Schneeregen hatte aufgehört, und das Wetter war ganz erträglich.
Da trat einer jener plötzlichen Temperaturumschläge ein, die dies Klima so verräterisch und gefährlich machen. Der nördliche Wind liess nach, einige Minuten stand die Luft ganz still, dann kam ein heftiger Luftzug von Süden, und im Handumdrehen war die Temperatur tief unter den Gefrierpunkt gesunken. Die nassen Kleider wurden steif wie Panzer, bei jeder Berührung knisterten sie, und die Schuhe waren steinhart. Wir sprachen schon davon, Halt zu machen und das Zelt aufzuschlagen, als wir vor uns auf dem Eise eine Seehundsgruppe erblickten. Eine kräftige Seehundsuppe sollte uns jetzt aber munden! Es waren drei ausgewachsene Tiere und ein Junges, das erste, das uns in den Weg kam und sofort zur Beute ausersehen wurde. Es war 1,7 m lang, fett und fleischig, mit braungrauer Oberseite und hellen Flecken am Bauch.
Während wir beim Schlachten waren, wurde der Wind immer schärfer und schneidender. Sobald wir im Zelt unter Dach gekommen waren, setzte sich Grunden auf seinen Schlafsack und fing an, mit trübseliger Miene die Verschnürung seines linken Schuhes zu lösen. Er war ganz still und schweigsam dabei, als er aber den Schuh abgezogen hatte, sagte er mit einer herzzerreissenden Angst in der Stimme, wie wir sie an dem kühnen, mutigen Mann gar nicht kannten: »Ja, der Fuss ist nun wohl hin!« Als ich mich nach ihm umwandte, ward mir ein unheimlicher Anblick zu Teil. Die Strümpfe (er trug zwei Paar) sassen hart gefroren fest im Schuh, und als ich seinen Fuss anfasste, berührte ich ein paar Zehen, die ganz hart und eingeschrumpft waren. Ich kniff und stach darin herum, aber er fühlte nichts, er konnte nicht einmal sagen, an welchem von den Zehen ich gerade zerrte. Es waren die beiden grössten Zehen, in den andern hatte er noch Gefühl. Mit Duses Beistand holte ich eine Schale voll Schnee herein und fing an, den Fuss zu frottieren. Ich rieb und rieb, ohne dass sich eine Veränderung bemerkbar machte, nach einer Viertelstunde waren die Zehen noch genau so hart, so zusammengeschrumpft und gefühllos. Aber ich dachte, das Reiben könne die Sache jedenfalls nicht verschlimmern, und bat daher Grunden, nicht ungeduldig zu werden. Und siehe, nach einer Weile gelang es wirklich. Langsam kehrte die Blutzirkulation zurück, die erfrorenen Teile wurden weich und schwollen zu ihrer natürlichen Form an, und das Gefühl kehrte wieder. Eine Welle warmer, inniger Freude ergoss sich über uns alle drei auf einmal.
Ich hatte mit fieberhaftem Eifer an dem erfrorenen Fuss gearbeitet und dadurch meine Angst gedämpft. Grunden aber hatte die ganze Zeit hindurch schweigend dagesessen, geduldig abwartend, obwohl ich begreifen konnte, wie die Verzweiflung mit jeder Minute, die keine Besserung brachte, in ihm stieg. Duse hatte sich ruhig mit seinen Küchenangelegenheiten beschäftigt und uns nur hin und wieder ein ermunterndes Wort, einen Ratschlag zugerufen. Als Grunden etwas Trockenes über die Füsse gezogen hatte, trug Duse seine Suppe von jungem Seehund auf, die uns allen dreien als das herrlichste Mahl erschien, das wir jemals genossen hatten.
So nahm denn auch dieser Unglückstag ein gutes Ende.
Als wir noch in der Winterhütte lagen und über die Zukunft nachgrübelten, waren wir fest überzeugt, dass es uns gelingen müsse, das kleine Proviantdepot wieder zu finden, das wir im Januar auf der Vega-Insel errichtet hatten. Wir hatten mit grosser Fürsorge den Platz gewählt, einen kleinen, freigelegenen, isolierten Berggipfel am Abhange. Die Konservendosen usw. hatten wir in einen kleinen Steinhaufen eingemauert, und der Brotsack war mit drei Stangen in umgekehrter Lage auf dem Gipfel des Berges aufgehängt, wo er wie ein Signal aufragte und so trocken wie möglich stand, dem Winde ausgesetzt, der den durch Regen oder Schnee nass gewordenen Inhalt wieder trocknen konnte.
Als wir aber auf die Bucht der tausend Eisberge hinabkamen und sahen, wie sich der Schnee dort in gewaltigen Massen angehäuft hatte, die eine Menge kleiner Eishügel völlig verbargen und viele Schraubeistäler ausfüllten, da fragten wir uns, ob nicht auch unser kleiner Depothügel gänzlich versteckt unter dem Winterschnee liegen würde. Als wir am Vormittag des 9. an die Vega-Insel kamen, sollten wir denn auch erfahren, wie gründlich die Schneeverhältnisse das Aussehen einer Landschaft verwandeln können. Von allen den Berggipfeln und Steinhaufen, die wir bei unserm früheren Besuch hier angetroffen hatten, fanden wir nur den Rand eines Felsblockes wieder, der offenbar nicht der gesuchte war. Sonst lag der ganze Abhang weiss und gleichmässig da. Wir wollten die Nachforschungen jedoch nicht sofort aufgeben. Wir liessen den Schlitten auf dem Treibeis stehen, und während sich Duse und Grunden an den Strand hinab begaben, um einen Seehund zu töten, dessen wir jetzt bald wieder benötigt waren, wanderte ich weiter, den Hügel hinan, um die Forschungen fortzusetzen.
Ich ging ein paar Minuten und starrte die ebene, weisse Schneedecke an, in der es keine Spur, kein Abzeichen gab. Da aber gewahrte ich plötzlich ein paar dunkle Stellen, und mitten dazwischen stand er wirklich noch, der liebe, alte, brave Brotbeutel! Alles war in bester Ordnung, unter den Steinen lagen die Konservendosen, die Butterbüchse, die Spiritusflasche und die Petroleumkanne, allerdings war alles fest gefroren, aber doch in ebenso gutem Zustand, wie wir es verlassen hatten. Der Brotsack war durch Wasser und Wind gebleicht. Überall, wo ich ihn berührte, blieben dunkle Spuren von meinen russigen Händen zurück. Nur einige Stücke Brot, die an der Aussenkante lagen, waren ein wenig aufgeweicht von der Feuchtigkeit, alles übrige war gänzlich unbeschädigt. Ich kehrte meine Handschuhe um (denn die innere Seite war am schmutzigsten), und stopfte ein paar Schiffszwiebacke als Probebissen für Duse und Grunden hinein. Dann fuhr ich in meiner alten Schneeschuhspur nach dem Schlitten hinunter.
Als Duse und Grunden mit einigen guten Bissen von dem erlegten Seehund zurückkehrten, sass ich schweigend auf der Ladung und wartete. Ich konnte mich nicht entschliessen, zu rufen oder ihnen zuzuwinken. Es lag zu viel Ernst in der Freude; ein ganzer Schatz war uns zurückgegeben, vielleicht hing unsere Rettung davon ab. Wir hatten jetzt ja nur noch so wenig von unserm Proviant und konnten für den Rest des Weges nur auf kurze Tagesmärsche rechnen.
Natürlich wurden die Kameraden durch mein Schweigen irregeleitet, ruhig und beherrscht, wie sie waren, hielten sie es für zwecklos, Fragen zu stellen, von deren Verneinung sie fest überzeugt waren.
Da konnte ich nicht länger schweigen, sondern hielt ihnen die Handschuhe hin, die ich an einem Band um den Hals getragen hatte: »Seht, da habe ich Euch ein paar Stücke aus dem Brotbeutel mitgebracht!«
Sie starrten mich an, dann glänzten ihre Augen immer lustiger und der Ernst der verwilderten schwarzen Gesichter löste sich in fröhliches Lachen auf. So herrschte denn grosser Jubel bei einer reichlichen Brotmahlzeit und einem kleinen Schluck aus der Flasche zur Feier des Tages.
Wir schlugen unser Zelt an dem Abhang des Landeises auf. Am folgenden Tage hatten wir Nebel und Schneefall, so dass nichts auszurichten war. Jetzt begannen sich die Folgen des Erfrierens zu zeigen. Grundens linker Fuss war an allen Zehen mit grossen Blasen bedeckt, und auch Duses kleine Zehe am rechten Fuss wies eine Frostblase auf. Wir öffneten die Blasen mit der Segeltuchnadel, die uns als Operationsinstrument diente, und legten eine kleine Bandage aus Verbandwatte an, die wir noch vorrätig hatten.
Trotz ihrer Frostleiden waren die Kameraden dennoch in der Stimmung, den kartographischen und geologischen Rekognoszierungen die nötige Zeit zu widmen, die erforderlich war, um einen Überblick über die Beschaffenheit des zurückgelegten Gebietes zu gewinnen.
Am nächsten Tage (dem 11.) lichtete sich der Nebel zum Teil und machte einem strahlenden Sonnenschein Platz. Grunden blieb bei dem Zelt, um seinen kranken Fuss zu schonen und unsere nassen Schlafsäcke in der Sonne zu trocknen. Duse lief auf Schneeschuhen den Landeisabhang hinab, inseleinwärts, um seine Kartenskizze zu vollenden und definitiv zu entscheiden, ob wir uns auf einer Insel befanden. Ich schlug den Weg nach Kap Gordon zu ein, in der Absicht, einige Gesteinproben von den aus dem Lande aufragenden höchsten Nunataks zu sammeln, aber auch, um einen Überblick über die Eisverhältnisse auf dem äusseren Teil des Sidney Herbert-Sundes zu gewinnen. Das erstere gelang mir vollkommen, das letztere nur insofern, als ich durch die dichten Nebelbänke südlich von Kap Gordon ein kleines Stück eines Festeisfeldes mit zerstreuten Seehunden erblickte. Oben auf dem Inlandeis und nach Westen zu hatte sich der Nebel im Laufe des Tages zerteilt. Die inneren Teile der Vega-Insel und des Sidney Herbert-Sundes gewährten jetzt einen wundervollen und eigentümlichen Anblick. Hintereinander erhoben sich, gleich einer Reihe von Kulissen, Felsvorsprünge mit wechselnden und phantastischen Formen, deren dunkles Gestein sich krass von der blendend weissen Eisdecke abhob.
Bei Sonnenuntergang fuhr ich auf dem Rückwege den Abhang des Landeises hinauf. Es war der längste und schönste Schneeschuhberg, den ich jemals hinabgesaust bin, bei einer Tiefe von 300 m einen einzigen, fast ebenen Abhang mit der herrlichsten Bahn bildend. Es ging mit windgeschwinder Fahrt. Ich musste mit den Stäben bremsen und lange Bogen bald nach rechts, bald nach links machen, um die Schnelligkeit ein wenig zu hemmen.
Duse war kurz vor mir nach dem Lager zurückgekehrt. Seine Rekognoszierungen hatten jetzt unumstösslich erwiesen, dass der Sidney Herbert-Sund an der Innenseite der Vega-Insel mit dem Kronprinz Gustav-Sund zusammenhängt, und da er im Laufe des Tages zu derselben Auffassung gelangt war wie ich, dass nämlich die Fahrt von dem Landeis der Vega-Insel nach Süden zu auf den Sidney Herbert-Sund mit grossen Schwierigkeiten verknüpft, wenn nicht völlig unmöglich war, so beschlossen wir, auf das Meereis zurückzukehren und die genannte Insel auf der Innenseite zu umkreisen.
Der nächste Morgen brach klar und sonnig an. Schnell und leicht fuhren wir den Abhang des Landeises hinab und zogen rund um die »Teufelsinsel« herum bis zu einem westlich davon gelegenen Felsvorsprung der Vega-Insel, den wir im vergangenen Sommer »Kap Dreyfuss« getauft hatten, den wir aber später, zur Erinnerung an eine wunderbare Fügung, »Vorgebirge der guten Begegnung« umtauften.
Um 1 Uhr hatten wir Halt gemacht, um unser Mittagessen zu kochen. Hier und dort auf dem Eise lagen kleine Gruppen von Seehunden, wir waren eben an zweien vorübergekommen, und eine Strecke weiterhin lag noch eine ganze Schar.
»Das sind doch verteufelte Seehunde, die kerzengerade aufrecht stehen,« sagte einer von uns und zeigte auf ein paar dunkle Gegenstände, die sich in weiter Ferne von dem Eis abhoben.
»Sie bewegen sich!« ruft ein anderer aus.
Ein fieberhafter Eifer erfasst uns. Das Fernrohr wird hervorgeholt. »Es sind Menschen, Menschen!« ertönt der Ruf.
Duse feuerte ein paar Schüsse aus seiner Pistole ab, worauf er und ich schnell die Schneeschuhe anlegten und dahineilten, um die kleine dunkle Gruppe zu erreichen, die sich dort in der Ferne schnell vorwärts bewegte.
Wer waren sie? War es eine Schlittenpartie von der Winterstation, oder waren es vielleicht Leute von der »Antarctic«?
Jetzt hatten sie uns bemerkt und kamen uns entgegen. Es waren zwei Männer und ein Hundeschlitten, also mussten sie von Snow Hill kommen. In dem Mann, der vor dem Hundeschlitten herlief, erkannten wir jetzt Nordenskjöld. Als wir noch ein wenig näher herangekommen waren, bogen die grönländischen Hunde in wilder Flucht nach der Seite ab beim Anblick der wilden Männer.
Was sich in dem ersten verwirrenden Augenblick der Begegnung zutrug, vermochte ich nicht klar zu begreifen. Ich entsinne mich nur, dass Duse nach der »Antarctic« fragte, und dass ich ohne weiteres, mein verwildertes Aussehen völlig vergessend, Nordenskjöld die Hand mit einem »Guten Tag, Otto!« hinstreckte.
»Guten Tag!« antwortete er in seiner ruhigen, gutmütigen Art, aber erst als Duse unsere Namen nannte, ward ihm die Situation klar.
Dies ist in wenigen Worten der Bericht über ein Zusammentreffen, das sich mit der Glut einer heftigen, fast unfassbaren Freude für ewige Zeiten in unser Gedächtnis eingebrannt hat.
So kam denn endlich die lange hinausgeschobene Vereinigung in einer Weise zu stände, wie wir es nie für möglich gehalten hätten. Wir, die wir auf einen Entsatzversuch ausgegangen waren, wurden hier in einer ganz bedrängten Lage aufgesammelt.
Das einzige, was wir Nordenskjöld und den Kameraden auf Snow Hill als Entgelt für die unbeschreibliche Freundlichkeit zu geben vermochten, mit der sie für uns sorgten, waren zwei gute Nachrichten; die eine, dass wir vor der Abreise aus Ushuaia Anweisungen zwecks einer Entsatzexpedition nach Schweden geschickt hatten, die andere, dass nach allem, was wir gesehen hatten, der Seeweg bis weit in den Golf hinein offen dalag.