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VIII. Gen Süden!

Während ich mit naturgeschichtlichen Untersuchungen am Lago Fagnano und in der Umgegend von Harberton beschäftigt war, lag die »Antarctic« in Ushuaia und traf Vorbereitungen für die kommende Sommerreise nach dem südlichen Eismeer. Die Besatzung hatte genug zu tun, um die verschiedenen Teile des Schiffes in stand zu setzen. Nachdem der Boden durch Umkehren der Schute, so gut es gehen wollte, freigelegt war, schabte man ihn von Algen und kleineren Seetieren rein, die während der letzten Zeit die Fahrgeschwindigkeit des Schiffes sehr verringert hatten. Neue Segel wurden genäht, gewisse Teile der Takelage ausgebessert usw. Schliesslich wurde die ganz bedeutende Proviantausrüstung (Mehl, Kartoffeln, Zucker, Kaffee und dergl.) an Bord geschafft, ebenso die Kohlen, die als Geschenk des Magazinschiffes des argentinischen Staates, »El Tiempo«, für die Expedition bereit lagen.

Am 30. Oktober kam die »Antarctic« nach Harberton, um mich und Skottsberg abzuholen, der mit mir dort ein paar Tage früher angelangt war, wie auch, um einen Vorrat an frischem Hammelfleisch einzunehmen. Am 4. November kehrte das Schiff mit uns allen an Bord nach Ushuaia zurück, und in der Frühe des nächsten Morgens traten wir die Fahrt nach dem Süden an. Unter der Post, die wir in Ushuaia abgaben, befanden sich zwei gleichlautende Schreiben, das eine an den Sekretär der schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie, das andere an den schwedisch-norwegischen Generalkonsul in Buenos Aires gerichtet, Anweisungen in Bezug auf die Entsatzversuche enthaltend, die im Falle unseres Ausbleibens notwendig werden konnten.

Am Abend des 7. November überschritt die »Antarctic« den Breitengrad von Kap Horn, südwestlich von der Hermiteinsel, und steuerte den ganzen folgenden Tag mit nur einem Segel bei guter Fahrt südost-südlichen Kurs. Am folgenden Tage um 2 Uhr nachmittags beobachteten wir den ersten Eisberg, ziemlich klein und von unregelmässiger Form, und in der Nacht vom 9. auf den 10. begegneten wir auf dem 59° 30 Min. s. Br. und dem 66° w. L. den ersten von Wellen zerfressenen Treibeisschollen.

Dies war eine unerwartete Begegnung. Die Süd-Shetlandsinseln pflegen im allgemeinen ohne Eishindernisse zugänglich zu sein, und die »Antarctic« hatte im vorhergehenden Jahr – freilich später im Sommer – hier völlig eisfreies Wasser angetroffen.

Zwei Tage später, in der Nacht vom 11. auf den 12. November, wurde unser Weg auf dem 61° s. Br. von einem dichten Packeisgürtel versperrt, und nach einigen Versuchen, ihn zu durchbrechen, lagen wir bald im Eise fest. Während der nun folgenden Tage (13.-17. November) war das Wetter still und sonnig. Sobald das Eis sich ein wenig zerteilte, arbeitete sich Larsen ein Stück hindurch, da es sich aber gleich wieder schloss, mussten wir uns damit begnügen, Messungen von den Dimensionen der Eisschollen vorzunehmen, unsere Planktonketscher in die kleinen Senken an der Seite des Schiffes hinabzulassen, oder eine kleine Pinguinschar zu beobachten, die zufällig auf einer in der Nähe befindlichen Eisscholle sichtbar wurde. Oft konnten wir an den klaren, sichtigen Tagen von der Kommandobrücke aus bis zu fünfzig Eisberge von wechselnden Formen rings um uns her zählen, unter denen sich stets einige mächtige tafelförmige Riesen mit senkrechten, ebenen Wänden befanden, ein Typus, der für das südliche Polarmeer charakteristisch ist.

Um die Mittagsstunde des 17. November hatte das gute Wetter ein Ende. Die Luft wurde nebliger, und der Wind frischte auf, bis wir in der Nacht einen vollkommenen Sturm hatten.

Gegen einen Eisberg treibend. Der Morgen des 21. November

Das Eis kam bald in Bewegung, hier und dort entstanden offene Flächen, während die Eisschollen an andern Stellen dicht gepackt lagen und sich gegen einander schränkten und rieben. Gegen 2 Uhr nachts wurde die »Antarctic« mit zwei Trossen an einer grossen Eisscholle vertäut, aber am Morgen des folgenden Tages barst diese in mehrere Stücke, und das Schiff kam ins Treiben.

Unter dem Druck des Sturmes kam Fahrt und Bewegung in das Treibeis.

Die Eisberge, deren solide Masse sich ein paar hundert Meter und mehr unter der Meeresfläche fortsetzt, sind am wenigsten vom Winde beeinflusst. Gleich tief wurzelnden, festen Pfeilern ragen sie aus den leicht beweglichen Treibeismassen auf.

In alle Schraubwälle und Unebenheiten der Eisschollen fasst der Sturm hinein, bald ist die Masse in Bewegung, leise vor dem Sturm hertreibend, während die einzelnen Schollen gegen einander reiben. Wo sich ein Eisberg dem treibenden Packeis in den Weg stellt, werden die Eisschollen unter Krachen und Getöse zersplittert und der Eisschaum rasselt gegen die festen Seiten des unbeweglichen Kolosses. Wehe dem Schiff, das in diese Riesenmühle hineingerät!

Die »Antarctic« trieb schneller als das Eis. Ihre hohe Takelage bildete einen tüchtigen Windfang. Das Schiff glitt und drängte zwischen den Eisschollen hindurch, die mit anhaltendem Getöse gegen ihre Seiten scharrten. Zuweilen erhielt es einen Stoss, der wie ein Zittern durch den ganzen Schiffsrumpf lief. Mehrmals musste man die Maschine das Schiff durch das Eis hindurch arbeiten lassen, um einem der Eisberge auszuweichen, gegen die es mit dem Packeis getrieben wurde.

Der Sturm hielt an. Gegen 2½ Uhr morgens am 21. November wurde ich durch laute Kommandorufe an Deck geweckt. Ich kleidete mich schnell an und eilte hinauf.

Ungefähr drei bis vier Schiffslängen gerade vor uns im Lee lag ein Eisberg, der bedeutend höher war als der Grossmast der »Antarctic« und ungefähr drei Schiffslängen lang sein mochte. Der Eisberg ragte in teilweise überhängenden Partien auf, von denen die höchste zum Teil von der Hauptmasse abgespalten war. Es lag augenscheinlich die Gefahr vor, mit dem Eise, das rings um unser Schiff lag, auf den Eisberg zuzutreiben. Es wehte ein dichter Schneesturm. Die Maschine arbeitete unter höchstem Druck; Klüver, Dock- und Vormarssegel waren gesetzt. Lange glitt das Schiff nur wenige Meter vorwärts, um gleich wieder von den Eisschollen zurückgedrängt zu werden, schliesslich gaben diese aber doch dem Druck der Maschine und der Segel nach, und wir glitten an dem Eisberg vorüber in das offene Wasser hinein, das sich in seinem Schutze gebildet hatte.

Wir hatten schon den ganzen Tag still gelegen, teils in offenen Stellen mit halbem Dampf, um das Schiff gegen den Wind zu halten, teils in dichtem Packeis. Es herrschte orkanähnlicher Schneesturm und Nebel, so dass wir nur wenige Schiffslängen in die Runde sehen konnten.

In der Nacht zum 22. liess der Sturm ein wenig nach, und am Nachmittage konnten wir wieder anfangen, uns nach dem Lande durchzuarbeiten, zuerst durch ganz dicht gepacktes, später durch spärlicher werdendes Eis hindurch. Gegen 9 Uhr abends erreichten wir das offene Küstenwasser an der Aussenseite der Süd-Shetlandsinseln. Die zunächst gelegene derselben, Smith-Island, lag jetzt vor uns in einer Entfernung von ca. 30 Seemeilen.

Am folgenden Tag (den 23.) liefen wir in den Bransfield-Sund nahe der Westküste von Snow-Island ein und machten einen wunderschönen Besuch auf einem der kleinen Werder in der Nähe dieser Insel, worauf wir den Kurs nach der Deception-Island nahmen. Die Eisverhältnisse gestalteten sich hier sehr günstig. Einige zerstreute Gürtel aus Schneeeis, die uns den Weg versperrten, waren so wenig dicht, dass sie kaum unsere Fahrt verlangsamten.

Die Deception-Insel ist als eine der typischsten und grössten Kraterinseln der Erde bekannt. Bei einem Längsdurchschnitt von 19 km ist sie ringförmig und enthält in ihrem Innern ein Kraterbecken, das durch eine schmale Öffnung mit dem Meere in Verbindung steht.

Als die Insel im Jahre 1828 von der englischen Fregatte »Chanticleer« unter Forsters Befehl besucht wurde, fanden am Strande des Kraterbeckens Ausströmungen von Schwefeldunst und Wasserdampf statt, und in der Nähe dieser Fumarolen wurden heisse Quellen mit einer Temperatur von 88° angetroffen.

Der amerikanische Seehundsfänger Smiley, der 1842 die Insel anlief, teilt mit, dass sich die ganze Südseite in lebhafter vulkanischer Tätigkeit befand, mit nicht weniger als 13 Eruptionsstellen.

Da keine späteren Mitteilungen von dieser eigentümlichen Insel vorlagen, so hatten wir lebhaftes Interesse an einer Landung, um den jetzigen Zustand kennen zu lernen. Bei unserer Annäherung (am Abend des 23.) erfuhren wir jedoch eine grosse Enttäuschung. Der Einkauf zum Krater war nämlich mit Packeis versperrt, und durch die schmale Öffnung konnten wir sehen, dass das Kraterbecken mit einer dichten, offenbar ungebrochenen Eisdecke geschlossen war. So mussten wir denn jeden Gedanken an ein Eindringen in den Krater aufgeben. An der Aussenseite war nicht die geringste Spur jetziger vulkanischer Tätigkeit zu entdecken. An der südlichen Seite der Einfahrt hatten die Meereswellen im Laufe der Zeit einen hübschen lotrechten Schnitt in den Kraterwall gescheuert, der dessen innere Struktur mit sowohl nach innen, wie nach aussen neigender Lagerung zeigte.

Wir lagen während der Nacht still vor der Insel, und in der Frühe des nächsten Morgens ruderten Skottsberg und ich an dem südlichen Ufer an Land, in der Nähe des kleinen Felsenwerders süd-südwestlich von der Einfahrt in den Krater. Die Insel war hier eisbedeckt, und wir hatten Gelegenheit, die eigentümliche Wechsellagerung von Gletschereis und vulkanischer Asche zu beobachten, die schon von früheren Besuchern erwähnt wird und die sicherlich nicht auf wiederholte Ascheneruptionen zurückzuführen ist, sondern ganz einfach auf die heftigen Stürme, die von Zeit zu Zeit das reichlich vorhandene Aschenmaterial über die Landeisdecke zerstreuen.

Oben auf dem Abhang, unter einigen aus der Eisdecke aufragenden Aschenhügeln, ja, sogar draussen auf dem Inlandeise, wo dies von einer dicken Schicht vulkanischer Asche bedeckt war, fanden wir eine ganz stattliche Pinguinkolonie (Pygoscelis. antaretica), in der das Eierlegen jetzt im vollen Gange war. Während Skottsberg und einer der Bootsleute eifrig Pinguineier in ihre Mützen und dergleichen sammelten und; eine Ladung nach der andern zum Boot hinabtrugen, stieg ich ganz allein den Eisabhang hinan, in der Hoffnung, möglicherweise von der Spitze aus eine Übersicht über den Krater zu erlangen. Bald geriet ich indes hier oben in so zerklüftetes Eis, dass ich mich gezwungen sah, unverrichteter Sache wieder umzukehren.

Von der Deception-Insel steuerten wir nach dem Mr. Farlane Sund zwischen der Livingstone- und der Greenwich-Insel, auf welch letzterer wir nach dem in Ushuaia hinterlassenen Plan eine Mitteilung über unsere Fahrt niederlegen wollten.

Der Sund war indes derartig mit dichtem Packeis angefüllt, dass der Weg nach der angegebenen Bucht an der Westseite der Greenwich-Insel versperrt war. Dahingegen wurde am 26. November auf der Nordwestseite der Astrolabe-Insel auf einer kleinen Landzunge neben einer Signalstange ein Schreiben niedergelegt. Wir mussten uns daher mit einer hastigen Landung an dem östlichsten Teil der Livingstone-Insel begnügen, wo wir eine kleine Kolonie von Antarctica-Pinguinen antrafen, denen wir alle in den Nestern befindlichen Eier raubten. Die Ernte war jedoch nicht sehr reich, denn das Eierlegen hatte hier erst ganz kürzlich begonnen.

Antarctica-Pinguine

Seit unserer Einfahrt in den Bransfield-Sund war das Wetter windstill und schön gewesen bei klarer und deutlicher Fernsicht. Auf der entgegengesetzten Seite des breiten Sundes konnten wir deutlich die Berggipfel und die schneebedeckten Plateaus zu beiden Seiten des Orleans-Kanals unterscheiden – das alte Trinity-Land. Wir konnten jedoch nichts von Middle-Island entdecken, der Insel, die den Karten nach draussen im Bransfield-Sund zwischen dem Mac Farlane-Sund und der Astrolabe-Insel liegen soll. Schon früher ist die Existenz dieser Insel bezweifelt worden, Vergl. darüber Fricker, »Antarctis«, S. 127-128. und für uns handelte es sich jetzt darum, mit unanfechtbaren Beweisen die sagenhafte Insel aus der Welt zu schaffen. Deswegen steuerten wir am Morgen des 25. November vom Mac Farlane-Sund nach dem Punkt, wo Middle-Island angeblich liegen soll. Hier nahmen wir eine Lotung vor, die eine Tiefe von 1450 m ergab. Der Horizont war zu dieser Zeit rings um uns her so klar, dass jede Wahrscheinlichkeit eines Vorhandenseins von Middle-Island, selbst wenn die Lage unrichtig angegeben sein sollte, ausgeschlossen erscheint.

An der Stelle, an der die nicht auffindbare Insel liegen sollte, machten wir eine eigentümliche hydrographische Entdeckung. Schon am vorhergehenden Tage (am 24.) hatten wir bei einer Lotung von 977 m Tiefe eine auffallend niedrige Grundtemperatur, –1,65°, gefunden. Da diese auch hier in einer Tiefe von 1450 m wieder auftrat, bestimmten wir die Temperatur auch für eine Anzahl intermediärer Tiefen und erhielten so die Temperaturserie, die ich unten mitteilen werde. Zum Vergleich ist eine von der Belgica-Expedition nördlich von den Shetlands-Inseln im Jahre 1898 gelotete Serie daneben gestellt:

Tiefe in m »Middle Island« Drakesund
61° 05' s. Br.
63° 04' w. L.
0 -1,50 +3,2
10 -1,27
25 -1,38 +2,6
50 -1,40 +1,3
75 -1,0
100 -1,28 -0,9
125 -1,4
150 -1,27 -0,9
200 -0,54
250 +1,1
300 +0,02 +1,3
400 -0,98 +1,8
500 -1,30 +1,9
800 -1,47
1200 +1,9
1,450 -1,65 Grund
1,700 +1,4
2,700 +0,8
3,660 +0,6 nahe am Grunde (3,690 m).

Ohne auf die komplizierten Temperaturverhältnisse der verschiedenen Wasserschichten einzugehen, können wir bei einem Vergleich der beiden Serien sofort sehen, dass die ganze Wassermasse im Bransfield-Sund bedeutend kälter ist, als diejenige an der der Aussenseite der Süd-Shetlands-Inseln. Wenn wir den Vergleich auf alle andern Temperatur-Serien ausdehnen wollten, die aus den kalten Meeren vorliegen, so würden wir finden, dass das Tiefseewasser (500-1450 m) in der Sektion »Middle-Island« eine weit niedrigere Temperatur hat als das Grundwasser in irgend einem andern Teil des antarktischen Meeres, dessen normale Tiefentemperatur niemals unter -0,5° sinkt, wie auch, dass es in der Tat das kälteste Grundwasser ist, das man aus irgend einem Teil des Ozeans kennt, kälter sogar als das Wasser in der Tiefe des norwegischen Nordmeeres (-1,5°). Wie dies letztgenannte Gewässer durch eine mächtige Unterseebank (Faröer-Island-Grönland) von der Verbindung mit dem nördlichen Atlantischen Ozean abgesperrt ist, dessen relativ warmes Grundwasser (+1,3 bis +2,4°) deswegen nicht in das Nordmeer einströmen kann, so muss offenbar der Bransfield-Sund ein durch unterseeische Schwellen isoliertes Bassin sein, das durch die ständige Berührung mit dem Treibeis und den Eisbergen abgekühlt und von dem Eindringen des wärmeren Wassers der umliegenden Meere fast vollständig abgesperrt ist. Die relativ warme Wasserschicht in einer Tiefe von 300 m (+0,02°) zeigt aber doch, dass ein solcher Zufluss auch hier zu spüren ist, wenn auch nur in sehr geringem Masse.

Das Bransfield-Bassin ist folglich das kälteste bekannte Gewässer der Erde. Ein Vergleich zwischen dem Tierleben auf seinem Grunde und der Tiefenfauna in dem offenen antarktischen Ozean musste daher von besonderem Interesse sein. In einer Tiefe von 818-849 m gewannen wir bei einem Schleppnetzzug eine ausserordentlich reiche und eigentümliche Ausbeute, die unter anderm mehrere Grundfische, grosse Seegurken (Elasipoda) usw. enthielt. Alle diese Sammlungen gingen aber leider bei dem Schiffbruch der »Antarctic« verloren, und wir sind dadurch gezwungen, einer nach uns kommenden Expedition die biologischen Konsequenzen unserer Entdeckung dieses kalten Gewässers zu überlassen.

Als wir von der hydrographischen Station, die oben geschildert ist, weiter über den Bransfield-Sund nach der Astrolabe-Insel steuerten, lag eine wichtige kartographische Aufgabe vor uns.

Im Januar 1898 war die Belgica-Expedition in den Archipel eingedrungen, der an der Nordwestküste des Grahamlandes liegt, und hatte einen grossen, zwischen der Inselwand und dem Teil des Festlandes verlaufenden Längskanal entdeckt. Der neue Kanal (der Belgica-, später der Gerlache-Kanal) wurde von dem Punkt, wo die Belgica in denselben eindrang (Kap Neyt), bis zu seiner südwestlichen Mündung kartographiert. Die Fortsetzung nach NO. und der Verlauf des Festlandsufers nach dieser Richtung hin blieben dahingegen unbekannt, und die Mitglieder der belgischen Expedition haben in verschiedenen Kartenskizzen allerlei wechselnde Deutungen dieser Verhältnisse versucht.

Strandpartie von der Ostseite der Trinity-Insel

Während der ersten Fahrt unserer Expedition an den Küsten des Graham-Landes entlang drang die »Antarctic« in eine Mündung unbekannter Art, die Dumont d'Urville den Orléans-Kanal genannt hat und die, wie sich jetzt herausstellte, eine nach Südwesten zu verlaufende Strasse innerhalb einer anfangs nur zerstreut liegenden Inselkette war. Bald befand sich die »Antarctic« in einer Gegend, in der Nordenskjöld gewisse Züge aus dem Gerlache-Kanal der belgischen Expedition wieder zu erkennen glaubte, und namentlich meinte er mit Bestimmtheit eine Landzunge mit dem von Dr. Cook in seiner Reiseschilderung wiedergegebenen Bilde des Kap Murray auf der belgischen Karte (vergl. Nordenskjölds Darstellung und Bild, Bd. I, S. 56) identifizieren zu können. Aber die Abweichungen zwischen den Landzungen, Buchten und Inseln und den Konturen auf den belgischen Karten waren so gross, die ganze Identifizierung war so zweifelhaft, dass der Kartograph unserer Expedition, Duse, sich vor die Alternative gestellt sah, anzunehmen, dass entweder das Zeugnis der Kap Murray-Photographien zweifelhaft und folglich die ganze Identifizierung falsch sei, oder dass die belgischen Karten überall innerhalb der befahrenen Strecke in den Einzelheiten unrichtig seien.

So standen die Sachen, als die »Antarctic« im ersten Sommer nach einer zweitägigen Rekognoszierung diese Gegend verliess.

Jetzt lag es uns ob, endgültig das Problem zu ergründen. Wir mussten also erstens uns selber eine klare und sichere Auffassung in Bezug auf diese Frage verschaffen, zweitens einen auf unumstössliche Beweise gestützten Zusammenhang mit der belgischen Karte herstellen, sowie drittens eine Kartierung des Orléans-Kanals ausführen. Auf der einen Seite stellte es sich jetzt heraus, dass Nordenskjölds Identifizierung des Kap Murray richtig war und dass er recht hatte in seiner Annahme, dass der Orléans-Kanal und der Belgica-Sund nur verschiedene Teile desselben grossen Längskanals waren, auf der andern Seite konnte Duse in mehreren Fällen mit seinen Kartierungsarbeiten direkt die Mängel der belgischen Karte nachweisen, die er im vergangenen Sommer als höchst wahrscheinlich bezeichnet hatte und die eine Identifizierung in so hohem Masse erschwert hatten.

Als wir am Abend des 1. Dezember bei Kap Murray anlangten, hielten wir uns, wie das auch im vorhergehenden Sommer der Fall gewesen war, für orientiert, teils durch diese Landzunge, teils durch die Ähnlichkeit zwischen der Two Hummocks-Insel und der Zeichnung, die Arctowski davon reproduziert hatte. »Exploration of Antarctic Lands«, Geogr. Journal, Febr. 1901. Als aber Duse am folgenden Tage eine neue Kartenaufnahme von der Festlandsküste im Hughes-Golf von Kap Murray bis Kap von Steineck machte, wies er so bedeutende Abweichungen von der belgischen Karte nach, dass wir wieder zweifelhaft wurden. Ein Vergleich zwischen dem »croquis provisoire« der Belgier, das in vielen verschiedenen Massstäben reproduziert wurde, dem aber noch keine definitive Auflage folgte, und Duses hier wiedergegebener Karte zeigt dieses ganz klar. Die Inseln auf der Nordseite von Kap Murray sind auf der belgischen Karte nicht angedeutet, und das auf dieser verzeichnete Kap W. Spring löst sich in Wirklichkeit in eine Gruppe recht grosser Inseln auf.

Von diesen steuerten wir quer über den Kanal, um den Versuch zu machen, das Bild von Kap Neyt und Mont Allo zu identifizieren, das von mehreren Mitgliedern der belgischen Expedition publiziert worden ist. Vergl. z. B. Racovitza, »Vers le Pôle Sud«, S. 181, Paris 1900. Dies gelang auch. Das beistehende Bild gibt die betreffende Landschaft wieder mit einer Übereinstimmung der kleinsten Einzelheiten, die keine Zweifel aufkommen lässt. Nur einige kleinere Eisberge an dem Strande auf unserm Bild bekunden, dass die Photographien zu verschiedenen Zeiten aufgenommen sind.

Diese beiden Photographien von den an der südwestlichen Grenze von Duses Kartengebiet belegenen Kaps Murray und Neyt verbinden dieses auf unumstössliche Weise mit der Karte der Belgier. Es ist wirklich ein eigentümlich glücklicher Umstand, dass diese Photographien vor unserm Besuch in dieser Gegend reproduziert wurden, denn ohne sie hätte sich schwerlich ein Zusammenhang mit der von Fehlern wimmelnden belgischen Karte finden lassen.

Um nur noch ein Beispiel anzuführen: In nordöstlicher Richtung von Kap Neyt erstreckt sich, wie auf Duses Karte ersichtlich ist, eine sehr charakteristische Inselwand, die aus zwei grösseren und einigen kleineren Inseln besteht. Diesen entsprechen die Iles Christiania der belgischen Karte, doch sind sie an einem ganz verkehrten Platz und viel zu klein wiedergegeben.

Es ist eine peinliche Pflicht, diese Bemerkungen über die Kartierungsarbeiten der Belgica-Expedition zu machen, weil wir aus eigener Erfahrung die schwierigen Verhältnisse kennen, unter denen der Kartograph in diesen Gegenden arbeiten muss, und weil uns die belgischen Naturforscher nach verschiedenen Richtungen hin das grösste Entgegenkommen gezeigt haben.

Zum Verständnis der Widersprüche zwischen der Karte und der Wirklichkeit, mit denen wir zu kämpfen hatten, ehe wir volle Klarheit in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Orléans- und dem Gerlache-Kanal gewannen, ist es notwendig gewesen, diese ziemlich eingehende Auseinandersetzung erfolgen zu lassen. Künftige Expeditionen, die einstmals die von der »Belgica« und der »Antarctic« befahrenen Küsten besuchen, werden sicher diesen Schwierigkeiten volles Verständnis entgegenbringen.

Kap Neyt und Mont Allo

Während der Zeit, die zu der Kartierung des Orléans-Kanals erforderlich war (26. November bis 5. Dezember), stand das Schiff in erster Linie zu Duses Verfügung. Er bestimmte den Kurs und die Landungen, die für die kartographische Arbeit erforderlich waren. Bei fast allen den 18 Landungen, die ausgeführt wurden, war er von Skottsberg und mir begleitet, die

wir jede Gelegenheit zu botanischen und geologischen Sammlungen benutzten, während K. A. Andersson gleichzeitig vom Schiffe aus mit dem Schleppnetz Proben der üppigen Meeresfauna ans Licht beförderte.

Motiv aus dem Orléans-Kanal. Die »Antarctic«, durch ein Felsentor sichtbar

Keine andere Periode unserer ganzen langen Reise war so ausgefüllt von angestrengter, allseitiger und nach jeder Richtung hin erfolgreicher Arbeit, wie diese schönen denkwürdigen Tage im Orléans-Kanal. Es muss auch gerechterweise anerkannt werden, dass das günstige Ergebnis nicht allein der eisernen Ausdauer der Kartographen und dem Sammeleifer der Naturforscher zuzuschreiben ist, sondern ebenso sehr der willigen Mitwirkung der Besatzung und der Offiziere des Schiffes. Es wurden hier Ansprüche an sie gestellt, die weit über ihre gewöhnlichen Pflichten hinausgingen. Es gab jetzt keine Freiwachen: in der hellen Nacht wie in den Stunden des Tages folgten die wissenschaftlichen Arbeiten in ununterbrochener Reihe aufeinander. Aber ohne das geringste Zeichen von Verstimmung, unser Interesse und unsere Freude über die schönen Funde mit uns teilend, standen diese prächtigen Seeleute uns unverdrossen bei mit einer Bereitwilligkeit, die in ihrer Art ebenso rühmenswert ist, wie der kühne Mut, mit dem sie später den Kampf mit dem Treibeis der Erebus-Bucht und dem langen Polarwinter auf sich nahmen.

Der umfangreichere und gewichtigere Teil unserer Sammlungen aus dieser Zeit ist mit der »Antarctic« verloren gegangen. Aber mit ruhiger Überlegung veranstalteten K. A. Andersson und Skottsberg in den Tagen, als das Schicksal des Schiffes bereits besiegelt war, eine transportable Auswahl unter den wertvollsten wissenschaftlichen Schätzen. Diese wurden nach der Paulet-Insel mitgenommen und auf diese Weise gerettet.

Da die umfassendsten Sammlungen, die unsere Expedition von der dürftigen und unansehnlichen Flora des antarktischen Landes gemacht hat, gerade von den eisfreien Felseninseln und Bergabhängen im Orléans-Kanal stammen, so dürfte diese Schilderung passenderweise auch einige Worte über diese abgehärtete kleine Pflanzengesellschaft enthalten. Die Schilderung des Pflanzenlebens in der Antarktis ist im wesentlichen einem Manuskript entnommen, das mir Skottsberg zur Verfügung gestellt hat.

Der erste Anblick einer antarktischen Küste erweckt unleugbar die Vorstellung eines vollkommen öden, vegetationslosen Landes. Ja, selbst der Ausdruck »Land« ist ein schöner, einem milderen Himmelsstrich entlehnter Euphemismus. Was wir sehen, ist nur ein lichter Schimmer, eine blendend weisse Wand, ein Abhang oder eine flache Kuppel aus Eis, zwischen denen einige scharfe Spitzen oder dunkle, steil abfallende Ufer uns einen Untergrund von festem Bergland ahnen lassen.

Wenn wir uns dann dieser eisumhüllten Küste nähern und auf einigen der kleinen, eis- und schneefreien Felsenwerder in ihrer Nähe an Land gehen, kann es wohl vorkommen, dass wir uns plötzlich mitten in einer der grossen Strandansiedlungen, in einer Pinguinkolonie, befinden.

Hier können wir möglicherweise auch an den Stellen, wohin die Pinguine nicht kommen, auf steilen Felsabhängen und grossen Blöcken Andeutungen eines kümmerlichen Pflanzenlebens in Form von Flechtenarten finden, mit denen die Oberfläche der Felsklippen notdürftig bekleidet ist. Es sind krustenähnliche Überzüge der Lecanora-Art, Gyraphorae, die wie grosse zusammengefaltete Ohren wachsen, und die bartflechtenähnliche, in allen möglichen Nuancen von schwarzgrün bis ins Schwefelgelb prangende Neuropogon melaxantus. Aber überall, wo sich die Pinguine aufhalten, ist der Boden fast vegetationslos. Durch ihr bewegliches Leben, namentlich aber durch ihre Guanoanhäufungen, die während der Brutzeit einen fest zusammenhängenden Teppich über den ganzen Nistplatz bilden, haben sie alle Vegetation von dem Boden verdrängt, der im übrigen für das Wachstum der Pflanzen gute Bedingungen zu bieten scheint.

Aira antarctica. Orléans-Kanal. Fast natürl. Grösse

Es gibt aber doch einzelne Punkte mit reicherem Pflanzenleben. Auf einem der Werder, der nicht nach Geschmack der Pinguine zu sein scheint, und an den Felsabhängen, die nach der Sonnenseite gelegen sind, finden wir die einzigen Oasen in dieser öden Region von Meer und Eis und kahlem Gestein. Eine grünlich-braune Matte fesselt hier schon von weitem den Blick des Beschauers. Sie ist in erster Linie aus allerlei verschiedenen Blattmoosen zusammengesetzt, unter denen die Polytrichum-Arten eine bedeutende Rolle spielen. Verschiedene zierliche Lebermoose und einige Flechten, darunter eine, die viele Ähnlichkeit mit der nordischen Renntierflechte hat, wachsen auch zerstreut zwischen den vorherrschenden Massen der Blattmoose. Wenn man Glück hat, kann man vielleicht auch ein Exemplar der einzigen phanerogamen Pflanze antreffen, die in der Antarktis vorkommt, nämlich ein kleines büscheliges Gras, Aira antarctica.

Kärglich und hart ist das Leben der antarktischen Landpflanzen. Einen grossen Teil des Jahres fegen die einander schnell ablösenden Winterstürme mit unerhörter Kraft über die oft schneefreien bewachsenen Stellen hin, während des Sommers ist das Wetter oft stürmisch und rauh bei bewölktem Himmel, vereinzelt nur sind die sonnigen, schönen Tage, die den Pflanzen in ihrer Entwicklung förderlich sind. Nur selten haben sie Gelegenheit, ihre empfindlichen Befruchtungsorgane zu entfalten, in den meisten Fällen müssen sie sich mit einer Fortpflanzung auf geschlechtslosem Wege begnügen. Es ist deswegen eine angenehme Überraschung für den Sammler, zuweilen einmal ein Moos mit einer ausgebildeten Frucht zu sehen.

Eiersammeln in einer Antarctica-Kolonie

Auf allen Teilen der Erde besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Üppigkeit der Vegetation und der Entwicklung der Insektenwelt. Arm wie die Pflanzenwelt, ist daher auch die Insektenfauna der Antarktis. Eine kleine flügellose Fliege, kleine Poduriden, die zwischen den Moosen leben, und schliesslich einige Arten von Akariden, spinnenartige Tiere von der Grösse eines Stecknadelkopfes, die in dichten Haufen in den Felsspalten sitzen, das ist alles, was die Antarktis an wirklichen Landtieren aufzuweisen hat.

Ich kann das Kapitel über unsern letzten Aufenthalt im Orléans-Kanal nicht schliessen, ohne mit einigen Worten einen Fang von praktischer Bedeutung zu erwähnen, der dort gemacht wurde. Auf mehreren kleinen Inseln trafen wir nämlich recht ansehnliche Pinguinkolonien an, die aus einer einzigen Art, Pygoscelis antarctica, bestanden. Hier ging die Zeit des Eierlegens jetzt zu Ende, und wir benutzten jede Gelegenheit, um unsern Proviantvorrat mit dieser leckeren Ware zu bereichern. Einmal wurde eine ganze kleine Bootsladung an Bord befördert und mehrere Fässer wurden mit Eiern gefüllt, die wir in Salz verpackten.

Die Pinguineier sind ungefähr von der Grösse eines Gänseeis. Beim Kochen gerinnt das Weisse zu einer fast glasklaren (nicht wie bei dem Hühnereiweiss porzellanweissen) Masse, ein Umstand, der manch einen anspruchsvollen Tischgast ein wenig stutzig machte. Aber die Pinguineier sind in hohem Grade geniessbar, auch in gekochtem Zustand, und haben nicht den scharfen Beigeschmack, der z. B. die Eiderganseier weniger appetitlich macht. Der reichliche Vorrat an frischen Eiern beeinflusste unsere ganze Speisenbereitung. Der Koch und der Steward wetteiferten beständig, neue Gerichte aufzutischen; fast jeder Tag führte eine angenehme Überraschung in Form einer neuen Omelette oder eines leckeren Gebäckes mit sich.

Künftigen antarktischen Expeditionen, namentlich solchen, die zu überwintern gedenken, kann man nicht kräftig genug empfehlen, rechtzeitig eine Pinguinkolonie aufzusuchen und sich dort mit einem reichlichen Eiervorrat zu versehen.


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