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Der Kammerdiener sah ihn an; dann half er ihm in den schwarzseidenen Schlafrock. Morny trat vor dem Spiegel: er sah sich wohl, aber das Gesicht verriet ihm garnichts, ein versperrtes Gesicht. Er kam nicht dahinter, er kam nicht einmal recht hin mit dem Blick, so als stünde das Spiegelbild in unmässiger Entfernung, – und fragtest du ihn, von welcher Farbe die Augen seien: er wüsste es nicht; ob die Haut besonders grau sei, besonders leidend der Ausdruck und alt der Mund: er sähe es nicht. Dann griff er zu den Silberpillen. Das tat er immer nach dem Blick in den Spiegel. Aber nur der Griff nach dem offenen Lederkästchen war so sicher wie sonst; dann hob die Hand ein Fläschchen nach dem andern aus dem Etui und tat ein jedes wieder zurück, Nummer eins, zwei, drei, vier, er fand nicht die richtige. Er stand einen Augenblick ratlos. Was wollte er denn? Er spürte ja keinen Schmerz, sondern an der gleichen Stelle eine sonderbar körperliche Unruhe, die flatterte wie eine Fahne im Wind; aber auch das Herz flatterte und das Blut flatterte, der Körper war nicht recht bei sich, der war das Fahnentuch, hing am leise bebenden Schaft, das war der Geist. Was für ein schönes Bild übrigens!
Ihm gefiel das Bild, er hing ihm nach, zwischen den Händen ruhte ganz vergessen das Lederkästchen mit vier Fläschchen Wunderpillen, er sah das Bild, es flatterte noch, aber doch schon in der festgehaltenen Bewegung des Kunstwerks. Ja, die Gedanken waren geschwinde und sozusagen therapeutisch, – er dachte schon: wenn das Kunstwerk des Bildes die Bewegung zugleich darstellt und festhält, dann nimmt es ihr doch die Unruhe des körperlichen Lebens. Es verlangte ihn nach Beruhigung.
»Bitte, Henri«, sagte er, »Licht in der Galerie.«
Der Diener horchte auf die Stimme, die grau war wie das Gesicht, sonderbar verlassen und körperlos, als käme sie nicht aus dem Mund, sondern wie ein Echo aus dem Winkel. Darum zögerte Henri, nicht wegen des ungewöhnlichen Wunsches. (Denn nun war es wohl schon zwei Uhr morgens; und wenn der Herr noch immer nicht schlafen gehen wollte oder noch zu tun hatte, so wäre doch sein Platz im Arbeitskabinett: dort brannte auch noch der Kamin.) Aber Morny hatte seine Stimme nicht gehört und schien nicht einmal mehr zu wissen, dass er gesprochen hatte. Er sagte nämlich aufs neue und wortgetreu, Echo des Echo: »Bitte, Henri, Licht in der Galerie.«
»Aber es ist ja kalt dort«, flüsterte Henri und sah dem Herrn noch immer auf den Mund.
»Es ist doch warm!«, erwiderte Morny zart erstaunt; denn er war nass unter den Achseln.
Er muss den Speisesaal durchqueren, die Stätte des guten Essens. Der grosse Raum sieht so verlassen und so verjährt aus, mit allen wohllebigen Requisiten, als sei er ein Museum des guten Essens: Hier gab der Herzog Morny, Feinschmecker des Kaiserreichs, seine berühmten Diners. Er schüttelt sich; denn ihn ekelt selbst die endgültige Erinnerung ans Essen, und schon ficht ihn ein abscheulicher Geruch von butterheissen Trüffeln an, Erinnerung an die berühmte Trüffelpyramide, – er geht schneller, vor dem Mund das Taschentuch, das nach Peau d'Espagne roch, ein guter Geruch. Es ist ein zugleich weiches und taubes Gehen; denn es scheint ihm, als gehe er auf Watte. Hinter dem Speisesaal lag die Galerie, die berühmte Bildergalerie.
Hier ist Ruhe, rote Ruhe der Damastwände, und eingelassen in die schwere Goldruhe der Rahmen die schweigende Tat der Meister. Wie ist es nun: schwingt nun, während die Augen über das gelassene Wandwunder schweifen, der flattrige Körper aus und findet er in den Halt zurück, in die angemessene Form?
Der Sammler Morny sieht einen Mann mit grossem schwarzen Filzhut und fahlrotem Bart, die Figur tritt aus halbem Dunkel oder ist aus ungewisser Materie geschaffen und steht nun da, knapp vor dem Dämmrigen, ein für allemal. Dies ist sein Rembrandt, das Glanzstück. Die Augen des Sammlers gleiten an dem Bild herunter, die Beine der Kreatur verschwinden fast schon wieder im schütteren Urstoff der Hinterwelt, – und dann steht, für einen Augenblick, ein Mann, ein anderer Mann, zwischen dem Sammler und dem Bild, mit dem Rücken zum Sammler, mit dem Gesicht zum Bild, ein anderer Betrachter. Siehe, der Sammler ist nun schon so bei der Sache, dass er seinen unbotmässigen Körper vergisst: der Erfolg ist zu buchen. Ihn beschäftigt der andere Betrachter, und er probt mit ihm auf souveräne Weise. Der andere Betrachter, ein sehr kleiner Mann mit weisshaarigem Hinterkopf, steht nur einen Augenblick vor dem Rembrandt, dann wird er ausgelöscht, der Sammler geht weiter, er stapft weiter durch die wattige Welt, an der roten Wand warten auf ihn die gesammelten Meister. Er bleibt vor Hobbemas sonnenlichtmahlenden Mühlen stehn und erstellt den kleinen Mann – war es hier? Nein doch, es war vor den grossen Franzosen, vor der »Escarpolette« des Fragonard, vor der »Dévideuse« des Greuze –, ja, hier war es, vor Watteaus schwermütig zärtlicher »Fête«, hier stand der kleine Mann, und dann drehte er sich um.
Hier also geschah die Versöhnung, und die Meister waren die Mittler. Wenn der Zweck die Mittel heiligt, sogar die unheiligen, dann darf er auf meisterliche Mittel stolz sein. Der Herzog Morny schämt sich ihrer nicht, sie beruhigen ihn ja noch nachträglich. Die Galerie verbindet die Präsidentschaft mit dem Vestibül, das private und das öffentliche Leben, eine Verbindung à la Morny. Die Abgeordneten haben die Möglichkeit, vor Sitzungsbeginn in der Galerie ihre Sinne zu erfreuen oder gar zu entgiften. Man findet dort gegen halb zwei den liebenswürdigen Sammler vor seinen Bildern. Der kleine Mann nun war Herr Thiers, die Faszination der Morny-Wahlen und zudem ebenfalls Besitzer einer bekannten Privat-Galerie. Er kam reichlich früh zur Eröffnungssitzung des neuen Parlaments, er hatte Zeit für eine Besichtigung der Morny-Galerie, der kluge Mann. Es war just erst halb zwei. Er stand vor der süssen Melancholie der »Fête«, Kenner der Kunst, der Geschichte und der Politik, und dann drehte er sich um. Der Herzog Morny stand hinter ihm und lächelte. Der Graf Morny, Innenminister, hatte ihm den Staatsstreich angetan und sogar, vermittels der Verhaftung, die profitable kleine Märtyrergloriole verschafft. Die beiden Kenner schritten die Meister ab, von Watteau bis Rembrandt, von der Beglückung durch das Kunstwerk sprechend, vom Sammlerglück, auch von Bilderpreisen, und dann drückten sie sich die Hand. Und dann begrüsste, eine halbe Stunde später, der grosse Präsident den grossen Revenant, – »was meine Person betrifft, ich freue mich …« – und beide Sieger lächelten sich zu. Der Kaiser aber, am nächsten Tag, sagte zum Bruder, müde lächelnd: »Sie freuen sich über meine Feinde. Das ist nicht wenig, wenn man es für sich behält. Das ist viel, wenn man es ausspricht. Nun, Lieber, Sie gehören ja zu meinen Feinden.« – Das war nicht richtig, das war selbst im halben Scherz zu sagen nicht recht, da war die ausgesprochene Freude über einen versöhnten Feind ein besseres Wort, ein klügeres auch; denn, Louis, der Feind ist doch nicht für die Bildergalerie des Kammerpräsidenten gewonnen, sondern für das Reich.
Dies alles ist schwer zu tragen, die Proben mit dem kleinen Mann haben angestrengt, Morny spürt, wie die Schweisstropfen von der Achsel den Körper hinabrollen; doch nichts anderes spürt er vom Körper mehr, auch nicht, dass sein Atem kürzer und rascher geht und dass er in der Luft zu sehen ist, als Flatterschleier vor dem Mund, sieht er nicht. Er ist in Pflicht und Amt, man macht es ihm schwer, man verdächtigt ihn, obgleich es doch um die Versöhnung geht, die schönste Pflicht, das schönste Amt, – ach, und jetzt erst, in dieser ausgelösten und wattigen Stunde, wo die Zeit in den Halt gependelt ist wie der Körper oder doch nicht zu hören oder doch zu vergessen, jetzt erst erkennt er auch die andere Seite des kaiserlichen Vorwurfs, die rechte, die gerechte. Wenn er aufhört, er, Morny der Versöhner, jetzt schon und viel zu früh, dann hört auch die Versöhnung auf, die er sammelt, klug, nobel und leise listig wie seine Bilder, und die doch nur in seinem Hause existiert, als sein persönliches, leidlich bewundertes Werk, in seinem Kartenhaus doch, – dann stehen nach dem Zerfall die Feinde da, von ihm berufen und stark durch ihn: ja, dann ist er mit den Feinden gewesen, wie der Bruder sagt, dann ist er das Reichs-Unglück gewesen, wie der Prophet sagt. Er darf nicht aufhören, versteht ihr es nicht, nicht seine Angst, seinen gehetzten Eifer und seine heilige List? Es darf nicht aufhören mit ihm!
Der Sammler geht von Bild zu Bild, sein Atem flattert vor dem Mund wie eine graue Flagge, das Gehen auf Wattekothurnen ist sehr beschwerlich und mühseliger noch das Warten. Thiers ist Bildliebhaber, Rochefort war einmal Kunstkritiker, für beide ist die Galerie da, die meisterliche List, beiden hat der Sammler den Staatsstreich angetan, aber nur einen ins Gefängnis gesteckt, und dieser gerade ist gekommen und versöhnt, der kleine Mann. Ach Gott, was ist es für ein Warten, wenn man weiss, dass keiner kommt? Aber weiss man denn, dass er niemals kommen wird? Politik ist der fortwährende Versuch, zu erreichen, was nützlich oder notwendig erscheint. Vielleicht gelingt es einmal dem Figaro, ihn hierher zu locken. Vielleicht lasse ich ihn durch die Polizei vorführen, damit auch er, wie der kleine Mann, seine zeitweilige Verhaftung hat, die vielleicht förderlich ist der Versöhnung. Einmal wird er hier stehn, weil ich es will, ich, Morny. Ich werde ihm sagen, dass wir uns über die Bilder nicht zu unterhalten brauchen, denn sie unterstehen nicht mehr der Kritik und nicht mehr der Zeit, wohl aber über die Politik. Ich werde ihm sagen, dass ich den Staatsstreich, der ihn so kränkt, wieder gutmache, dass ich schon genügend Beweise dafür gegeben habe, aber doch erst am Anfang stehe. Ich plane neue Kammerprivilegien, Verpflichtung der Minister, vor dem Haus ihre Tätigkeit zu verantworten, Erweiterung des Amendementsrechtes. Mehr noch, ich plane für das Haus das Recht der Gesetzesinitiative. Ich plane den Aufbau einer Regierungslinken unter Ollivier und Thiers, einer bürgerlich-demokratischen Regierungspresse mit Prévost-Paradol, einer radikalen Regierungspresse mit Ihnen, Rochefort, ja, mit Ihnen; denn Sie sind ein Rattenfänger. Es geht um Politik, wie Sie sehen, es ist nicht Angst, weil Sie aus der offenbachischen Unterwelt entsprungen sind, geradeswegs von der Bühne ins Parkett, weil Sie mir schon einmal einen Stich versetzt haben und weil Sie mit dem Rasiermesser Ihres Meisters Figaro dem Kaiserreich den Hals durchschneiden werden, wie der Prophet sagt, der Maniak aufregender Gleichnisse. Ich habe keine Angst vor Parabeln, glauben Sie es mir, und meine Zeit ist noch nicht um: warum glauben Sie es mir nicht? Und solange ich nicht aufhöre mit der Versöhnung, die meines Amtes ist, werden Sie mit Ihrem Hass nicht anfangen können …
Zwischen dem Sammler und seinem Glanzstück steht der dürftige Rücken und dreht sich nicht um und dreht sich nicht um. Ach, die Zeit läuft ab, sie tickt mit gehetztem Herzschlag. Morny sagt hastig, und das Hemd klebt ihm am Rücken: »Pressefreiheit. Wahlfreiheit. Vereinsrecht. Streikrecht. Alle bürgerlichen und politischen Freiheiten.«
Der Rücken vor ihm ist schon so ungewiss und knapp vor dem Dämmrigen wie an der Wand der Mann mit dem Filzhut.
Morny ruft: »Der Kaiser zieht ja im nächsten, in diesem Jahr die Truppen heraus aus Rom …«
Rochefort geht fort, geradeswegs durch den Mann mit dem fahlroten Bart in die Hinterwelt des Bildes. Morny schreit: »Ich bin nicht schuld an Mexiko!«
Der Diener Henri stürzte in die Galerie, nicht aus dem Vestibül der Politik, sondern aus dem Museumssaal des guten Essens. »Monsieur le Duc – mein Gott …«
»Ja«, meinte Morny, »nun ist mir doch ein wenig kalt geworden.« Er glaubte zu lächeln; denn es ist peinlich, erwischt zu werden, wenn man gerade Lügen gestraft wird. Nicht Mexiko ist die Lüge, Henri, sondern Morny, das Dasein, das Dableiben, das Nichtauf hören des listigen Versöhners: das ist eine grosse Lüge, schon gestraft. Ihm klapperten die Zähne, und die Fahne des Körpers flatterte im klirrenden Frost. Henri war zu sehen, doch durch das umgekehrte Binokel, auch Rochefort heisst Henri, Diener Henri war recht weit und winzig. So greift man wohl daneben und wollte sich doch halten. Der Halt ist entflattert.
Tu comprends, ça ne dure pas longtemps.
Es ist schon lange her, dass Agamemnon sang und tanzte, genügend lange für die kurze Dauer, die er prophezeite. Man begreift. Die Zeit ist um.