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Ist es nicht Vermessenheit, zu sagen: die Zeit arbeite für diesen oder jenen, für Morny oder Persigny, für Turin oder Rom, für Polen oder Russland, für Berlin oder Wien, für General Grant oder General Lee, für Jecker oder Juarez? Die Zeit arbeitet, die Zeit arbeitet, es sieht nicht so aus, als denke sie an diesen oder jenen, die allgrosse Maschine wird nicht angeheizt von diesem oder jenem: aber sie verheizt alle. Und stellt man sie sich vor als Tausendhänder, die Menschenerde zehntausendfingrig umkrallend, so ist es, als wisse die eine Hand nicht, was die andere tut, und als reisse jeder Finger an einer anderen Saite des politischen Lebens, – und das ergibt eine wirre Musik. Der auf sie zu hören hat, – schon weil er behauptet, es sei seine Musik und seine Zeit: der Staatsmann ist übel dran und nicht zu beneiden. Es geht ihm ungefähr so wie dem Feldherrn von Magenta und Solferino, der nicht durch das Ufergestrüpp jenseits des Naviglio und nicht hinter den dampfenden Zypressenhügel sehen kann: er weiss nicht, was kommt, nicht einmal, was ist. Wenn er klug ist, begnügt er sich mit dem nächsten besten, kleinen Finger der Zeit und tut so, als packe er die ganze Hand. Niemand kann es kontrollieren; denn keiner ist auch nur um eine Sekunde weiter als er. Die Zeit ist ein gewaltiger Gleichrichter und Diktator der Ungewissheit, und Propheten sind suspekte Deserteure in das Unerweisliche.
Der ruhige und noble Morny auf dem Präsidentenstuhl sah also aus, als hielte er die Zeit an der Hand und als meistere er ihre weitläufige Bewegung über den vollen und aufmerksamen Saal hinaus, über die jungsommerliche, immer mehr von der eigenen Schönheit angetane, im eigenen Glanz verstrickte Stadt hinaus, über das verworren blühende, noch ohne rechten Unmut, gleichsam aus Lebensfreude rumorende, aus Denkfreudigkeit und dem alten Vernunftshang kritisch gewordene, doch immer noch glückhafte und grossmächtige Reich hinaus, über den entscheidungsträchtigen Kontinent hinaus, über das Meer zur Neuen Welt, die sich im Norden selbstzerfleischte, aber in der Mitte, in Mexiko, in die Übersee-Idee des Kaisers verbiss, ach, in das Fleisch seiner käppitragenden Ideenexporteure.
Im Saal aber, auf der Tribüne, die gegenüber dem Präsidententhron über den Abgeordneten schwebte, sass Rochefort, und ihn sah der weltsichtige und gelassen gegen die aufregende Mexikodebatte gekehrte Morny nicht. Er sah im Parkett seine Deputierten, er kannte jeden Einzelnen, er hätte sie geschlossenen Auges aufrufen können, der Reihe nach, er sah, beugte er sich ein wenig vor, unter sich den Schädel und manchmal das flattrig bewegte Profil des Redners am Pult, er kannte jeden Einzelnen nach Angesicht und Hinterkopf: doch die Zuschauer, die Dolden der Köpfe und Schultern über den Rangbrüstungen, sah er nur als Füllsel der Logenlöcher, vielleicht auch als Gradmesser des öffentlichen Interesses. Rochefort sah ihm zu.
Es ging diesem Rochefort gut, schien es, die Wartezeit lag hinter ihm, aus dem Nichtser war der Chronist geworden, und wo sein heftiges Gesicht auftauchte, das übertriebene und überschärfte Jähzorngesicht mit der Buckelstirn, raschelte es ringsum: das ist der Rochefort vom »Figaro«. Das war schon so etwas wie Berühmtheit, – was kann man sich mehr wünschen? Er konnte jetzt gut essen, was er recht liebte, seinem schlechten Magen zum Tort, er konnte sich gute Bilder kaufen und alte Möbel und viele Spielsachen dem Töchterchen, das Lucile hiess, zu Ehren von Camille Desmoulins, dem sanftäugigen Brandstifter. Rochefort hatte Augen wie ein Menschenfresser; aber war er schon der Brandstifter? Gelangte endlich jetzt die Glut ins Freie, die ihm aus den Augen kochte? Er schrieb Chroniken, das war alles, er hatte einen Stil gefunden, der – wie sein Chefredakteur sagte – das Ernste burlesk und das Burleske ernst nahm, eine Narrenpritsche, mit der er auf die Gesellschaft einschlug. Aber mit der Keule auf den Staat einzuschlagen: das war ihm versagt. Und als er im letzten September, vor neun Monaten, ein paar Bleigewichte in die Pritsche schmuggelte und mit dem kritischen Schlag gegen das Theaterstückchen »Choufleury« den Würdenträger dort auf dem Präsidentenstuhl zu treffen trachtete, da wurde er, der närrische Chronist, ein beinahe berühmter Mann, – und warum? Weil der grosse Morny Narrenfreiheit gewährte und so ruhig und nobel, wie er jetzt dem Angriff auf die Aussenpolitik präsidierte, den kleinen Chronikclown die Früchte seiner Frechheit pflücken liess.
Das war sein Ziel nicht, dieser Ruhm nicht, und am allerwenigsten war es die Dankbarkeit gegen den Grossmütigen, gegen den Lebensretter, die der Chefredakteur wie den Orden des Goldenen Vliesses um den Hals trug und die er mit grosser Hartnäckigkeit auch seinem Chronisten umzuhängen trachtete. Nun, es gelang nicht, Rochefort gehörte nicht zu den Einsichtigen, nicht einmal zu den Eigensüchtigen, – Figaro hin, Figaro her, man lasse ihn laufen, wenn die halbwöchentlichen Harlekinaden ohne Gefühle für den Lordprotektor nicht geschrieben werden dürfen. Aber man liess ihn nicht laufen; denn die Gefühllosigkeit gegen jedermann war ja sein erfolgreicher, journalistischer Trick und die ungestrafte Rücksichtslosigkeit gegen den Zweithöchsten sein persönlicher Triumph. Was kränkt ihn das Schicksal, auch wenn es ihn endlich, endlich streichelt! Was macht es aus seiner natürlichen und gerechten Undankbarkeit die grosse Reklame für ihn, das auffallende Zeitungsinserat, bezahlt vom Vicekaiser!
Es ging diesem Rochefort nicht gut, er stiess sich selbst am günstigen Geschick. Sein Glück kam von dem Glücksgötzen, den er stürzen wollte – es war nicht zu leugnen und wird nicht zu ertragen sein –, und dieses korrupte Glück verdarb sogar den guten, alten Zorn und wob noch aus der Undankbarkeit zähe Fäden zwischen ihm und dem nicht abzuschüttelnden, dem beschämend unaufdringlichen Mäzen. Bis zu seiner jämmerlichen Ruhmestat war für ihn der Grande Morny einer der Staatsrepräsentanten, Bastard-Bruder des Bastard-Kaisers, zu hassen und zu bekämpfen wie hundert andere Kreaturen des Regimes. Dann plötzlich hob er sich ab aus der Front der Feinde, und es erwies sich, dass er die besondere Aufmerksamkeit verdiente. Der Mann, der dem tobenden Figaro die Entlassung des Missetäters untersagte, gar die Kritik als Wahrheit annahm und schliesslich den Kritiker kennen zu lernen wünschte, ist nun einmal ungewöhnlich. Rochefort ging nicht zu ihm, Rochefort geht nicht zu ihm: aber er beobachtete ihn von nun an, er belauerte ihn aus der Entfernung, aus der Deckung des politischen Zuschauers, aus der dunklen und stummen Masse des politischen Zuhörers, und er staunte über ihn. Was ist dieser Gross-Bastard des Kaiserreichs und zweitgrösste Staatsstreichgewinnler, der mit verblüffender Energie auf dem Weg der parlamentarischen Reform weitergeht und noch am Schluss des vorigen Jahres, zusammen mit einem wenig höfischen, aber sachverständigen Finanzminister, auch die Finanzkontrolle für die Kammer zurückeroberte, – ist er die Reichs-Hoffnung, die würdige Evolution der unwürdigen Zeitgeschichte? Oder ist es eben nur die grosse Korruption, die von dieser Glücksspinne ausgeht und in deren Gewebe der zappelnde Chronist verfangen ist, dass ihm, Rochefort, solche Frage auch nur in den Sinn kommt? Denn was ist es mit der Mexiko-Politik, um die es heute geht und die hier behandelt und geprüft, gebilligt oder verworfen werden kann, – doch nur, weil der fragwürdige Mann auf dem Präsidentenstuhl die parlamentarischen Voraussetzungen für Kritik und Kontrolle geschaffen hat: was ist mit Mexiko, der plötzlichen Sensation, der neuen Fatalität? Die Allgemeinheit hatte sich bisher nicht viel um diese ins Exotische verspülte Kaiseridee gekümmert. Ob Syrien, China oder Mexiko: solche exzentrischen Gastspiele des Käppis gehörten wohl zur neukaiserlichen Reputation, zur Rotation des neuen Glücks; aber das Käppi in Rom war näher und wichtiger, und der Innenminister, der am liebsten eine Schildwache vor jedes Pfarrhaus stellte, am nächsten und wichtigsten. Oder war es überhaupt nicht weit her mit dem politischen Interesse von Paris, dem Stadt-Narziss, der mit sich selber glücklich war und dessen Figaro der überfahrene Boulevardhund mehr anging als die Käppimänner, die vor Puebla vor die Hunde gingen?
Nun, Puebla war das Wort, das böse über das Meer gefahren kam und lärmend landete, allen vernehmlich, jetzt schon allbekannt und heute in diesem Saal den Ton angebend. Aber Rochefort war der Mann, der schon vorher, als Mexiko nur ganz ferne, leise und für die Allgemeinheit nicht ungehörig rumorte, die Ohren anspannte und lauschte; denn er horchte jede Sappe der Kaiser-Politik ab, ob sie nicht ins Unrecht und endlich ins Verhängnis führe. Die Beobachtung verlohnte sich von Anfang an: schon das französische Ultimatum mit seiner ungeheuren Pauschalforderung enthielt einen Artikel, der den lauen, englischen Alliierten und auch den spanischen Mitläufer entrüstete und den frühen Keil in das Expeditions-Bündnis trieb: die Erfüllung des Jeckervertrages, – und die Mexiko-Werte stiegen an der Börse. – Die Aufmerksamkeit verstärkt sich. Wer ist in diesem ungeheuerlichen Geschäft? Die Antwort gehört ja zu den neuen Kaiserreichsprichwörtern: jeder Pariser Strassenjunge weiss, wer in grossem Geschäft zu sein pflegt. Aber man weiss es nicht genau, dieses blutige und namenlos gemeine Geschäft steht dem nicht an, der das Reich aus dem Kot der Diktatur herauszieht, Schritt für Schritt, – o seht doch, wie Herr Rochefort, ehemals Rebell, jetzt Arrivist von Lordprotektors passiven Gnaden, im Gestrüpp der Glücksbeziehung zappelt! Man weiss es nicht, vicekaiserlicher Chronist, man raunte es damals auch noch nicht, denn Mexiko war weit, rumorte noch ganz angenehm und wenig aufregend, und die Jeckerbonsbesitzer raunen es ganz gewiss nicht, sondern reiben sich nur die Hände, – man starrt jetzt nur in ehrfürchtiger Abneigung auf den Granden im Präsidentenstuhl, der kritische Wahrheiten annimmt, gewisse Ungezogenheiten übersieht und durch seine Reformen den Redekampf über Mexiko ermöglicht wie mutmasslicherweise durch seine Spekulation den Käppimännerkampf in Mexiko, das fluchwürdige Geschäft, immer nobel, immer nobel!
Aber der Beobachter hat noch dies erkannt: dass nämlich die Mexikopolitik von zwei Spekulationen getragen wurde und dass die börsianische ohne die andere, die dynastische, nicht hätte in Schwung kommen können, und wenn die eine vermutlich vom Vicekaiser stammt, so rührt die andere ganz ohne Zweifel vom Kaiser her oder vom Kaiserpaar oder meinethalben von der Kaiserin, die ja immer tiefer in die Politik eindringt, weil der Kaiser immer tiefer im Sumpf seines Lebens versinkt: was für eine noble Verteilung der Kompetenzen in der Götterfamilie! In dem Tuilerienspiel mit Kronen weiss der Beobachter Bescheid, sein alter Informator, der Hofsekretär Pietri, hat ihm von Eugenies Mexikanerclique erzählt und von Eugenies jungem Erzherzog, dem sie schon lange um den seidigen Bart gehen und der jetzt in Miramar auf den Ausbruch der mexikanischen Kaisergefühle wartet. Wie schafft man sie im Juarezland? Mit Gewalt, mit Kriegsgewalt, mit denselben Bajonetten, die für die Jeckerbons zu siegen haben. Welcher Zündstoff für Brandstifter! Aber Rochefort ist nur Beobachter, vom eigenen Erfolg gefesselt, von Herrn Figaro gegängelt; er darf nur für sich und für ein paar Cafehausfreunde die hässlichen Zusammenhänge erkennen, – etwa wie die Engländer, die vielleicht nur mitmachten, um das Spiel mit Kronen und Aktien zu kontrollieren. Aber sie machen ja nicht mehr mit, auch die Spanier nicht, sie blieben an der Küste, als die Kaiser-Idee ins Innere marschierte, und dann sagten sie sich von dem Bündnis mit der Doppelspekulation los, – wen erregte es schon viel in Paris? Den Chronisten Rochefort erregte es, ganz für sich. Die paar tausend Marineinfanteristen und Käppimänner des Spekulationstrupps standen ganz allein gegen Juarez und gelbes Fieber: und so kam Puebla, die Niederlage.
Was tut man, wenn die Reichs-Ehre im Spiel ist und die Gloire gefährdet? Man verstärkt das Expeditionskorps, man schickt viele neue Käppis nach Mexiko, aus der Doppelspekulation wird eine nationale Sache, Puebla geht im Lande um, – nicht wie ein Fluch, sondern wie eine Parole. Die Zeitgeschichte strömt aus trüben Quellen; aber das ahnungslose Volk filtert sie eilends mit seinen sauberen Gefühlen. Soll der Beobachter weinen oder lachen? Die Militärkredite sind schon bewilligt, das tat die Kammer in aller Stille, gehorsam der Parole. Die Kritik heute wird keine Auswirkung haben, die die Rache für Puebla hindert. Dafür ist gesorgt.
Das Haus ist schon geraume Zeit still; denn Jules Favre spricht. Er sagt alles, was gegen die Expedition und gegen die Unsolidität der anglo-französischen Zusammenarbeit zu sagen ist: doch er sagt es massvoll, bemerkenswert massvoll. Der Präsident sieht von oben auf das Löwenhaupt; aber der Beobachter auf der Tribüne blickt dem Sprecher ins Gesicht, er sieht, wie sich die Scharniere des ausdrucksreichen Antlitzes gemach von der Sorge in stille Traurigkeit hinüberspielen und dann in gehaltene Entrüstung – o diese Verleumdungen des Auslands! –, wie der Virtuose der Wirksamkeit zum hinterhältigsten Sprung ansetzen wird, ganz ohne Löwengebrüll und Lotsenruf. Rochefort sieht mehr als Morny, er wittert die Gefahr für ihn; aber ihm gefällt der Anschlich nicht. Seit wann ist Rochefort für ritterliche Kampfesweise gegen das Spekulanten-Regime, gegen eine Staatspolitik, die doch noch mit ihren Soldatenopfern spekuliert, dass sie das Nationalgefühl ins fluchwürdige Geschäft einbringen, – seit wann, seit der ritterlichen Haltung des grossen Herrn gegen seinen kleinen Kritiker? Würdest du jetzt den bedrohten Lordprotektor warnen, Rochefort, wenn du die Möglichkeit hättest? – Nein, er würde ihn nicht warnen.
Jules Favre ist schmerzlich entrüstet, nicht über die Mexiko-Politik, nein, über die hässliche, die verleumderische Weltmeinung, und das Metall seiner Stimme, mit der Sordine heute, wird noch dunkler und gedämpfter in gerechtem Widerwillen. »Schrieben da nicht kürzlich die »Times«, die Jecker-Bons wären von einer Gesellschaft zurückgekauft worden, an deren Spitze sich bekannte Persönlichkeiten befänden?« Er hebt angeekelt die Hand, er hebt auch die Stimme: »Das Gerücht ist noch nicht in Frankreich eingedrungen, aber es geht ungestraft in Europa um!« Und dann schweigt er, er hat nichts mehr zu sagen, nein, er hätte noch viel zu sagen, sein verstummtes Antlitz verrät es, der mächtige Mund ist zugeschlossen, die Muskeln bis in den starken Hals hinein schwellen an unter dem sperrenden Druck der Faust, die ja doch noch auf allen Mündern lastet – und jetzt erst, in diesem vielsagenden Schweigen, geschieht der Ansprung der lautlosen Katze.
Morny hob den Kopf, auch Rochefort. Es konnte jetzt sein, dass sich ihre Blicke trafen. Doch Morny sah ihn nicht, seine Augen hoben ihn nicht heraus aus der Dolde der Tribünenköpfe und lösten nicht den einen Blick aus der Masse der Anstarrer. Aber er dachte an ihn, der Vicekaiser denkt jetzt an den Chronisten. Die Katze des Gerüchts ist nun aus dem Sack gelassen: welch ein Fressen für Rochefort!
Rochefort betrachtete Morny. Man sollte nicht glauben, dass das ruhige und noble Gesicht soeben den Tatzenhieb empfangen hat. Zeugt es von gutem Gewissen oder nur von kaltem Blut, von dreister Stirn, von Dickfelligkeit? Und wie steht es mit der Raubtiertaktik, mit Schlich und Sprung, – ist sie nicht vorbildlich? Ist es denn nötig, dass man die Wahrheit kennt? Der Löwe weiss so wenig wie er, Rochefort, ob Morny im Mexiko-Geschäft ist; aber er springt ihn an; denn er ist sein Feind. Und er ist Rocheforts Feind. Der Pamphletist hat nicht die Wahrheit nötig, um Brand zu stiften: es genügt das Gerücht, es genügt sogar die Lüge. Gut, noch ist er kein Brandstifter, sondern ein gegängelter Chronist; aber er kann sich mit Schlich und Sprung des nunmehr schweifenden Gerüchts bemächtigen, der bewährte Hanswurst der Zeitung, und es hübsch aufzäumen für die Chronik, – wird er es tun? Der Teufel weiss, warum es ihm so schwer fällt …
In die lähmende Stille des Saales brach jetzt, wie auf einen Wink, der Protest der Morny-Freunde ein. Aber der Dirigent hatte nicht gewunken, nein, er rührte sich jetzt erst, er hob die Hand, er winkte ab, mit seinem Morny-Lächeln.
Vielleicht, dachte Rochefort – es ging ihm nicht gut –, vielleicht wird er wieder, wie bekanntlich schon einmal, das amtliche Stenogramm frisieren, und dann, ja, wenn die Rede nicht zu lesen sein wird, wie sie war, Wort für Wort: dann schreibe ich die Mexiko-Chronik …
Aber der Löwensprung stand in den Gazetten.
Der Kaiser war guter Dinge. Würde Morny nicht gewusst haben, dass die Frische und bemerkenswerte Tatkraft des Bruders schon seit einiger Zeit währte, eben seit der Nachricht von Puebla, seit dem kalten Wasserstrahl der Niederlage: so hätte er meinen können, des Kaisers Munterkeit habe ein wenig mit Schadenfreude zu tun, hänge locker mit jenem Tatzenschlag zusammen, den der unentwegte Reformator just in der reformierten Kammer abbekommen hatte, und zeigte sich mit der kleinen Tücke, die sich seit dem innenpolitischen Wandel in den Verkehr der Brüder einschlich, recht deutlich der offenbaren Niedergeschlagenheit des Vicekaisers. Der Kaiser also steckte in Arbeit und liess es sich sogar anmerken, er war wieder Feldherr, er bereitete die neue, die grosse Mexiko-Expedition vor, die Expedition eines ganzen Armeekorps, er bekümmerte sich bis in die Einzelheiten der Ausrüstung, der Nahrung, der sanitären Ausstattung und Massnahmen, er stellte, nach einer äusserst harten Kritik an der bisherigen Kriegsführung, einen neuen Operationsplan auf, der mit dem feindlichen Klima nicht weniger rechnete als mit den feindlichen Streitkräften und den klimatisch bedingten Einsatz der weissen, braunen und schwarzen Formationen auf das genaueste regelte: o, er hatte zu tun, die Einschiffungen beginnen in diesen ersten Julitagen, er steckte bis über den Hals in Arbeit; aber sie bekam ihm gut. Nein, er war nicht schadenfroh, sondern nur guter Dinge und frisch, so als trüge er wieder das Käppi in Wind und Sonne des Lagerlebens. Der Bruder, der seinen schlechten Tag hatte, seinen grauhäutigen, wie man sieht, darf ihn stören, wenn auch nicht zu lange.
Was für Fragen, Morny! Ob nicht die Mexiko-Investierungen zu gross würden, unübersehbar, unabsehbar? Ob nicht, auf lange Sicht, die rasche und radikale Liquidierung des ganzen Unternehmens eine Ersparnis oder sogar, durch die Verhütung der unabsehbaren Folgen, durch die Verstopfung der möglichen Leidensquellen, ein Glück sein würde, welches den augenblicklichen Prestigeverlust bagatellisiert und sehr rasch vergessen macht? Was für erstaunlich nachträgliche, gänzlich verspätete Fragen? Jetzt brauchen wir den Erfolg, nichts anderes als den Erfolg, auf Biegen und Brechen, und deshalb schicke ich 23000 Mann hin. Wir brauchen den Erfolg, um Maximilian einzusetzen und durch diese gewaltige, neue, habsburgische Sekundogenitur möglicherweise den Verzicht auf Venetien auszugleichen, – das klingt kühn, das klingt auch dem jungen Kaiser noch so ungewöhnlich – er hat keine Phantasie –, dass er seinen Bruder alles andere als ermutigt. Wir brauchen den Erfolg, um von Italien ablenken und Rom nahe kommen zu können; denn Rom ist an dem Sturz dieses kirchenräuberischen Indianers und an der Aufrichtung der katholischen Monarchie interessiert. Und wir müssen Rom näher kommen, auch noch in direkterer Form, in diesem Jahr noch, – wegen der Wahlen. Wir müssen den Erfolg haben wegen England, das uns die Rückseite kehrt, wegen Europa, das uns die Rückseite kehren wird.
Des Kaisers goldener Bleistift schlug zu den Worten den Takt auf die grosse Karte von Mexiko, die auf dem Schreibtisch lag. Der Kaiser sass am Schreibtisch, nicht im tiefen Sessel. Doch jetzt lag der Bleistift still in der Hand, und Napoleon sah in die Luft. »Preussen«, sprach er wie für sich, »ja, da ist die Idee mit Preussen. Ich will Maximilian zum Kaiser machen, drüben, aber ich will mich nicht mit Franz Joseph verbinden, ich will mich nicht an Österreich binden. Doch wie die Dinge sich entwickeln, muss man sich entscheiden: für Österreich oder für Preussen. Man votiert ungern für das Gestrige, auch wenn es noch stark ist, Sie verstehen mich. Wenn man berechnen kann, was kommt, ist es klüger, beim Kommenden Pate zu stehen, als das Vergehende auszusegnen. Ich sprach letzthin in Fontainebleau lange mit Herrn von Bismarck. Wir wissen ja, dass seine Gesandtschaft hier nur das Wartezimmer ist auf die Ministerpräsidentschaft und das Auswärtige. Und ich weiss aus sehr guter Berliner Quelle, dass ihn nicht nur seine Feinde, sondern selbst sein eigener König den »Bonapartisten« nennen – was übrigens lächerlich ist; denn dieser Stockjunker liebt uns nicht, das fühle ich sehr gut –, aber er ist Realpolitiker, er ist ein so unheimlich realer Politiker und kalter Hasser Österreichs, dass ich leider manchmal an Cavour denken muss. Und ich habe nicht einmal bei Cavour die Fähigkeit gesehen, sich die Offenheit als Tarnkappe aufzusetzen, – eine erstaunliche und garnicht geheure Gabe. Herr von Bismarck ist so offen, das man ihn nicht zu fassen bekommt. Folglich bin auch ich zu ihm von geradezu exzessiver Offenheit. Wir gingen also ungefähr wie zwei sperrangelweit geöffnete Scheunentore auf einander los. Aber er ist ja viel grösser als ich, er ist ein Riese, wie Sie wissen, er hat Cent-Gardes-Grösse, die ich doch nur als Paradeformat schätze: kurz, es ist möglich, dass ich immer durch ihn hindurchschlüpfe. Ich proponierte ihm das Bündnis, im übrigen nicht zum ersten Mal, ich enthüllte ihm ein österreichisches Angebot, dessen Form ich selber erst in vagen Andeutungen ahne, ich sah ihm zuliebe in eine weltpolitische Zukunft, die die preussisch-deutsche Einheit ohne Österreich zeigte, doch vorurteilslos und vernünftig verbunden mit dem westlichen Kaiserreich, – aber dann war ich wieder durch ihn durch und stand im Leeren, unangerührt, und fror gleichsam …« Der Crayon entglitt den klammen Fingern und fiel auf Mexiko.
»Ich aber bin weit und tief in Mexiko«, erinnerte Morny, sein Lächeln war blass heute.
»Ich ja auch!«, lächelte der Kaiser, ergriff den Bleistift und umkreiste einen Punkt der Karte, »Sie wissen ja garnicht, wie weit und tief ich schon in Mexiko bin! Hier sitze ich schon, in Mexiko-City, und bin dann schon so massig, dass mich selbst Herr von Bismarck nicht mehr durch sich hindurch fallen lassen kann. Verstehen Sie jetzt die Abschweifung, die gar keine ist? Aber da Ihnen ja seit etlicher Zeit das Hemd näher ist als der Rock, komme ich schon auf die Beziehung Mexikos zur Innenpolitik. Da genügt ein Blick auf den Kalender. Die Wahlen sind in elf Monaten. Dazu brauchen wir den Mexiko-Erfolg. Bis dahin müssen wir in Mexiko-City sein. Das ist mindestens so wichtig wie Persignys Wahlkampf.«
»Lieber Gott«, warf Morny ein, »ist denn gar dieses mexikanische Universalmittel auch gut für die Rückentwicklung des staatlichen Lebens im Sinne Persignys? Soll es ihm, der doch bekanntlich garnichts von Mexiko wissen will, wahrhaftig helfen, das Zeitrad um die berühmten zehn Jahre zurückzudrehen?«
»Warum nicht?«, rief der Kaiser. »Es ist ja schon heute ein Rückschluss möglich: nämlich, dass schon ein Rückschlag in Mexiko Wasser auf die Mühlen aller Juareze ist, auch der hiesigen, – dass Puebla genügt, um hier die Brunnen zu vergiften. Nicht wahr, Morny?«
Morny schwieg eine Weile; dann hob er entschlossen den Kopf. »Gottseidank, Louis, von Einem sprechen Sie nicht: Sie sprechen nicht vom mexikanischen Millionenregen.«
Der Kaiser blies den Rauch fort und sah ihn an. »Nein«, sagte er dann, »nein.«
»Ich danke Ihnen, Louis. Und Sie erwarten nicht und rechnen nicht damit, dass mich Mexiko veranlasst, der Persigny-Wahl den Weg freizugeben?«
»Ich glaube nur, dass Mexiko den Ausschlag bringen kann.«
»Ich glaube es nicht, ich glaube auch, dass elf Monate zu wenig sind für Mexiko, viel zu wenig. Aber vielleicht haben Sie recht, und vielleicht siegen inzwischen in Nordamerika doch die Südstaaten über Lincoln: das steht nämlich auch in Beziehung zu Mexiko, Sire. Aber dies wissen wir nun: dass Mexiko kein beiläufiges Konsortial-Geschäft ist, wie wir noch im letzten Jahr glaubten, – oder wie ich es glaubte. Da die Liquidation aus politischen Gründen nicht mehr möglich ist, da Prestige-Politik nichts anderes bedeutet, als dass das Reich mit seiner seelischen und körperlichen Kraft in Mexiko verpflichtet wird, und da dann nur der Wille der Nation das Unternehmen tragen, halten oder beenden kann, muss die Mobilisation der nationalen Selbstachtung auch ausschliesslich der Nation dienen oder meinethalben der grossen Politik, aber keinem Privatinteresse.«
»Natürlich«, sagte der Kaiser und zerdrückte die Zigarette, als beeinträchtigte sie seine Aufmerksamkeit.
»Gut«, sprach Morny, »dann gebe ich Ihnen den dringenden Rat, schon heute, Louis, und es gilt für mehr als elf Monate, weiss Gott, für welchen Zeitraum: streichen Sie die Jecker-Klausel! Es genügt ja, um Aufsehen zu vermeiden, die stille Streichung, die Nichtberücksichtigung.«
Der Kaiser legte bedächtig den Bleistift auf die Landkarte, lehnte sich im Stuhl zurück und sah auf seine Hände, die er über dem Leib gefaltet hatte. »Wenn ich Ihnen, lieber August Morny«, antwortete er nach einer Weile, und es geschah sehr selten, dass er den Vornamen des Bruders aussprach, »wenn ich Ihnen sogar frei stellte, den Rücktritt der Regierung von der Jecker-Klausel in der Kammer zu erklären oder anzudeuten?«
Morny schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie sind ein guter Mensch, Louis. Aber abgesehen von der Börsen-Deroute, die zwangsläufig einer solchen Erklärung oder Andeutung folgen würde, wäre es der überdeutliche Rückzug vor unseren Juarezen: ein innenpolitisches Puebla sozusagen. Verstehen Sie mich doch, Louis: es ist ja nicht das Gerücht, vor dem ich Angst habe und befreit sein will.«
Der Kaiser nickte, er verstand ihn wohl, er nickte ihm zu. Er stand auf und ging durch das Zimmer, die rechte Hand auf dem Rücken, in der linken die frische Zigarette. – Er braucht mir ja nichts mehr zu sagen, dachte Morny, es genügt ja. – Der Kaiser ging hin und her, und als er jetzt sprach, sah er den Bruder nicht an. »Ich besuche um den 10. Juli herum mit der Kaiserin die Auvergne, wie Sie wissen. Ich ersuche Sie, den langjährigen Deputierten des Puy-de-Dôme, diese Gelegenheit und die Kammerferien zu benützen, um Ihre treuen Wähler zu besuchen und als Präsident des Generalrats mich und die Kaiserin in Clermont-Ferrand zu empfangen. Bei dieser feierlichen Gelegenheit werde ich eine alte Dankesschuld abtragen und Sie mit der Herzogswürde belehnen. Ich halte den Zeitpunkt, Ihnen meine Achtung und meine Freundschaft in der sichtlichsten Form zu zeigen, für gut. Sie auch?«
»Ja«, sagte Morny leise.