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Hier ist wieder der sonderbare Kopf mit dem Käppi, vier Wochen später, genau in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni. Das Fenster steht offen, die Nacht schaut herein, und ihre unaufhörliche Bewegung streift vorbei, der Fluss strömt vorbei, ganz nahe und tief – mein Gott, was ist das für ein böses Gelände zum Kriegführen, überall hier in dieser zerschnittenen und verwässerten Fläche! –, der Grenzfluss Tessin, von Norden nach Süden: das ist das nasse Rauschen; und über ihn geht ewiger Tritt, so als ob in dieser Nacht alle Menschheit den Tessin überschritte, von Westen nach Osten: das ist das trockene Rauschen, – und beides Rauschen, gekreuzt, gemischt und getrennt, unter und über der angesprengten Brücke von San Martino, weht durch das offene Fenster des nahen Fuhrmannshäuschens; und viele ehrfürchtige Blicke wehen mit hinein.
Das Zimmer ist ganz kahl, man besitzt es mit einem Blick. Auf dem Tisch stehen zwei leere, bäuchige, strohumwickelte Flaschen, in denen die manchmal flackernden Kerzen stecken. Dazwischen liegen Meldezettel, zerknitterte, verbogene. Hin und wieder kommen Offiziere und geben Meldungen ab. Dann beugt sich das Käppi zwischen die Kerzen, und die Unruhhände glätten das Papier, mit ihrer besänftigenden Bewegung. Zwischen den Meldungen – und die Zwischenräume werden immer länger, je weiter die Nacht vorschreitet, ach, und der Kriegstag wird nicht deutlicher – geht das Käppi auf und ab, immerzu. Der Schemel ist tief unter den Tisch geschoben, man will sich nicht setzen. Das Feldbett bleibt verschattet im Hintergrund und leicht zu übersehen, man will sich nicht legen.
Das Zimmer hat einen zertretenen Ziegelboden, das Gehen ist nicht angenehm, es bedarf einer gewissen Übung, um nicht zu stolpern oder umzuknicken, und dann auch klickt es bei jedem Tritt hohl und wie knöchern, man muss sich dran gewöhnen. Man gewinnt auch Übung und Gewöhnung, man ist ja von tausend Gedanken abgelenkt und schliesslich auch, wenn man nur will, vom Blick aus dem Fenster. Man hört das rauschende Kreuz, die Kreuzung des Kriegsflusses und der Kriegsmenschen, man sieht nicht den Fluss, aber die Brücke, aber die Brücke! Und dieser Blick tut gut. Die Brücke blinzelt ihm zu, mit vielen Lichtern, mit stehenden: das sind Windlichter auf dem Geländer, mit west-östlich heranwehenden: das sind Fackeln und Laternen des Kriegsvolkes und des Kriegsmaterials. Die Brücke zwinkert in die Stube wie ein Augur: der Feldherr weiss nicht, ob dieser schwere und furchtbar ungewisse Tag schon Weltgeschichte war, aber er sorgt vor, für den Fall, dass es morgen erst Weltgeschichte wird, – und zehn Zentner österreichischen Pulvers waren zu wenig gewesen, um die Quadern zu sprengen, das war der Glücksfall von vorgestern, die Brücke steht und trägt, ein Bogen nur wackelt harmlos, sie trug heute vormittag die Garde-Grenadier-Division, die den schrecklichen Tag zu bestehen hatte, und jetzt trägt sie die nächtliche Vorsicht heran: Drittes Korps, Division Bourbaki, Artillerie, Train, – die Brücke zwinkert endlos. Morgen früh wird das Käppi achtzehn Brigaden auf dem Schlachtfeld haben. Aber haben dann die Österreicher nicht zwanzig Brigaden oder gar zweiundzwanzig?
Was weiss der Feldherr, ach Gott, was muss er wissen? Er weiss, wieviel Zeit eine Division benötigt, um eine Brücke zu überschreiten, er weiss nach dem Zeiger seiner Uhr, welche Macht die irrlichternde Brücke ihm zuträgt, mit trockenem Rauschen, und dass der verlässige Zustrom noch seine gute Zeit andauern wird. Seine Ohren sind besser dran als seine Gedanken, die mehr bedenken, als er weiss: er hört Artillerie, viel Artillerie, seine Waffe; denn er ist Artillerist von der Thuner Schule des grossen Dufour, und sein artilleristisches Handbuch, kein schlechtes Buch, war vor zweiundzwanzig Jahren sozusagen der militärische Nachweis seines Prätendententums, – seine Waffe und sein Werk; denn die neuen gezogenen Geschütze, die über die Brücke poltern, hat er eingeführt und er weiss, dass sie, an Reichweite und Schusschnelligkeit um vieles überlegen, die veralteten glatten Rohre der Österreicher in Grund und Boden schiessen können. Aber, mein Gott, lässt denn dieses vertrackte Gelände, das mit dem Gottessegen der Fruchtbarkeit, mit umwässerten Reisfeldern und verwirrenden Weingirlanden zwischen sichtsperrenden Maulbeerbäumen, mit strotzendem und trotzendem Boden die Kriegsführung verhöhnt oder gar schwächt mit der frommen Erdkraft seiner Kulturen, den Einsatz des überlegenen Kampfmittels zu? Wie ist diese allmächtige und ungeheure Poebene voll der Feindschaft des starken, wilden und besessenen Nährbodens gegen die Zerstörung, des ewig tragenden Erdmutterfriedens gegen den Krieg, – und ganz an ihrem Anfang steht jetzt der mit dem Käppi, Soldat und Feldherr, und er erkennt schon die Feindschaft Gottes. Das ist keine rechte Erkenntnis für den Soldaten, wo führt das hin? Es führt zunächst zum zivilen Kleid zurück, dem eben ausgezogenen, zum Zivilistentum, das die kritischen und missmutigen Berufsgenerale seiner Umgebung aus allen Löchern dieses fadenscheinigen Krieges herausblitzen sehen oder zu sehen belieben. Sie sahen scharf hin, die kommandierenden Herren, die mit einemmal nicht mehr kommandieren durften – denn das Käppi befahl, in aller Form, in allem Ernst –, sie sahen vor vierzehn Tagen scharf hin, als das Käppi das erste Mal in die Gefechtslinie kam, bei Montebello, das erste Mal in den überdeutlichen Krieg, und sie sahen allerlei, wenn auch nichts Deutliches. Da stand sein schönes, lammfrommes Pferd quer über dem Weg, regungslos, gehorsam und gleichgültig, der Kaiser hob sich etwas im Steigbügel, beugte den Oberkörper seitlich vor und schaute an dem ganz wenig zuckenden Pferdehals vorbei in den Graben: Im Graben lag ein toter Voltigeur, die Beine mit den faltigen, roten Hosen lagen höher als der Kopf, und zu oberst waren die Stiefel, fast neue Stiefel aus gutem, kräftigem Leder, und an den hellen Gamaschen fehlte kein Knopf. Doch da ihm ein Querschläger oder eine Kartätschenladung den Schädel weggerissen hatte, war ihm von gutmütiger Hand ein Käppi aufs Gesicht gelegt worden, es brauchte ja nicht sein eigenes Käppi gewesen zu sein, das Jedermannskäppi, das brennendrote. Aber wie ist das, wenn ein Käppi etwas zudecken soll, was zur Hälfte nicht mehr da ist? Es ist ein schaurig schiefer Sitz, ein Abgleiten in das halbe Nichts, ein Hohn auf die ganzgebliebenen Gamaschenstiefel, und vom armen Gesicht blieb eigentlich nur der Mund mit dem vorgeschriebenen Imperial, durch das obere Nichts klappte das Käppi etwas auf mit gähnendem Schirm und liess den Kaiserbart sehen, den übrig gebliebenen, und den aufgeklappten Mund, und der Mund streckte die Zunge heraus, und auch da sassen schon die metallfarbigen Fliegen. Das Käppi schaute vom Pferd auf das Grubenkäppi herunter, das ihm die Zunge zeigte und den eigenen Kinnbart, als Überbleibsel viel jüngeren Lebens, – er liess sich Zeit mit der Betrachtung, und die Suite hatte Zeit für die Kontrolle des Kriegsamateurs. Er sei ganz gelb geworden, stellte man fest; aber gelb war er immer.
Montebello war nur ein Gefecht, der Sieg gleichsam nur ein Sieglein, die Division des Draufgängers Forey, die allein im Spiel war, hatte fünfzehn Prozent Verluste. Aber der Übergang über den nahen Po kam dennoch nicht zustande. Ohne schwere Geschütze und Brückenmaterial konnte weder der Brückenkopf von Vaccarizza noch gar die Festung Piacenza genommen werden: der Belagerungspark musste erst über den Mont Cenis geschleppt werden, und die Brückenequipage war noch in Strassburg. Der Feldherr war vorsichtig und gab acht Tage nach der Begegnung mit dem Grubenkäppi von Montebello die Umgehung des linken österreichischen Flügels auf. Das hätte ein zweites Marengo werden sollen.
Er sollte doch um Gotteswillen jede Analogie vermeiden, dachten die Berufsgeneräle, und vielleicht machte es ihnen Spass, in solchem Zusammenhang an jenen kleinen Querhut von Strassburg Anno 37 zu denken, von dem zu sprechen es schon lange nicht mehr statthaft war. Sie mochten dies und das denken; aber sie hatten an der eigentlich nicht unbegabten, vernünftigen und überlegten Änderung des Operationsplans wenig auszusetzen. Sie hatten vor allem zu gehorchen und trauerten der abgenommenen Verantwortung nicht nach; denn sie standen ja jenen Kreisen nahe, die diesen Krieg für überflüssig hielten und das seltsam mitgehende Volk nicht verstanden oder bedauerten oder ihm misstrauten. Jetzt soll also der rechte Flügel umgangen werden. Der Plan war weder ohne Geist noch ohne Kühnheit; denn der Griff über den oberen Tessin gefährdete die Verbindung mit den Hauptdepotplätzen Genua und Susa. Man musste also durchaus siegen. Aber wenn man siegte, war auch Mailand gewonnen und der Gegner vielleicht sogar von der Hauptrückzugsstrasse poabwärts abgeschnitten. Der neue Feldzugsplan des Amateurs war nicht ohne Geist und Kühnheit. Vielleicht hätte es selbst der Grosse von Marengo nicht anders gemacht, ohne Park und Brückenequipage. Aber den langen Blick auf einen toten Soldaten hatte er sich nicht geleistet; es hätte ihm sonst bei der Leichengirlande rechts und links von seinen Kriegsgott jähren die Zeit für den Blick auf den Sieg gefehlt.
Man gönne dem mit dem Käppi doch den langen Blick auf das Opfer und die beinahe theologische Erkenntnis vom tiefen Widerstand der Friedenserde. Es ist keine schlechte Erfahrung, auch für den Feldherrn. Dies auch also weiss er schon: dass das Kriegsleid immer wieder erfahren werden muss, von Jedermann, und dass es sehr viel leichter zugänglich ist als das Kriegsglück. Aber muss der Feldherr, der seinen guten Plan kennt und ausführt und also das Kriegsleid in Kauf nimmt, nicht nach einem sehr blutigen Kampftag wissen, wem das Kriegsglück hold ist? Ist es nicht ein Hohn, die alte Verhöhnung seines Ernstes, nach einem kriegsleidigen Tag im Sattel die Nacht durchwandern zu müssen, hin und her im kahlen Zimmer, von den Gedankenfurien gepeitscht, und recht allmählich zu erfahren, dass man scheinbar nicht verloren habe?
Der Plan war doch gut und genau wie ein Uhrwerk. Man nimmt den Feind in die Zange und wird ihn zerdrücken. Die Zange besteht aus der Gardedivision und dem Korps Mac Mahon, der zehn Kilometer nördlich bei Turbigo den Fluss überschreitet und flussabwärts stösst, Ziel seiner rechten Kolonne: Buffalora, Ziel der linken: Magenta. Die Garde geht über den Tessin bei San Martino, durchschreitet die Flussniederung, erzwingt den Übergang über den Schiffahrtskanal Gran Naviglio bei Pontenuovo, Ziel: Buffalora. Die Zange kneift zu. Das ist der Plan, und es geht nach der Uhr. Mac Mahon marschiert um neun Uhr morgens ab, die Garde um zehn Uhr, Flügeladjutant Schmitz, in aller Frühe nach Turbigo jagend, meldet zurück, dass die rechte Kolonne um zwei Uhr dreissig in Buffalora sein werde, die linke eine Stunde später in Magenta. Das geht wie im Kursbuch. Das Käppi steht mit der Garde schon um halb eins vor den beiden Navigliobrücken und befiehlt den Angriff für Punkt zwei Uhr.
Das Käppi sieht auf die Uhr, der Blick sitzt im schmalen Winkel der beiden goldenen Zeiger, und plötzlich öffnet sich die Falltür der Zeit, der Blick stürzt mit dem Zifferblatt durch die Zeit, nur massig tief, nur bis zum Beginn dieses goldenen Jahrzehnts: das Zifferblatt liegt auf dem Schreibtisch im Elysée, dem Tisch des grossen N, rechts und links liegen die Hände, flach auf die Platte gepresst, schon ist es zwei Uhr, Punkt zwei Uhr, die Hände fliegen hoch, die Dezemberluft kracht durchs offene Fenster – nur die Sonne, die die Neugierigen auf die Strasse gelockt hat, lässt sich nicht stören –, die Füsillade der Republik beginnt auf die Uhr, mit ganz dem gleichen Bild des Zifferblatts. So begann das Kaiserreich, so ohne rechte Notwendigkeit pünktlich und blutig.
Was ist das für ein Feldherr, der durch solche Falltür in den Gedankenkeller stürzt, ganz verfangen in das Spinngewebe der Beziehungen? Nun, er ist kein schlechter Feldherr und gewiss kein feiger Mann. Er fällt mit dem Zifferblatt durch die Zeit; aber die Offensive beginnt auf die Minute, und er ist dabei, er sitzt nicht im Elysée, er hat ruhige Hände, er raucht. Er hält auf dem lammfrommen und gleichgültigen Pferd in der Flussniederung, die entscheidenden Navigliobrücken unter den Augen, und seine Umgebung kann ihn kontrollieren.
O dieses Gelände mit den Fussangeln des Gottessegens, umwässerte Reisfelder, vom Gottesregen überflossen, jedes Quadrat eine Festung der guten Erde, jeder Acker, über dem sich die stämmigen Gnomen der Maulbeerbäume die Weinschnüre zuwerfen, ein Verhau der Fruchtbarkeit! Was vermag die kriegerische Stundenuhr gegen diesen zähen und zeitlangen Boden?
Der Gardedivisionär ist zu Hause ein bekannter Büchersammler, im Felde ein bekannter Draufgänger. Er fegt mit seinen zehn Grenadier-Bataillonen über die Brücken und hat schon die Zollhäuser am anderen Ufer. Das geht gut an. Das Käppi sieht seinen pünktlichen Westoststurm mit Gewehrgeknatter, Pulverdampf, Getrommel und Geblase über die steinernen Bogen wehen. Ein paar Weissröcke fliegen über die Brüstung und fallen ins Wasser wie Puppen. Es geht ganz schnell, es geht gut, es ist zwei Uhr dreissig. Jetzt ist Mac Mahon in Buffalora. Jetzt taucht die Gardespitze drüben in das dunkle Gewimmel von Weiden, Pappeln, Erlen, durch das die Strasse Buffalora-Magenta schmal sich schneidet. Jetzt kneift die Zange zu.
Was weiss der Feldherr? Diese satte Erde verschluckt das Kriegsvolk nach dreihundert Metern, und Mac Mahon ist schon lange verschluckt, er ist irgendwo im zerschnittenen und zerschneidenden Paradies, man hält ihn nur mit dem Uhrzeiger, und das ist vielleicht vermessen. Von den beiden Divisionsbatterien stolpern jetzt zwei Geschütze den Stürmern nach, nur zwei Geschütze, was tut man auf den schmalen Dämmen zwischen den Berieselungen und dem Kulturen-Geheck mit den vorzüglichen Rohren? Der Feldherr müsste bis Buffalora sehen können; aber er sieht nur dreihundert Meter weit. Er reitet im Schritt der Chausseebrücke zu.
»Warten Sie noch, Sire«, sagt der Generalstabschef, dessen sehenswerter Bauch in den Tuilerien gehört und sich hier auch nicht am Platz fühlt.
»Es ist zwei Uhr fünfundvierzig«, sagt das Käppi mit der Uhr.
»Das ist nicht Grund genug«, sagt der Bauch, und er hat recht.
Plötzlich, mit immer stärkerem Gewehrfeuer, speit drüben das Gehölz die Gardespitze wieder aus, und nicht der Sturm ist gebrochen, sondern seine Richtung, das ist das Schlimme, es stürmt von Ost nach West, es stürmt genau den gleichen Weg zurück, und dem steinernen Schwung der Brücke ist das umgekehrte Kriegsglück ganz gleichgültig, sie verbindet Ost und West und trägt träge das Hin und Her, das furchtbar ist, und die armen Puppen beider Farben fliegen über die Brüstung, Rothosen, Weissröcke, und der Feldherr denkt Technisches, weil die Uhr weiter tickt und nicht zurückläuft wie der Sturm oder das Glück, weil die Uhr mit dem Schlag des Herzens immer eiliger und schädlicher durch wohldisponierte Stunden läuft, durch die sorgliche Mathematik des Kriegsplans, durch den gutberechneten Sieg, und weil sie doch ganz allein sind, Uhr und Herz, entsetzlich einsam im Ablauf und Leerlauf; denn Mac Mahon ist verschluckt, und die Zeit, den Zeigern entwunden, gehört dem Feind ganz allein, da steht nun die eine Division, die brave, pünktliche, halbe Zange, gegen zwei Korps, gegen drei Korps, fünftausend Grenadiere im Joch der Brücken gegen zweiundzwanzigtausend Österreicher, flussaufwärts geworfen von Binasco und Bereguardo, in die Flanke geworfen von Robecco her, Leute mit vorzüglichen Lorenzgewehren, gezogenen Gewehren, Gottseidank mit starrer Stosstaktik, der das Gelände noch feindseliger ist als der gelenkigen und gelösten Fechtweise der französischen Infanterie, – was nützen jetzt meine gezogenen Geschütze, die nicht einmal abprotzen können: und plötzlich dann, unbemerkt auf dem Eisenbahndamm drüben, bringt der Feind zwei Geschütze heran, zwei lächerlich veraltete glatte Rohre, bringt sie am Brückeneingang in Stellung, die Gardespitze, eingekeilt zwischen den Steingeländern, sieht sie, und der Feldherr sieht sie, das Herz bleibt stehen, und die Uhr müsste stehen bleiben, der Kartätschenschuss zerschmettert den Menschenkeil mitsamt der Steinrampe, es ist nichts mehr da als dicker Dampf. Wie viel Herzen sind jetzt stehen geblieben?
»Er raucht nicht mehr«, sagt der Bauch zum schimmernden Generaladjutanten.
Nein, der mit dem Käppi raucht nicht mehr, man weiss, was es bedeutet. Er vergisst zu rauchen, wenn man ihm den Prozess macht, den geistigen, wie es der Lehrer Le Bas getan hat, oder den wehmütterlichen, während der fünfzehn schweren Stunden Eugenies. Aber es ist doch nicht so, dass er nicht mehr rauchen kann, weil ihm die Tränen im Hals sitzen oder weil ihn die Angst würgt oder die Erkenntnis der Niederlage; denn bisher war er doch Prozesssieger, wie es auch sei. Nein, er vergisst zu rauchen, das ist alles, das ist vielleicht sogar das Merkmal seiner Widerstandskraft oder seiner Widerspenstigkeit. Angst ist es gewiss nicht oder Angst ist nur ein Teilchen der Gedankenwoge – Angst um Mac Mahon – und Verzweiflung ist es auch nicht; denn hinter ihm, zwischen Tessin und Novara, stehen Korps I, III und IV und dann noch zwei piemontesische Divisionen als Reserve, er ist ein Feldherr der Reserve, vielleicht zu viel Reserve, und die prachtvollen Grenadiere – auch sie haben Gottseidank gezogene Gewehre, neue gute Miniémodelle, aber die Linie hat sie noch nicht – halten ja stand, nur die Brücken sind verloren, und Brigade Picard ist nachgerückt, das sind fünftausend Mann mehr, doch er muss sie teilen, weil jetzt der österreichische Flankenstoss einsetzt, der Kampf wogt auf dem schmalen Damm der Flussniederung zwischen kanalumglitzerten Reisfeldern und sumpfigen Wiesen hin und her – Angst ist es nicht bei dem gelben Mann, der nicht mehr raucht; denn er sitzt auf dem gleichgültigen Pferd und hätte alles Recht, zurückzureiten und bei den bedenklich nahen Peitschenhieben der Flankenschüsse aufzuzucken: doch er bleibt in der Mulde stehen, ein braver Käppimann.
»Es ist vier Uhr«, sagt er tonlos. Er kommt von der Uhr nicht los. Was ist mit Mac Mahon? Das ist der beste Offizier der Armee, prachtvolle Erscheinung, Krimheld vom Malakoffturm und Soldatenvater, ein sehr vorsichtiger General, aus Liebe zu seinen Soldaten, ach Gott, vielleicht sind es die Vorsicht und das schwere Gelände, dass er sich verspätet, vielleicht aber ist er schon vernichtet, – was weiss der Feldherr mit den armen Menschenaugen? Ja, und der Staatsstreichkaiser weiss, dass Mac Mahon, der Legitimist, damals nicht dabei war, – ja, und der Kaiser der Allgemeinen Sicherheit weiss, dass Mac Mahon, der Senator, als Einziger dagegen stimmte, – – was sind das für böse und unsachliche Gedanken? Und ist Mac Mahons linker Gruppenführer, bestimmt nach Magenta für drei Uhr dreissig, nicht Espinasse, mein Mann, mein Degen, mein Staatsstreichoberst, mein Innenminister der Allgemeinen Sicherheit, mein Paladin selbst noch im Blauen Salon?
»Sire«, sagt der Bauch, »ich beschwöre Sie, reiten Sie aus dem Schussfeld.«
»Es ist fünf Uhr«, sagt das Käppi leise, »was ist mit Mac Mahon?«
Er reitet zweihundert Meter zurück.
Er vergisst das Rauchen und die persönliche Gefahr, so anspruchsvoll und gefährlich ist der Angriff der Gedanken. Aber früher, in seiner abenteuerlichen Vergangenheit, vergass er über alledem nicht seinen Stern, nicht einmal zu Boulogne vergass er ihn, als er ins Wasser fiel mit ihm, nicht untergehen konnte und herumschwamm, nicht zu treffende Zielscheibe für die Schützen des sternblinden Julikönigtums. Der Stern über dir ist vielleicht das Zeichen der Jugend, das Reich ist jung, sehr jung, vielleicht hat es den Stern, Österreich ist sehr alt, vielleicht hat es keinen Stern mehr, sondern nur noch seinen jungen Kaiser im furchtbar starken Festungsviereck am anderen Ende der grossen, feindseligen Friedensebene, und ausser der schmalen Kaiserklammer hat es nichts als die Angst vor der Idee, die aus dem Westen kommt, vor der auflösenden Idee mit dem brennendroten Käppi, vor seiner ungeheuren Idee, die nicht einmal seine Generäle begriffen und nicht die Granden und Bankiers seiner Glücksstadt, sondern nur das Volk der Faubourgs und der Jubelchor in den taumelnden Strassen von Genua und natürlich der Dämon von Turin. Aber dieser Cavour, der ihm und dem Feldzug im Nacken sitzt, glaubt ihm die Idee nicht, sondern nur die Politik, ach, und dies ist das Schlimmste: er selber, der mit dem Käppi, hat Zweifel an sich mit der Idee, er ist schon zu alt oder zu müde für das Zeichen der Jugend. Er denkt nicht mehr an den Stern, er denkt an die Uhr.
Es ist fünf Uhr vorbei. Es ist ein Wunder, dass sich die Grenadiere noch immer halten, mit letzten Kräften zwar, aber zäh auf dem schmalen und immer schmäleren Damm des Lebens zwischen den Vernichtungsgrenzen des Kanals und des Flusses. Es ist nicht allein die ungelenke und vom Gelände verklammerte Infanterietaktik des Gegners, die die dreifache Übermacht nicht über das Remis hinausbringt; es mag auch die Idee dieses Krieges sein, die sich drüben an die ungarischen, tschechischen, serbischen und rumänischen Beine hängt wie die Fussangel der Bodenkulturen, die indessen doch kein Nationalitätenprinzip, sondern nur den verhassten Kriegsstiefel kennen. Der mit dem Käppi denkt auch daran; denn die Idee, das weiss er schon lange, ist wichtiger noch, wirksamer und weittragender als seine gezogenen Kanonen und sie wenigstens ist schon abgeschossen, und die in Wien lauern sehr ängstlich auf den Einschlag in Pest und Prag und Krakau und Agram und Venedig, das weiss er, und in Mailand hat sie schon eingeschlagen, Mailand wartet …
Und dann, gegen halb sechs, geschieht das Unbegreifliche: der Feind löst sich ab, er geht zurück, er räumt die Brücken und die Zollhäuschen, drüben die Erlen und die Weiden und die Pappeln verschlucken ihn. Ist es ein Strategem oder eine Umgruppierung oder ist es der Rückschlag der Idee oder der verschluckte Mac Mahon? Der Feldherr weiss es nicht. Es ist vielleicht nur sein vergessener Stern. Die furchtbar müde und mitgenommene Garde hockt auf dem Kampfdamm. Der mit dem Käppi hockt auf dem Pferd, müde und mitgenommen. Vielleicht kommt doch noch ein Flankenangriff von Robecco? Man muss warten, bis die Sonne sinkt. Es ist endlos Tag. Eine halbe Zange kann nicht zukneifen. Major Schmitz ist schon lange fort. Oberst Toulongeon wird fortgeschickt. Was ist mit Mac Mahon? Vielleicht, vielleicht … Der Krieg ist eine entsetzlich undeutliche Sache. Die Sonne tief im Rücken färbt die bösen Wassergräben ringsum rot, und kurz bevor sie versinkt, ist es, als blute die gute Erde aus ihren vielen Schnitten. Der Krieg ist eine entsetzlich deutliche Sache. Aber wer ist hier der Sieger? Das Käppi reitet im fallenden Dunkel nach San Martino zurück. Er sieht nicht, scheint es, rechts und links vom Kampfdamm in die Mulden, wo die Toten liegen, vom Schattentuch zugedeckt.
Er muss ja auch die Nacht durchwandern, hin und her im kahlen Raum, seine Müdigkeit ist nicht Schlafbedürfnis. Über die Tessinbrücke rauscht der West-Oststrom des Kriegsvolkes, die ungewisse Waage des Tages wird reguliert, auf jeden Fall, die Toten werden ersetzt, zahlenmässig. Geht es allein nach der Uhr-Rechnung, so können morgen ganz unbesorgt noch viel mehr sterben, noch viel mehr. Er nimmt selbst das Käppi nicht ab, er vergisst es, es ist bequem und leicht und erinnert nicht an sich. Das Brückenirrlicht gibt nicht allein Sicherheit, der Augur zwinkert auch kritisch. Zuviel Reserve, zuviel Truppen auf dem rechten Ufer, das sagte General Niel, sein militärischer Vertrauensmann schon im Krimkrieg, seit Tagen, zu viel Vorsicht: der Feind steht schon ungeteilt auf dem linken Ufer. Ist das der Fehler gewesen? Dann war es keine Zange, dann war es nur eine Pincette, und damit siegt man nicht, wie man sieht.
Die Kritik weht vorbei, die Müdigkeit sitzt noch tiefer. Er sieht auf die beiden Kerzen in den Strohflaschen. Sie flackern nicht, wenn er vorbeigeht. Sie bewegen sich nur, wenn es draussen der rauschende Atem der Juninacht will. Er aber macht keinen Wind. Das kommt von der tiefen Müdigkeit. Als er jung war, besass er Geduld, einen solchen Reichtum an Geduld, dass er sie verschwenden konnte und dennoch nicht verausgabte und immer noch genug hatte, um den hohen Preis für das Glück zu zahlen. Jetzt ist er alt, viel älter als die einundfünfzig Jahre, die er zählt, und hat das Glück bezahlt; denn er ist nicht mehr geduldig, sondern müde. Es geht nicht an, von einem Reichtum an Müdigkeit zu sprechen. Aber er fühlt eine solche Macht der Müdigkeit in sich, der schlaflose Gänger, dass der Rest des Lebens unter ihrem Joch sein wird. Vielleicht beginnt heute nacht das letzte Viertel.
Was ist das für ein Feldherr?
Der Kaiser hat einen unruhigen Kopf, die Müdigkeit steht wohl erst bis zum Herzen. Zwischen Kopf und Herz herrschte selten Eintracht, der Kopf dachte oft böse Gedanken, und das Herz blieb immer halbwegs gut, das erkannte schon der Lehrer Le Bas, der Kopf dachte schon an den Tod des Bruders, als er noch nicht tot war, und das Herz liebte ihn doch halbwegs, der Kopf dachte schon an den Tod des Reichstadt, als er noch hustete, und das Herz hatte doch Mitleid mit ihm. Und dieser Kopf hat die ungeheure Idee, die diesen Krieg gemacht hat, einen Anfang nur, und das Herz ist doch schon müde. Die Idee ist zu jung, zu kühn und zu gefährlich für dieses Leben: das ist das Unglück.
Dies ist ja die Idee, die keiner kennt: das Bündnis mit der internationalen Revolution, genauer gesagt: der Bund mit dem revolutionären Gedanken in der Welt, mit der potentiellen Revolution. Denn es gibt ja keinen Umsturz mehr, seitdem er das Jahr Achtundvierzig verschüttet und mit Diktatur und Spitzhacke die Rebellion zerschlagen hat. Man hat es überall in der Welt ähnlich gemacht: aber nicht unter der Devise des neuen Glücks, sondern des alten Glücks. Hier ist der Unterschied, hier steckt die Gefahr, die er in den Winkeln und Hintergründen des Dezenniums wachsen sah, – vielleicht nur er; denn seine Augen sahen durch das Gewölk hindurch, auch durch den Weihrauch. Sein Reich war jung und revolutionär für das alte Europa, für das Alte in Europa, er blieb suspekt, da half kein spanisches Zeremoniell und nicht mehr die römische Dankbarkeit, die das ihre getan hatte. Er sah aus dem Dezennium den Wall des alten Glücks aufsteigen, und die Klammer der alten Gewalten legte sich in ungeheurem Bogen um ihn: vom konservativen England über Preussen-Deutschland nach Österreich, das bis Rom und Neapel wirkte. Und dahinter, unendlich in den Osten hinein, ruht das alte Russland, mühselig besiegt am äussersten Rande und mühselig in Freundschaft gehalten. Ist das nicht wieder die grosse Koalition, die den Kriegsgott erschlug und das Imperium der Grossen Revolution? Kommt nicht mit quälender Gewissheit des Säkulums zweite Auseinandersetzung zwischen Alt und Neu, Beharrung und Bewegung, Erhaltung und Wandlung? Was tut dagegen der unruhige Kopf, der den berühmten, kleinen Hut, den unpassenden, schon lange abgelegt und den Gorgonenschild des ewigen Angriffs niemals aufgenommen hat? Er will die Mächte des alten Glücks von innen heraus revolutionieren oder doch ihre politische Opposition fördern, und sieh, jede Macht hat ihren rebellischen Schmerz: England hat Indien, Preussen hat die süddeutschen Demokraten, Russland hat Polen, und die alte Monarchie, die jenseits des Tessin beginnt, besteht aus potentiellen Revolutionen, mit Not und Mühe von den drei Ringen des uralten Glücks verklammert, von der Krone, von der Armee und von der Beamtenschaft. Hier ist die morsche Stelle des Walls, und hier blutet schon der alte Reichskörper aus unheilbaren Wunden. Der unruhige Kopf des Nationalitätenprinzips will also Italien befreien und setzt sich das Käppi auf, und das ist der Anfang von der Verwirklichung der Idee.
Wer ausser ihm kennt sie und erkennt sie, die Nachfahrin von Neunundachtzig und Achtundvierzig? Was würde der Lehrer Le Bas sagen, kennte er sie, die doch ein wenig auch von ihm stammt? Würde er den geistigen Prozess revidieren oder doch, der liebe Puritaner, das strenge Urteil auf Tod der Freundschaft? Das Käppi lächelte ein wenig und sah durch das Fenster über den Kriegstanz der Irrlichter hinweg bis in den Augenfrieden des geschiedenen Freundes. Er hatte einmal noch in die Augen sehen können, in das reine Herz des Lehrers, des guten Unerbittlichen, der sich dem Kaiser fern hielt, dem Wohltäter über den Wolken, – das erste Mal nach der kleinen Abendstunde vor dem Staatsstreich; und der beziehungsreiche Zufall wollte es, dass es am Neujahrstag dieses Kriegsjahres war, an jenem berühmten Empfang, an dem der Kaiser dem österreichischen Botschafter die schon historische Abfuhr erteilte. Da erschien Le Bas im Frack, aber als einziger weit und breit ganz ohne Orden, nicht als Freund und als Lehrer, sondern als Präsident des Instituts, im Amt also, aus unausweichlicher Verpflichtung, um der Krone die Delegationen der fünf Akademien vorzustellen. Er tat es dienstlich und kalt, sein altes Gesicht war wie zugefroren, eine Eisschicht über der Erinnerung, ach, über der Liebe; aber seine reinen Augen senkten sich zu Boden, nach dem ersten guten Blick der Krone, aus Angst wohl vor der Erinnerung und vor der Liebe. Der Kaiser quälte ihn mit keinem überflüssigen Wort und entliess ihn, so bald es ging. Aber er lächelte die ganze Zeit; denn er dachte an die Idee, die mit dem neuen Jahr zu leben begann. Wie lange wird sie leben? Professor Le Bas, Präsident des Instituts, lebte nur noch ein Jahr. Es ist gut, dass der Mensch nicht in die Zukunft sieht. Es ist schon schwer genug für den Kaiser, dass er hinter die Wolken zu sehen verurteilt ist und in die eigene Müdigkeit. Und der Feldherr weiss noch immer nicht, was es mit diesem Kampftag ist und mit dem Kriegsglück und was mit Mac Mahon.
Er hat es schwer genug auch mit der Idee, die er ganz für sich behält, aus seinem Hang für Geheimnis und Verschwörung, aus seinem Dunkelbund mit der einen und ungeteilten Verantwortung, aus seiner schlechten Meinung von den Menschen, dem tiefsten wohl von den drei Gründen. Er ist die Sphinx, der Rätselkaiser, die Krone der Undeutlichkeit, er nimmt es mit der schlechten Meinung auf, die man auch von ihm hat. Denn wer um ihn herum hat das Mass für die Idee?
Eugenie und die Menschen ihres Salons und hinter ihnen der mächtige, wichtige und verdiente Klerus denken an Rom, das zürnt, und Eugenie denkt vielleicht doch auch an die Regentschaft, und die Freunde denken an das Imperium, und alle warnen, alle drohen mit der heraufbeschworenen Gefahr, Persigny schreibt aus London Briefe von prophetischer Grobheit, grossartige Epistel doch, man wird ihn einmal wieder ins Land nehmen, Walewski wirft ihm das Portefeuille vor die Füsse und hebt es gleich wieder auf, nach den billigsten Worten der Beruhigung, und Morny, und Morny? Sieht er nichts mehr, riecht er nichts mehr vor Sattheit und vor Angst um das Börsenglück? Gehört auch er zu jenen, die um die Antwort zetern, um die grosse Antwort, und sie sich nicht selber geben können und sie vielleicht nicht einmal hörten, als die Bastille-Stürmer sie gaben? O wenn sie nicht wäre, diese wunderbare Antwort, vor der er das Käppi zog!
Aber vorher, wie schwer war es vorher! Der unruhige Kopf dachte nicht weniger als die Warner und Droher an Rom und ans Reich und er sah nicht schlechter als sie die furchtbare Sperre von London bis Neapel und er tastete sie ab und streichelte sie und drückte sie ganz leise ein und er log und fingierte und manövrierte, er ganz allein, und zuweilen auch sank der Mut oder wuchs die Müdigkeit und dann belog er auch die Idee, dann wollte er den Frieden. Aber wer ausser ihm wusste, ob es Wahrheit war oder Lüge, Mut oder Müdigkeit? Alle wollten ihn stellen und festnageln, die Klerikalen, die Nationalen, die englische Diplomatie. Und als er bei jedem tat, als stünde er festgenagelt, da kam der Gegenstoss der beiden Dämonen. Der kleinere kündigte den grösseren an, der kleinere ist Plonplon.
Der mit dem Käppi bleibt stehen, der kahle Raum, von dem klickenden Tritt über den Ziegelboden befreit, lässt den Nachtmarsch ungestört durch das Fenster, Trainwagengepolter. Der Feldherr will sich über die Stirn streichen, stösst an den Schirmrand und fingert begütigend durch die Luft. – Keine Angst vor der Vorsicht, heute ist vielleicht nur die Einleitung, Pincette in der Weltgeschichte, morgen wird es angehen, morgen wird die Entscheidung sein. Sind achtzehn Brigaden genug dafür, sind drüben nicht mindestens zweiundzwanzig? Was weiss man, was weiss man? – Anordnung für den 5. Juni: Schiffbrücke von Turbigo abbrechen, bei San Martino oberhalb der Eisenbahnbrücke aufbauen. Warum? Dann habe ich zwei Rückzugslinien über den Tessin – ja, man muss daran denken –, zwei nicht einmal einwandfreie; denn sie liegen möglicherweise in der rechten Flanke. Die Konsequenz: auf dem rechten Ufer muss starke Reserve bleiben, Niel mag toben, er hat nicht die Verantwortung. – Mac Mahon, was ist mit … Das Käppi wandert wieder, im Takt des Namens.
Plonplon, der kleinere Dämon. Es ist absonderlich und bedenklich genug, dass dieser plötzlich wichtige und aktivierte Gipsabguss des grossen Gesichts, dieser Lebenswüterich, der das ihm angetraute, unschöne, fromme und würdensteife Kind von Piemont schon am Hochzeitstag abscheulich behandelte, der einzig nützliche und tätige ist, vom Standpunkt der Idee. Er war der rote Prinz von je, jakobinischer Bonaparte aus Hass gegen den Prätendentenvetter, der Bengel der Opposition, – nun, und jetzt nahm man ihn ins Spiel und benützte sowohl sein revolutionäres Ressentiment als auch seinen dynastischen Ehrgeiz. Es kamen zu ihm ins Palais Royal nämlich nicht nur Kokotten und Bohemiens, sondern auch die internationalen Revolutionäre, die politischen Agenten Cavours und die Wegbereiter der ungarischen, polnischen und balkanischen Selbständigkeit, und es kam zu ihm der Sozialrevolutionär Proudhon, wenn er nicht im Gefängnis sass, und sie alle assen gut bei ihm und spannen bei ihm kreuz und quer über Europa die Fäden der möglichen Revolutionen, und sie alle waren dem finsteren Präfekten Pietri bekannt und durch ihn dem unruhigen Kopf, der in der rechten Hand den Zügel der nationalen Diktatur hielt und in die linke den Zügel der internationalen Unruhe bekommen wollte. So bekam er durch Plonplon den Mechanismus der komplizierten Höllenmaschine in die Hand, die die politische Unterwelt Europas zusammengesetzt hatte, und Plonplon war plötzlich wichtig und tätig, auf seine vertrackte Weise grossartig und unheimlich und vielleicht von bestimmender Bedeutung für die neue Gestalt des Kontinents, sofern die Idee der europäischen Höllenmaschine das alte Glück zu sprengen die Kraft hatte, die Kraft und das Glück. Aber er war auch wild und grob und überaus misstrauisch gegen den unruhigen Kopf, er begriff wohl auch nichts von seinen Praktiken gegen die gemeinsame Front der europäischen Reaktion, von seiner aufreibenden Anstrengung um die Isolierung Österreichs, ohne die der Krieg nicht gewagt werden konnte: der rote Prinz sah nur die Angst und die Schwäche des gelben Kaisers und schliesslich seinen offenbaren Umfall: er stürmte nach jener tückischen Eröffnung im »Moniteur« aus dem Kabinett, dem er formal als Minister für Algerien, in Wirklichkeit aber als Propagandist der europäischen Revolutionierung angehörte, und nach dem Plan mit dem europäischen Kongress, dem letzten Schachzug gegen die austrophilen Tories, der zwar Piemont als Kleinstaat ausschloss, aber die Donaumonarchie noch vor der Kriegserklärung oder sogar ohne sie mattgesetzt hätte, stürzte er in das Arbeitszimmer des Kaisers und brüllte gewaltig: von Piemont, das jetzt seinen eigenen Krieg, vom unterirdischen Europa, das jetzt seine eigene Revolution machen würde, ohne den wortbrüchigen Protektor. Der sass in seinem tiefen Sessel und war sehr müde – er wusste alles dies nicht schlechter oder viel besser, er wusste ja auch, dass Österreich den Kongress niemals zulassen und vorher losschlagen würde, noch vor den englischen Wahlen, und dass dies der Sinn des Schachzuges war –: aber er war sehr müde, und da der rote Prinz aussah wie ein brutaler, aufgeschwollener, grosser N und plötzlich an ein anderes, ganz vergessenes und höchst widerwärtiges Kaisergesicht gemahnte, an den Zuhälter und präsumtiven Tyrannenmörder Leon, der immer noch lebte, wenn auch in der gehaltenen Loyalität eines Pensionärs der Zivilliste, hatte der gelbe Kaiser Angst und murmelte nur »ja, ja«, wie einst als Kind. Und dann kündigte Plonplon den grossen Dämon an.
Juninächte sind kurz, man sollte meinen, es sei ein kleiner Gang von Dämmer zu Dämmer. Aber klopfst du mit den Schritten die Nacht ab und schlägt die Sohle jede Sekunde an, auf klickendem Ziegel, dann scheint die Nacht so lang wie im Dezember. Aber willst du denn, dass sie vorbei sei? Sehnst du dich denn nach dem Tag, der wieder Blut säuft und nur so, so schwer und dick und zwischen Leichengirlanden in die Geschichte torkelt, entsetzlich zufällig ins grosse Ja oder ins grosse Nein? Miniégewehre gegen Lorenzgewehre, gezogen sind beide, das Material ist für das Unentschieden, aber wie hält man es aus, das Laue, das doch auch blutig ist und niederträchtig dazu und das man ausspeien möchte wie diesen üblen Tag ohne Ja und Nein, – und Bourbakis Linie, schon über die Brücke geströmt und ins neue Dämmer tastend, hat noch alte Gewehre, glatte Läufe, und die gezogenen Geschütze, in den Osten polternd, werden auch morgen nicht wissen, wohin mit sich im zerschnittenen und verwässerten Gelände: das Material entscheidet nicht, der Plan kann zugleich richtig und falsch sein wie die Uhr dieses Tages, es kommt auf das Glück an, und das ist nicht zu fassen. Der Feldherr weiss nicht, wie es mit dem Kriegsglück steht, er weiss nicht einmal, wie weit es mit der Nacht steht, als Oberst Toulongeon eintritt. Der mit dem Käppi bleibt stehen und drückt die Augen zu und merkt jetzt erst, dass die Lider brennen und ganz dick sind vor Müdigkeit. Das Herz klopft, und die Angst saust in den Ohren, der Fluss rauscht in den Ohren, und der Westostmarsch über die Brücke geht durch die Ohren, die Nacht ist plötzlich laut wie noch nie, und dahinter hält sich mühselig und dünn die Meldung von Mac Mahon, von Mac Mahon in Magenta, von Mac Mahon nach der Erstürmung von Magenta.
Der Ortsname dringt durch, mühselig, fein und mit falschem Klang: denn der Oberst spricht ihn französisch aus. Ist das ein Siegesname, der so dünn und spät durch die Nacht sickert?
»Eine Blutarbeit«, sagt der Oberst und stöhnt.
Oh, das Blut sickert nicht, das vergossene Blut strömt durch das zerschnittene Gelände, vom Tag in die Nacht, von der Nacht in den neuen Tag; denn man hat noch nicht gewonnen, weiss der Feldherr, der Widerstand war gross, die Verluste waren gross, der Feind hat sich zurückgezogen, scheinbar nicht zermürbt: Magenta ist noch keine Entscheidung. Man hat nicht verloren, gewiss nicht; aber man hat sich geirrt, der Flankenmarsch war verfehlt, die Umgehung misslungen, der Feind nur zurückgeschlagen, die Zange, ganz verbogene Zange, hat nicht zugekniffen.
»Espinasse ist gefallen«, sagt der Oberst und stöhnt.
Der Feldherr nimmt das Käppi ab, so als drücke es mit einemmal oder als wolle er den Toten ehren. Jetzt merkt er, dass in den Reitstiefeln die Füsse brennen und ganz dick sind vor Müdigkeit. Er schiebt den Schemel unter dem Tisch hervor und setzt sich, das rote und goldene Käppi legt er zwischen die Strohflaschen mit den Kerzen, dann wehen die Kerzen einen Augenblick im Zugwind, weil der Oberst abtritt, der laue Kriegsglücksbote. Der Feldherr stützt den Kopf auf die Hände und starrt das Käppi an. Heute nachmittag zwischen sechs und sieben hat ein Tiroler Kaiser Jäger von seinem Jägersitz in einem der umkämpften Häuschen von Magenta ein ganz ähnliches Käppi erblickt, ein goldbordiertes Generalskäppi, und es aufs Korn genommen und abgeschossen. Der Vorgang ist einfach und gehört ganz und gar zur Handlung des Krieges. Wer es nicht einsieht, ist kein Soldat. Das allgemeine Käppi liegt auf der Platte ein wenig wie auf dem halben Nichts im Graben von Montebello, eine potentielle Leichenhaube sozusagen. Der Feldherr bedeckt die Augen mit der Hand, selbst die armseligen Kerzenflämmchen tun weh. Wer ersetzt ihm den General Espinasse mit den Wangengruben und seine fluchfreudige Bereitschaft, die harte Hand des Glücksreichs zu zeigen: dies ersetzt ihn: der Name, der ihn getötet hat, der neue Name Magenta, der spät und fragwürdig und mit falscher Aussprache eingesickerte?
Der Feldherr sitzt auf dem Hocker, der Kopf ist sehr schwer, und ihm ist, als sei er auch sehr gross, als wüchse er. Zum ersten Mal in diesem Krieg vermisst er einen seiner tiefen, weichen Sessel; denn es ist die Sekunde der austretenden, der ausströmenden Müdigkeit. Er kennt den Zustand gut, er ist nicht an die Nachtzeit gebunden, er hat nicht einmal mit dem Schlaf zu tun. Es ist, als ob sich im Körper Röhren öffnen, feinhäutige Schläuche voll der durchspürbaren, aber doch gehaltenen und umschlossenen Müdigkeit, und sie in die Blutbahn giessen. Es ist ein sanftes und seltsames Gefühl, man fühlt die Schwächung im Blut, nicht im Hirn, ja, man fühlt nur noch den Kopf, den schweren Kopf, kaum noch den leise rauschenden und berauschten Körper. Es ist bisher ein ziemlich seltenes Gefühl gewesen; aber dies nun weiss man ja: es wird häufiger werden, immer häufiger. Man muss im Sessel sitzen, wenn die Auflösung durch den Körper spielt, schon um den übertriebenen Kopf zu stützen. Jetzt hing er auf der Brust. Was ist das für ein Feldherr?
So sass er ja im Sessel, so in der grossen Schwächung, als Ende März der Angekündigte in das Arbeitskabinett trat, der Quälgeist seiner nationalen Revolution, die doch nur das Präludium der Idee war, und er erschien nicht als ein Signor Benso, sondern als Camillo Cavour. Es war nicht, wie der Besucher nach dem ersten Blick meinte: die Müdigkeit brach nicht aus wie Angstschweiss, aus Angst vor dieser Szene, – sie war schon da, es war ein schlechter Tag gewesen, eine Bosheit des Körpers, gerade jetzt zu desertieren und den Anschein der Verlassenheit, der Gottverlassenheit zu erwecken. Als sie sich das letzte Mal sahen, in Plombières – der Sommer spielte auf der Pansflöte zum Unterweltspakt auf, der Hirt Aristeus ist ja auch der Dunkelgott Pluto –, war der Kaiser in so trefflicher Verfassung des Körpers und des Geistes, dass sogar der Athlet Cavour Mühe hatte, es ihm gleich zu tun im Heben der Staatsgewichte. Jetzt sah der Kaiser aus, als sei er umgefallen, ein Bündel Nerven, ein Bündel schlechten Gewissens, ein Haufen Angst: der Athlet mit der Brille machte kurzen Prozess; der Ringkampf, auf den er sich vorbereitet hatte, war nicht mehr nötig, es genügten ein paar Schläge, er sah es. Was bedeutet der Wortbruch und die faule Ausrede des Vertragskommentars im »Moniteur« vom 5. März? Was anders als schlimme Vergesslichkeit und folgenschwere Gewissenlosigkeit bedeutet jener Kongressplan, der den Hauptbeteiligten und Alliierten von der Debatte ausschliessen, ja, militärisch schwächen und unter Kontrolle stellen will und das Schicksal einer jungen und nicht mehr aufzuhaltenden Nation zum Schachergeschäft fremder Kabinette macht?
Der mit der Brille sass nicht mehr auf seinem Stühlchen unter der steinernen Mutter Hortense, sondern war aufgestanden und bis zum Schreibtisch vorgegangen. Der im Sessel bekam nicht die Augen auf und fingerte begütigend zu ihm hin. Er wusste ja, was dies alles bedeutete; aber es war nicht auseinanderzusetzen, nicht zu entwirren, die Idee war so verfilzt in Vorsicht, Rücksicht, Kühnheit, List, Verstellung und Zweifel, ach, und auch in Angst, dass sie jetzt nicht zu erklären ist, jetzt noch nicht und nicht diesem stiernackigen Realisten, der ihn doch weder verstehen noch verschonen wird. Es war ein schlechter Tag nach einer schlechten Nacht, und die Nacht war schlecht, weil ihm auf der Brust eine neue Last hockte, eine nicht abzuhebende. England im Wahlkampf war bestimmbar und Österreich mit den revolutionären Blössen verwundbar; aber das Land des Schicksals jenseits des Rheins, in mächtige Aufregung geraten, nimmt ihm vielleicht den revolutionären Sinn des Nationalitätenprinzips ab, stülpt ihn um und vereinigt ihn mit dem alten Glück, dem preussischen. Was dann, Cavour, was dann? Dir ist es gleichgültig, wenn du in Rom sitzst, dir ist die deutsche Einheit, die der italienischen folgen kann, vielleicht nicht einmal unlieb: aber mir, so war es in der Nacht, drückt sie die Brust ein und das Herz ab …
Cavour lehnte am Schreibtisch, seine kräftige Hand war zur Faust geballt; aber er schlug nicht mit der Faust auf den Tisch, er berührte ihn mit der Faust ganz sachte, im Takt der garnicht lauten Worte. Achtung, Sire, da ist nicht auf der einen Seite ein grossmächtiger Kaiser und auf der anderen ein Duodez-Minister, die Waage wird ganz anders wiegen nach dem Umfall, der kleine Minister wird abdanken und ausser Landes gehen, als Künder nicht nur der verratenen Nation, sondern auch des internationalen Verrates, der Propagandist Cavour wird das Europa der Maulkörbe verlassen und in die Vereinigten Staaten gehen und dort wird er, in allen Weltsprachen, der Publizist der Verschwörung von Plombières sein. Er drückt die Faust lautlos auf den Tisch, er drückt auf die Waage, auf den Waagschalen liegen nicht mehr die Grossmacht und der Kleinstaat, Sire, sondern Krieg oder Weltverachtung, Krieg oder Weltgelächter.
»Nicht nötig«, sagte der im Sessel leise und fingerte begütigend. Wenn der Körper überschwemmt ist von der Müdigkeit bis über den Hals, bis in den Mund, dann ist es schon viel gesprochen.
Der Schreibtisch steht wenige Schritte vom Sessel entfernt, es war nicht anzunehmen und gegen das Ziemliche, dass ihm Cavour noch näher rückte. Er machte dennoch eine Bewegung zu ihm hin, als fehlte jetzt noch ein so heimliches Wort, dass es nur ins Ohr geflüstert werden könnte. Der Kaiser blies den Rauch vom Gesicht fort, er fächelte ihn sogar mit der Hand fort, wohl damit man erkennen könne, dass man nahe genug sei. Der mit der Brille blieb auch, wo er war, und tat so, als habe er nur das Standbein gewechselt, er löste sogar die Faust und zeigte sonderbarerweise mit flüchtigem und beinahe schüchternem Finger auf die Wandkarte vom neuen Paris. Und dann sagte er langsam und drohend ein Zitat: »Vergessen Sie nie, Majestät: solange Italien nicht frei ist, wird die Ruhe Eurer Majestät nur eine Schimäre sein.« (Im grünberieselten und sonnengoldpunktierten Zimmer von Plombières hatte er das Gespenst des geköpften Mörders gespürt, hier scheinbar nicht, hier musste er es zitieren.) Er machte wieder die Faust und drückte sie auf den Tisch, auf die Waage: auf der einen Schale war der Krieg, auf der anderen die Gefahr des kaiserlichen Lebens.
Der im Sessel brach doch nicht zusammen, er lächelte sogar ein wenig; denn er kannte das Zitat so gut wie der andere oder besser noch, und der andere hatte unvollkommen zitiert; denn nicht allein die kaiserliche Ruhe war eine Schimäre, sondern auch die Ruhe Europas: und darauf füglich verzichtete der Dämon. »Nicht nötig«, flüsterte er wieder; aber es war doch nötig, wusste er, es war gut für die Idee, dass endlich mit groben Gewichten gewogen wurde, es war gut für den Wahllosen, dass man ihn endlich vor die richtige Wahl stellte. Aber wird er das grosse und jugendliche Unternehmen mit diesem geheimnisvoll verfliessenden Körper wagen können? »Ich fühle mich leider nicht wohl, lieber Graf«, flüsterte er zum Schluss. Das war die Wahrheit; denn die Sonde des Schmerzes suchte jetzt durch den Leib, er stöhnte mit gespreizten Fingern.
Der Feldherr hebt den schweren Kopf und starrt auf das Käppi. Espinasse also ist tot, Division Vinoy meldet fünfzig Prozent Verluste bei ihren zwei Bataillonen, die Mac Mahons Sturm auf die Kirche von Magenta mitgemacht haben. Es war eine Blutarbeit, hat Oberst Toulongeon gesagt. Zur Blutarbeit gehört der Sturm auf das Haus Gottes so gut wie der Kampf mit der gottesgesegneten Erde, und das allgemeine Käppi, rot wie das Blut, auf dem es schwimmt, bewahrt nicht einmal das kaiserliche Leben vor der Gefahr, Cavour, ich habe es erfahren und werde es erfahren, ohne ein besonderer Held zu sein, die eine Waagschale hat falsche Gewichte gehabt, Cavour, und die andere, die Kriegsschale? Der Dämon sitzt in seinem Rücken, in Turin, und ist wichtiger für die Revolution als für den Krieg, seine beiden Divisionen krauchen jetzt erst über die Brücke, seine Telegramme, seine immer gleichen Telegramme – › Insurrezione generale e immediate!‹, – gelten dem einzigen Mann, den er zugleich fürchtet und liebt, dem einzigartigen Mann der Nation, Garibaldi mit dem roten Hemd, der vom Norden her, von den Seen her die Österreicher beunruhigt und die Luft in Mailand und Bergamo, und an alle Herzen Italiens klopft, von Como bis Palermo, eine so grossartige Person, ein so potentieller Revolutionär, dass Wien ihn mehr fürchtet als den unruhigen und undeutlichen Kopf des Neukaiserreichs und dass der Revolutionsriecher Gyulai, Generalissimus, sieben Brigaden gegen seine dreitausend elend bewaffneten Cacciatori verschwendet. Zu viel Insurrezione, zu viel Zersplitterung! Auch der rote Plonplon, Aufwühler, aber kein Soldat, im Verruf der Feigheit gar seit dem Krimkrieg, ist mit seinem Fünften Korps fern, fern, irgendwo in der Toskana, und wird das Land von unten her revolutionieren, aber bei keiner Schlacht dabei sein. Hier sitzt doch der Feldherr und hat mit der Wirklichkeit zu rechnen, das ist die Kriegsstärke morgen – ach, schon heute! Denn heute geht es weiter, Magenta ist keine Entscheidung. Die Wirklichkeit ist: achtzehn Brigaden gegen zweiundzwanzig des scheinbar ungeschwächten Feindes. Die Wirklichkeit ist, dass Mac Mahon im Rücken den Lago Maggiore hat und die Schweiz und dass seine, des Feldherrn rechte Flanke gegen die Tessinsümpfe lehnt: hinter dem Feind aber laufen die grossen und gesicherten Strassen zum Festungsviereck, dem Reservoir der Kräfte. Wenn man heute verliert, treibt man in Sumpf, See und Entwaffnung. Wenn man heute verliert, treibt man die mobilisierten Kräfte Preussens und des Deutschen Bundes nach Strassburg. Wenn man heute verliert, treibt man den Wolf der Revolution von Barrikade zu Barrikade den alten Weg von den Faubourgs zu den Tuilerien. Aber die Revolution ist doch meine Idee, sie gehört doch mir, sie dient doch mir, ich diene doch ihr, und der Bastille-Stürmer hat es doch begriffen und mir Ruhe versprochen …
Der Kopf ist so schwer, dass er den Nacken beugt und den Oberkörper. Die Stirn liegt auf den verschränkten Händen, die Hände auf dem Tisch. So lange die manchmal unruhigen Kerzen noch brennen, sehen die Truppen, die vorbei marschieren, das Käppi und den sitzend schlafenden Kaiser, den guten Kameraden. Sie lieben ihn.
Was ist das für ein bescheidener Feldherr, der sein Kriegsglück nicht erschaut, so lange es Nacht ist? Und als es Tag ist, überklarer Junivormittag über der unerschütterlichen Segensfülle der Landschaft, und er nach Osten reitet, im Strom des Kriegsvolks in die Folge der nur unterbrochenen Schlacht, und im gestern erstürmten Ort, der jammervoll in der Sonne steht, beschämend abgerissen und zerfetzt zwischen dem schussfesten Reichtum der Erde, – als er in diesem Magenta erfährt, dass es doch ein grosser, lauter und entscheidender Name geworden ist, Name des Sieges also, ja, dass die Umgehung geglückt, die Zange zugekniffen hat, dass mindestens zwei feindliche Korps zermalmt sind und das ganze Heer der Weissröcke, linker und rechter Flügel, zurückgewankt ist, weit, weit bis Fallavecchia und Binasco: da lacht er vor Glück, wie damals bei der Geburt des Sohnes, und ist einen Augenblick vom grossen Glücksschluck betrunken, umarmt den ernsten Mac Mahon, nennt ihn Marschall von Frankreich und Herzog von Magenta, nennt ihn den Sieger, nicht sich, der doch den Plan entworfen und pünktlicher ausgeführt hat als der übervorsichtige Troupier und nicht mit fortwährender Änderung der Marschformation die Zeit vertan und die Zange verbogen hat. (Was hätte der grosse N gesagt?, dachte der bäuchige Generalstabschef, er hätte gesagt: Herzog von Magenta bin ich selber. – Was hätte der grosse N getan?, dachte General Niel, er hätte einen Korpsführer, der abends statt mittags an der befohlenen Stelle ist, nicht zum Herzog gemacht, sondern vors Kriegsgericht gestellt. – Ein bescheidener Feldherr, dachten sie.).
Und dann, und dann? Was hätte dann der grosse N getan, noch am gleichen Tag, in der gleichen Stunde? Er hätte die beiden Kavalleriedivisionen aus der Reserve bei Trecate über den Fluss genommen und in Richtung Mailand eingesetzt und sich die Tausende Versprengte geholt und die festgeklemmten Geschützreserven von drei Korps. Er hätte die Kampftruppen und das frische Kriegsvolk, das seit gestern abend über den Grenzstrom strömt, und alles, was er auftreiben und vortreiben kann, dem Feinde nachgeworfen, – er hätte verfolgt, er hätte verfolgt, er hätte Magenta durchgekämpft.
Der mit dem Käppi bleibt stehen, der Glücksrausch dauerte ein Lachen lang. Er lässt sich die Verlustlisten geben. Er sagt: »Wieviel Tränen, wieviel Blut!«, er sagt es zu jedem goldverschnürten Käppi, das er sieht, so wie er damals, als der Sohn geboren war, jede goldbestickte Uniform umarmt hatte, die im Raum der Glücksminute stand. Was ist das für ein Feldherr? Von 32 000 Magentakämpfern sind 4535 tot oder verwundet: erfreulich massiger Prozentsatz. Ja, der Feind verlor 16 000 von 39 000 Mann: das war etwas anderes. Oder rechnet er den Feind mit, der Kriegsamateur? Und Tränen? Wer weint hier, Sire? Die Kontrolle ist scharf. Nein, er weint nicht, er sieht nur sehr müde aus, sehr gelb, braungelb, von der Sonne und der Luft also schon angebräunt. Das gesunde Soldatenleben und die noch gesündere Abstinenz von gewissen Freuden sollten ihm doch gut tun. Tränen? Ach, es werden die Tränen zu Hause sein, die Tränen in den Häusern mit den Siegesfahnen, die jetzt bald flattern werden, nach seinem schönen Magenta-Bulletin an die schönste Kaiserin.