Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der Loge sass der Herzog Morny, im Frack, mit dem Grosskordon. Es waren nicht mehr die Bouffes, sondern die Varietes, kein Theaterchen im Grünen, ein Theater auf dem Boulevard. Die Zeiten haben sich geändert, Weltruhm bedarf grösserer Häuser. Der hohe Gönner war geblieben, er gehörte ja zu den Zeitveränderern. Es war der 17. Dezember 1864, Uraufführung der »Schönen Helena«, Opéra bouffe in drei Akten von Offenbach, Text von Halévy, auch Redaktionssekretär der Kammerpräsidentschaft, und Meilhac, einem wortfaulen, überhaupt faulen Manne, mit dem der Komponist zuweilen seine liebe Not hatte. Die Titelrolle spielte Hortense Schneider, schön wie Helena und nach diesem Abend so berühmt wie begehrt, in ihrer Garderobe waren der Herzog Morny und andere Fürstlichkeiten zu Hause. Chefredakteur de Villemessant, mit achtzehn Prozent an den Variétés beteiligt wie einst an den Bouffes – und das bedeutete füglich einen Gewinnzuwachs –, hatte bereits das Vor-Urteil eines neuen Welterfolges gefällt, und der Figaro irrt sich selten.
Offenbach hielt es also wieder mit der Mythologie, mit ihrer Verhöhnung natürlich. Es waren nun sechs Jahren her, dass zum ersten Male die Götter in der Hölle tanzten, Cancan tanzten. Es ist lange her, die Zeiten haben sich geändert. Jetzt ist Jupiter sehr viel schläfriger als damals sein Götterchor, der so grosse Angst vor dem Erwachen zeigte und vor den Überraschungen, die ihm sein oberster Verwandlungskünstler und Allerweltsbuhle bereiten möchte. Jetzt will wohl der Göttervater nicht sehen noch hören, womit ihn die Olympischen überraschen, und so drückt er die Augen zu. Er ist, möchte man sagen, nicht mehr interessant, seine Frau, die nun im Vordergrund steht, ist zu schön für Juno, der Olymp zudem schon einmal in die Hölle gesunken, – so ist man auf die Erde gegangen.
Im Mittelpunkt steht die Frau, die schönste Frau. Soll es die politische Frau sein, die Fee der Politik, die gute Fee des neuen Kaisers Maximilian, der nun schon drüben ist in seinem Mexiko, allerneustem Kaiserreich, dem Feengeschenk? Er regiert nun schon, willig und mutig, dankbaren Herzens, mit dem Druck des Märchens auf dem Herzen; denn das beklemmend fremde Land hat sich ihm nicht an die Brust geworfen, wie man es ihm in Europa sagte, sondern ist ihm auf die Brust gesprungen, – wie soll man da atmen? Und in Vera-Cruz, zum Eintritt, fiel der jämmerliche und ganz einsame Triumphbogen um, beim kleinsten Windstoss wie ein Kartenhaus, und kein Mensch sah es, kein Mensch war zu sehn, die Küstenstadt hing wohl nicht dem weissen Maximilian an, sondern dem gelben Juarez, sie stand auch nicht, wie die Hauptstadt, unter der Empfangsregie des Okkupationsgenerals Bazaine, mit dem man sich dennoch nicht vertragen wird und um den man dennoch bei der Fee und dem Schläfer betteln wird, immer wieder, immer heftiger. Und in USA übernahm gerade der General Grant, dem ein gefährlicher Ruf vorausging, den Oberbefehl über die Nordarmee: wenn nun doch die Sezessionsstaaten den kürzeren ziehn? Das Mexiko-Märchen sprang den jüngsten Kaiser an, sofort; aber nicht wie ein Puma, auf den Bazaine hätte schiessen können – denn dazu war er ja da –, auch nicht wie das gelbe Fieber, das nicht bis zur festungsfinsteren Kaserne der Kaiserresidenz in der hohen Hauptstadt klettert, sondern wie ein Nachtmahr, Tag- und Nachtmahr. – Nein, die Fee solcher Gaben gehört nicht in die offenbachische Mythologie, nur ihre Schönheit. Aber die schönste Kaiserin ist keusch und kalt: was tut der Musikmagier mit solcher Helena? Er nimmt sie nur als die inthronisierte Schönheit, er entlehnt von ihr nur die Macht, die sie als schöne Frau auf ihre Zeit ausübt, nichts anderes, er denkt nicht daran, Mademoiselle Schneider als Eugenie auftreten zu lassen, – soweit ist die Zeit noch nicht, und ob er heute schon weiss, dass es einmal so weit kommen kann, ist unwahrscheinlich. Selbst Morny, der Scharfsichtige, weiss es nicht oder denkt nicht daran, ach, er darf nicht so weit denken. Eugenie ist so schön wie Helena, doch nicht die Schöne Helena der betörenden und leichten Dame Schneider. Nicht die geistige, sondern die leibliche, die leiblich vorbildliche Macht der Eugenie hat der Zeit die vielen schönen Frauen und ihre Geltung gegeben; und auch dieses Feengeschenk, wie jenes an den seidenbärtigen Prinzen, ist nicht geheuer, weil Wert und Wirkung schwerlich erkannt werden, gewiss nicht von der Spenderin, der frommen Frau. Der Musiker aber, der der Zeit aufspielt, macht sich das Geschenk der Kaiserin auf seine Weise zu eigen und verschenkt es weiter, in neuer Verzauberung: aus den vielen schönen Frauen der Zeit ist die eine, die schöne Zeitfrau geworden, die Helena des Kaiserreichs, die sinnliche und empfindsame, verführerische und verführte, dem Schicksal der Liebe nicht besinnungslos, sondern mit allen Sinnen und wachen Nerven und einer ganz und gar bewussten Grazie ausgelieferte Heldin der National-Frivolität.
Es ist Spott bei alledem: nicht nur die Moral wird verspottet, auch die Unmoral, nicht nur der König Menelaus, auch der Beau Paris, nicht nur die fatalistische Ehebrecherin, auch die Kourtisane. Selbst die Liebe wird verspottet, selbst die Schönheit. – Was bleibt uns noch?, fragt sich der Herzog Morny, und das gleiche fragt sich ein anderer Zuschauer, der Chronist Rochefort. – Es ist schon lange her, dass der Zeitteufel aufstand und mit der neuen Jerichotrompete den allgemeinen Cancan blies. Es war zum Lachen, was da alles einstürzte an Glaube und Scham, aber auch an Angst. Jetzt ängstigt sich nur noch Menelaus der Gute, – laus der Gute. Es ist zum Lachen, zumal wenn man bedenkt, dass die klassische Helena eine politische Frau von höchst tragischer Bedeutung gewesen ist: der veritable Grund zum Krieg. Man ängstigt sich nicht ein klein wenig vor dieser Frau? Nein, man lacht, man freut sich an ihr. Die Zeiten haben sich geändert. Vor sechs Jahren, als Jupiter in die Unterwelt zog, konnte die Mythologie des Unberechenbaren ihren Schauer bis in die Gegenwart, bis in die nächste Zukunft schicken: und da war dann auch Krieg. Jetzt wusste man auch damit Bescheid, man war aus dem Allegorischen heraus, Orpheus in der Unterwelt ist eine ausgezeichnete, wenn auch reichlich abgespielte Operette, der Kaiser in Plombières spielte nicht einmal Komödie, sondern seine beliebte, bewährte und schon darum nicht absetzbare Realpolitik im Geheimen, eine Offenbachiade ist kein Menetekel, und Hortense Schneider wird nur Skandale verursachen.
Das Jahr stand am Rande, der Herzog Morny konnte die Heiterkeit des aufgeklärten Theaters nicht recht mitmachen, selbst als Menelaus zum Volke sprach. Das Jahr stand am Rande: dem Herzog schien es heute, als fühle es niemand auf der Welt so stark wie er. – Was bleibt uns noch, hatte er sich eben gefragt, eine merkwürdige Frage für den Reichserneuerer, aber vielleicht keine sentimentalische Verwahrung gegen die Entheiligung des Lebens, die mächtig fortschreitet, sondern die Menschenangst vor dem Zeitablauf. Morny war heute nicht ganz bei der Sache, ein wenig so wie vor sechs Jahren in den Bouffes, als selbst er nicht wusste, wohin es nun ginge mit der Zeit, die plötzlich ausser Rand und Band war, und auf Baisse setzte, bekanntlich eine falsche Spekulation. Heute wusste er, wohin die Zeit gegangen war und weiter ging – wer wusste es besser als er! – und worauf nun noch zu setzen sei.
Der Kaiser war ein kluger Mann. Hätte Persigny im vorigen Jahr gesiegt – und der Schläfer tat, als hätte er davon geträumt –, so würde er seine leise und genaue Allmacht wieder aufgerichtet haben, wie im vorigen Jahrzehnt. Aber Morny gewann, der Kaiser schickte dem Maniak mit einem Seufzer der Erleichterung den Herzogstitel, komplimentierte die nun zugleich historische und durchlauchtige Persönlichkeit aus dem aktiven Staatsdienst hinaus und verabschiedete mit ihr auf das unauffälligste und höflichste die autoritäre Idee. Der Mythos der Diktatur zerstob ganz still, der stille Kaiser schien es ganz zufrieden, er arbeitete am »Leben Cäsars«, der sonderbare Mythologe. Morny dachte damals: ich könnte mir vorstellen, dass recht gute Cäsar-Biographien von Diktatoren geschrieben werden, aber nicht von gegenwärtigen oder zukünftigen, sondern von gewesenen.
Aber der Zerfall des Mythos ging ja weiter, Morny übersah noch nicht seinen ganzen Zeitsieg. Während der kluge Kaiser so verstohlen die Allmacht aufgab, dass es das Reich noch garnicht merkte, und mit sonderbarem Eifer am »Leben Cäsars« schrieb, publizierte ein anderer stiller Mensch und sehr viel grösserer Schriftsteller, ein Professor für semitische Philologie, sein »Leben Jesu«. Da geschah es, dass die Wahlen vergessen wurden, die frischesten Siege in Mexiko, das Für und Wider um Polen, der rotblonde Riese und neue Ministerpräsident, der seinem Preussenkönig auch gegen den Willen des Parlaments die neue und höchst bedenkliche Kriegsmaschine verschaffte, – dass alle Probleme des Tages in dem Lärm untergingen, welches dieses stille, schöne und traurige Buch verursachte. Was tat denn dieser Ernest Renan, dass er mit einemmal in aller Mund war und gepriesen wurde oder verflucht, ach, dass er Mode wurde? Er zeigte, dass Jesus ein armer Mensch gewesen sei, nur ein armer, grosser Mensch, nicht Gottessohn, vom besonderen Schicksal in schwermütige Schwärmerei gedrängt, nicht in die Wundertat, ein unsagbar liebenswertes Zeitopfer, nicht der ewige Heiland. – Was bleibt uns noch?
»Monsieur le Duc de Morny«, hatte damals Monsieur le Duc de Persigny gesprochen, »ich gratuliere Ihnen auch zu diesem Wahlerfolg. Unser Herr Jesus Christus, aus den Himmeln geholt, steht nun ungefähr auf der humanitären Höhe Ihres Herrn Thiers, und wir haben jetzt das fünfte, das liberale Evangelium, das jede Entheiligung toleriert, aber nur nicht den vorangegangenen vier Evangelien das Mirakel des Glaubens lässt. Fehlen noch Analyse und Denaturierung des lieben Gottes: der Häresiarch wird sich in Ihrem neuen Reich finden lassen, Monsieur le Duc.«
Doch auch der Kaiser, aus dem Leben Cäsars aufschauend und in dieses arme Leben Jesu blickend, wurde seltsam böse, verwarf das Werk in einem feierlichen und öffentlichen Brief an den Bischof von Arras und nahm dem Professor Renan den Lehrstuhl. Geschah es aus Religiosität oder Politik oder der Angst auch bei ihm, was uns noch bleibe, oder aus der stillen Abneigung gegen Mornys neues Reich? Der Bruder fragte ihn nicht, er sprach mit ihm niemals über den Fall Renan, er zwang ihn ja nicht mehr zu pythischen Gesprächen und halben Bekenntnissen wie vor dem Wahlkrieg: es war schon so, dass der Herzog Morny ohne den Kaiser mit seiner neuen Zeit auskam.
Es war dennoch kein leichtes Auskommen, auch wenn die Zeit zu laufen schien, wie der Staatsmann es wollte. Die Zeit läuft, ob der Mensch will oder nicht. Wie alt ist Morny? Der fragte es sich nicht mehr oder er fragte es anders: was bleibt uns noch? Das ist die Doppelfrage an die Zeit, die zugleich läuft und raubt, und sie raubt zweierlei: den Tag und den Mythos. Für Morny war der Professor Renan kein Häretiker, sondern ein Philologe, der aus purer Traurigkeit über sein zeitwissenschaftliches Resultat zum Dichter wurde, zum beinahe mystischen Besänftiger der Legendendämmerung, die er angerichtet hatte, ein so verstörter Kritiker der übernatürlichen Himmelfahrt, dass er dem Irdischgewordenen eine neue, sehr literarische, elends-sprossige Jakobsleiter rasch wieder zur Verfügung stellte. Aber dass die Zeit so tat, im Für und Wider, als sei Christus von der Renanschen Interpretation abhängig, focht den Politiker Morny sonderbar an, und so kränkte ihn der polemische Pensions-Herzog Persigny sehr viel mehr, als es die kleine Bosheit der titulierten Anrede ahnen liess, jenes »Monsieur le Duc«, das wie ein Ball zwischen den beiden Herzögen, dem aktiven und dem passiven, hin und her geworfen wurde. – Nein, Herr Herzog Persigny, das gesittete Mass der Reichsreform, so feind dem Masslosen und Unmässigen wie ihr Anreger, erlaubt weder Erzhetzer noch Erzketzer. Bekanntlich berühren sich Extreme, Monsieur le Duc, und der wilde Vogt der Staatsgewalt, derjenige, der die christliche Nächstenliebe von Staatswegen enteignet, gelangt näher an Entgottung und Entheiligung als der vorsichtige und vernünftige Mehrer der bürgerlichen Freiheiten. – Der andere Herzog, der pensionierte Staatsmaniak, lachte ein wenig – es stand ihm übel – und sagte: »Also Vorsicht, Monsieur le Duc, Vorsicht! Damit werden Sie noch der einzig tolerierte Zeitheilige, sofern Sie ausdauernd sind wie vorsichtig, dauerhaft wie vernünftig.« Der Prophet im Ruhestand gab nicht Ruhe.
Die Zeit war nicht gesittet, sie lief davon, unvernünftig und grausam (grausam für den, der sparsam sein muss mit ihr), und zugleich auch war sie nachtragend. Aus dem Zeitschlamm kroch wieder der Tyrannenhass, schon einmal geköpftes Gespenst, und es gab doch keinen Tyrannen. Aber der Kaiser lässt uns nicht nach Rom – Rom oder Tod!, das gab es ja noch immer. Vier kleine Brutusse schlichen in das Reich, das doch den Mythos austrieb, im besten Fall travestierte, drei von ihnen waren Garibaldianer der ersten Stunde, drei von den Mille des Korsarenjahrs, und sie kamen mit Bomben, Revolvern und Dolchen, dachten an den grossen Orsini und verschrieben sich dem grossen Mazzini, oberstem Brutus der Zeit. Aber man kann die Historie nicht wiederholen wie ein Theaterstück, das sollten sie gelernt haben, man konnte nicht den Korsarenzug neu inszenieren, man kann nicht das Orsini-Attentat vor dem Opernhaus neueinstudieren, – dabei wird man gefasst, noch während der einfältig stilgetreuen Proben, gefasst, entlarvt, prozessiert, verurteilt, zu Deportation oder Festung, in contumaciam auch der grosse Brutus. Der Kaiser schrieb am Leben Cäsars und gab zu, dass er traurig sei, betroffen von der ewigen Parabel des Verhängnisses, er gab es in aller Öffentlichkeit zu, bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, und sagte zu dem Kirchenfürsten, der den Kardinalshut bekam, die sonderbar wolkigen Worte: »Ich frage mich auch, ob das gute Geschick nicht gleich viel Drangsal hat wie das böse.«
Ja, diese Menschenworte des Glückskaisers, des immer wieder geretteten, ergriffen den Zeitliebling Morny stärker als Renans pessimistische Umdichtung des Mirakels zum Miserere. Wer wohl ahnte die Drangsal des Herzogs Morny, des immer arbeitsameren, immer weniger schlafbedürftigen, der jeden Morgen in den Spiegel schaut, doch nicht mehr aus Eitelkeit, und Silberkügelchen schluckt, immer noch, immer mehr dem Arkanum der vier Heilfläschchen verhaftet – er, ein Führer der wunderfeindlichen und ironischen Zeit –, der über dem Magen die Faust ballt, in der Faust den unsichtbaren Dolchgriff, und das Messer herausziehen will und es doch nicht kann? Niemand ahnt etwas, nicht die blonde, kühle, exklusive Herzogin, nicht einmal der Figaro. Wie sollte es Rochefort ahnen?
Die Zeit ist nicht gesittet, Bismarck macht seinen dänischen Krieg, Cavour hätte es nicht besser machen können, der Beobachter Rochefort hatte sein Vergnügen dran, der traurige Kaiser kaum. Es ging wieder kaiserliche Flugsaat auf, selbst der deutsche Sozialist und Arbeitervereinsbegründer Lassalle – ein Mann, der sowohl dem Ministerpräsidenten Bismarck als auch dem Chronisten Rochefort gefiel – leitete die Befreiung Schleswigs von der Befreiung Italiens ab und wandte das bekannte Nationalitätenprinzip, das im Süden Geltung gewonnen hatte, nun für seinen Norden an. Aber das grosse Unrecht, das geschieht, – was tut der arme Kaiser von Europa und Nationalitätenbefreier gegen das Unrecht dieses Krieges? Er denkt wohl an Plombières und tut nichts. Er denkt wohl an diesen Bismarck, der als einziger fast von Petersburg aus Anno 59 gegen eine Intervention Preussens zugunsten des verhassten Österreichs arbeitete. Er denkt an Bismarck vom vorigen Jahr, der durch das Militärbündnis mit Russland den Zaren stark machte gegen Polen und Europa, – und so setzte es für Frankreichs polnische Pufferstaats-Idee eine diplomatische Ohrfeige. Er sieht diesen Bismarck, wie er, der Österreich-Fresser, plötzlich Arm in Arm mit Wien über die Eider geht – warum?, um durch den grossen Bruder den anderen Mächten die Interventionslust zu nehmen –, er sieht gut hin und sieht, wie die Faust des Riesen den Arm des schütteren Bruders umklammert und ihn mitschleifen kann, aber auch fortstossen, nicht heute, nicht bei der Nationalitäten-Farce, aber morgen, vor dem Bruderkrieg. Er denkt an Bismarck und an die unheimliche Offenheit des Riesen, an das Bündnis doch, das Bündnis: aber Österreich ist noch viel zu stark, – und siehe, auch Bismarck denkt an ihn und starrt nach Westen; denn da ist ein schlimmer Augenblick zu Anfang, an der Eider, der möglicherweise unglückliche Auftakt jedes Abenteuers: wenn jetzt, bei gebundenen, noch nicht gesicherten, noch nicht erfolgreichen Kräften und dem Anfangszorn der Weltmoral gegen den Unmoralischen, der vielleicht sehr kluge Kaiser der Franzosen an den Rhein rückt, über den Rhein … und der Junker schickt viel Freundliches über den Rhein, Blankowechsel auf die Dankbarkeit. – Dankbarkeit! Der Kaiser tut nichts gegen das Unrecht. Wie kann er etwas gegen sein eigenes Nationalitäten-Prinzip unternehmen? Was kümmert sich das Land um Schleswig und Holstein und den König Christian und den Augustenburger? Die Dänen tun dem Kaiser sehr leid, das ist alles. Er denkt an Bismarck, das ist gemach schon Drangsal. Dankbare Menschen sind sehr selten, der Kaiser ist einer, Cavour war es nicht. Zwischen London und Paris wird viel telegraphiert und geschrieben, Konferenzen, Konferenzen. Rochefort grinst. – Düppel.
Die Zeit schüttelt müde Mythen ab, andere lässt sie dauern, zum Beispiel den der Gewalt, andere Früchte lässt sie langsam reifen, zum Beispiel die des Louis Blanc und des Karl Marx in London. Es ist ja noch garnicht sicher, ob der Kaiser schon zu verbraucht oder der Erneuerer Morny bereits zu stark ist, um noch an aussenpolitische Gewalt zu denken. Denn während der Gewalt-Bismarck das neukaiserliche Nationalitätenprinzip travestiert und schon Jütland hat, pflückt der Toleranz-Morny die sozialistischen Zeitfrüchte und lockt mit ihnen auch die Arbeiter, die langsam auf den Geschmack kommen, in sein neues Volkskaiserparadies. Nein, Rochefort, es gibt nichts zu lächeln, weil der Cavourdämon wieder da ist, in mächtigerer Gestalt, und den gesitteten (weil gesättigten) Konferenzlern den Düppel-Knüppel zwischen die Beine wirft, – darüber fällt der Kaiser nicht. Aber zu staunen gibt es und argen Schrecken zu spüren, wie der Lordprotektor, der wahrlich keinen Krieg brauchen kann, das verjüngte Kaiserreich unterbaut und überwölbt, für eine kleine Ewigkeit, für viel länger doch, als du dauerst, Rochefort, – wie er jetzt den Arbeitern die grosse, neue Zeitforderung mit einer höchst mittelmässigen Pauschalsumme abkauft: ach, Morny ist im Geschäft! Morny verschafft den Arbeitern das Koalitionsrecht, beileibe nicht mehr, nicht etwa auch das Vereins- und Versammlungsrecht; aber selbst die Regierungsmehrheit erzitterte vor solcher Toleranz, und das Ja drückte ihr fast das Herz ab. Doch es ist nicht dies allein: die Glücksspinne begnügt sich nicht mit einer fetten Fliege. Morny stellt als Berichterstatter der Gesetzesvorlage keinen Regierungsparteiler auf, sondern einen von der Opposition, ja, Herrn Emile Ollivier, einst einen der Fünf, er hält ihn selbst gegen ministeriellen Einspruch, er hält ihn gegen die Rechte, der das Gesetz zu viel, viel zu viel ist, und gegen die Linke, der es zu wenig, viel zu wenig ist, – ja, er hält ihn gegen seine Brüder, und schon hat er ihn mit dem elegantesten Hieb von seiner Partei abgespalten. Sieh, Rochefort, nun ist Herr Emile Ollivier, ein Mann, den du geschätzt hast, nicht mehr Oppositions-Magister, sondern schon Morny-Magistrat, – und doch ist er kein Überläufer, kein Abtrünniger, ein Unbestechlicher, bestochen nur von der neuen Ideologie und der idealen Macht seines Gönners. Erkennst du die ganze Gefahr, Rochefort, die ganze Gefährlichkeit deines Lordprotektors? Ach, der Brutusmythos ist müde und verbraucht wie der neue, falsche Cäsar, der nur noch Biograph sein will des alten und echten. Wo ist der erneuerte Rächer, der den wahren Feind trifft, den Reichsverewiger? Nun, der Beobachter ist es nicht, er antwortet sich nicht einmal: ich bin es, er wirft nicht die Halbwochenchronik dem Morny-Figaro vor die Füsse oder ins humorig grimmige Bierbrauergesicht, er geht nicht nach London oder Amsterdam oder Brüssel und entzündet dort nicht die provisorische Laterne der Emigration. Er hängt doch wohl im Netz.
Es waren die Variétés, nicht mehr die Bouffes. Die räumlichen Masse waren normal, geziemend auch der Abstand von Bühne und Zuschauerraum, Schein und Sein hockten nicht mehr in unzüchtiger Enge beisammen, Helena, auch unter der Lupe der Bouffes von untadligem Körper, leuchtete entrückt in einer Gloriole von Vollkommenheit, in der ganz leichten und lockenden Hülle der Entfernung gelang ein Liebesspiel, das in gepresster Nähe hässlich, also spielwidrig gewesen wäre, und ein duftiger Hohn auf die Sitte, die zu nahe der Nase scharf nach Gemeinheit röche. Aber auch das Parkett war aufgelockert, von den Rängen grosszügig umschwungen, die Zuschauer bedrängten sich nicht. Als der Herzog Morny, knapp vor Beginn der Vorstellung, seine Loge betreten hatte und kaum sass, nahm er das Binokel und suchte nach dem Eckplatz der zweiten Parkettreihe, so als sei er in den Bouffes. Doch Rochefort sass nicht dort und nicht in der Nähe, er war nicht zu sehn, so wenig wie auf der Kammertribüne. Schon ging das Licht aus, und das heftige Dunkel lag wie eine unhöfliche Hand vor dem Opernglas, das noch hartnäckig weiterstolperte, aufs Rampenlicht hoffend. Aber der Vorhang blieb ja während der Ouvertüre geschlossen: Morny legte das Glas aus der Hand. Hat der Teufelskerl die Witterung scheuen Wildes oder hat der Figaro nicht dicht gehalten? Doch es trat schon, unhörbar im Schwall der Töne, der Chefredakteur in die Loge, stand schon hinter dem Herzogssessel, und wie er sich vorbeugte, streifte das goldene Vliess der Dankbarkeit, die imaginäre Dekoration, ganz leicht die Schulter des hohen Gönners.
»Er ist da, Durchlaucht. Er sitzt in meiner Loge«, flüsterte er ihm ins Ohr, und dann verschwand er wieder.
Hier begann dennoch keine Intrige, die ins Sittenstück passte, sondern jetzt offenbarte sich nur das Besondere der zeitlichen Verflechtung: wie es kam und kommen musste, dass einer im Netz des anderen hing, der Menschenfänger und der Menschenfresser. Beide hatten Angst vor einander, wenn diese Angst auch sehr verschieden war und von dem einen mit politischem Hass, von dem anderen mit einer sehr genau berechneten politischen Zuneigung verhüllt wurde. Rocheforts Angst vor Morny war die klarere und bestimmtere; denn der Staatsmann stand in der allgemeinen und in des Beobachters besonderer Sicht und unterschied doch nicht die starrenden Gesichter: Rochefort fürchtete als Politiker den möglichen Reichsverewiger und als Person den noblen Menschen Verführer, – das war schliesslich die Angst um das eigene Leben, welches er durch diesen Mann verfehlen könnte. Mornys Angst vor Rochefort war so abstrakt und doch so gerechtfertigt wie seine Angst vor der Zeit, – das war schliesslich die Todesangst. Es war gewiss nicht so, als setzte er diesen spröden und widerborstigen Journalisten der Zeit gleich, die doch gut zu ihm war, bei allem Anspruch gefällig, bei aller Gefährlichkeit reizvoll: o nein, Morny erkannte viele Zeitinkarnationen, näherte sich ihnen, befreundete sich ihnen oder eroberte sie. Politisch gesehen war dieser Rochefort eine Zeitbastion, die anzugehen es aus ganz bestimmten Erwägungen nunmehr an der Zeit war. Denn da hat der Herzog jetzt den lieben, forschen Herrn Ollivier in der Kammerschlacht um das Koalitionsrecht auf seine Seite gezogen – und wer eigentlich war noch auf seiner Seite als der Kaiser selber, nicht nur ein kluger, sondern auch ein guter Mann, sozialer denkend als mancher stramme Revoluzzer in London und immer noch, wie einst in Ham, gewillt, die Armut auszurotten –, da hat der Herzog Morny mit seinem elegantesten Hieb Herrn Ollivier von seiner Partei abgespalten. Aber, nicht wahr?, dieser Streich war nicht ganz so virtuos, wie er aussah, weil die Bande schon seit geraumer Zeit gelockert, angestochen, angeschnitten waren: und nun stand der arme Magister ganz allein, ohne Oppositions-Bindung, ohne Regierungsfähigkeit, von den früheren Freunden gehasst, von den früheren Gegnern keineswegs geliebt, den Ministern ungemein suspekt, – und der Präsident der Legislative sitzt zu hoch, um einem Deputierten ständig den Rücken zu steifen, oder: der Herzog Morny könnte aus diesem und jenem Grund in solche Zeitnot geraten, dass er seinem wertvollen Häretiker beizustehen nicht mehr in der Lage sein möchte. So muss man für ihn vorarbeiten, vielleicht an einer neuen linken Regierungspartei, zu der man unter Umständen Herrn Thiers dazugewänne – o, man steht ja nicht mehr schlecht mit ihm, man steht auch mit ihm viel besser, als die Welt weiss –, vielleicht auch den ehrenwerten Prévost-Paradol als Orpheus für die liberale Oberschicht, ja, und als Rattenfänger vielleicht diesen Rochefort … – Das war die neue politische Spekulation, kühn, aber reizvoll, – und selbst wenn man zu diesem Zweck die Schöne Helena missbraucht, ergibt es noch keine neue Mythologie, sondern im Gegenteil eine sachliche Ablenkung von der Bühne, ein Nicht-bei-der-Sache-sein, gar ein Warten auf das Ende des Aktes, wahrhaftig eine höchst amusische Ungeduld, – Herr Offenbach möge es verzeihen. Was ist es nur mit dieser Ungeduld, wird die Zeit schon so knapp? Das Jahr steht am Rande.
Auf der Bühne orakelt der tüchtige Oberpriester Kalchas, der ja auch mit falschen Würfeln spielt und also die Götter zu korrigieren versteht, sehr düster von drohender Diktatur der Liebe, das Ensemble dagegen – »Partez pour la Crète« – deutet den Aktschluss an, das Parkett denkt vergnügt an das hortensesche »Partant pour la Syrie«, an die Kaiserreichshymne, die die Marseillaise zu ersetzen hat: dem Herzog, nicht bei der Sache, entgeht die Analogie, er denkt sehr selten an die Mutter, die er nicht kennt und die doch nachträglich ihre Schuldigkeit getan hat (die Hortensia blüht im Wappen des Vicekaisers), – jetzt denkt er nur an den ersten Zwischenakt, der noch nicht die grosse Pause bringt, noch nicht die Eroberung, wohl aber die Rekognoszierung. Er legt das Opernglas nicht ab, der mächtige Lüster flammt über dem Beifall auf.
Die Loge des Chefredakteurs war gegenüber, im ersten Rang auch sie, Morny konnte es nicht bequemer haben, zu allem Überfluss stand gross und breit der Herr de Villemessant hinter seinen drei Damen, die die Vorderplätze inne hatten, Madame und die zwei Töchter, und lächelte wie ein Augur, wie. der Oberpriester Kalchas ins herzogliche Binokel. Aber er versperrte doch auch den Blick in den Logenhintergrund, den schon genügend dunklen. Gemach, Kalchas weiss sich und den Göttern zu helfen. Er beugte sich zu seiner jüngeren Tochter, wies auf den lichtspeienden Riesenlüster, dann auf die Augen, die junge Dame nickte, schon sich erhebend, der besorgte Vater sprach jetzt nach rückwärts, gewiss wieder vom grellen Licht und empfindlichen Augen, man tauschte die Plätze, Rochefort rückte ritterlich in die Helle vor.
Da sass er nun wie im Rampenlicht, Morny aber rückte den Sessel von der Brüstung fort, in den Schutz der rotsamtnen Draperie, die nach Staub roch. Er wusste mit einemmal, wie oft jener ihn, den Kammerpräsidenten auf der Empore, gesehen, gemustert, belauert hatte, und er selber fand ihn doch nur zweimal mit dem Theaterglas in den Bouffes, beide Male benommenen Gemüts. Jetzt sass der andere ungeschützt im Licht, die Sichtlage hatte gewechselt, nun war Morny im Vorteil, der Gesichtspunkt war politisch. Zu verwundern war indessen, dass dieses jähzornige Antlitz auch in der nüchternen Berechnung und Beobachtung des Augenblicks nichts von seiner Übertriebenheit verlor, von jener sozusagen mythologischen Prägung des ersten Anblicks, wo plötzlich der Hadesherr im Frack auf dem Parkettsessel sass. In der Loge drüben, in der Realität sass der Götterfeind, und sein Gesicht war zugleich das der Hölle und das der Zeit und das des Kaisers und das des Reichserneuerers, fürchterlich bekannt und fremd. Die Zeit stand am Rande und mit ihr der Herzog Morny. – Ich bin ein kranker Mann, und der da hat mir den Stich versetzt. – Das ist schon keine Politik mehr.
Figaro, der knapp hinter dem Teufelskerl stand – ach, fast wie ein guter Geist –, suchte mit dem Glas das Gegenüber, beugte sich über seinen Chronisten, legte ihm die Hand auf die Schulter, und der Zeigefinger dieser Hand wies auf die Morny-Loge. Rochefort schaute mit eigentümlicher Wendung des Kopfes, ja, mit infernalischer Hoffart die weisende Hand auf seiner Schulter an, nicht aber blickte er in die gewiesene Richtung, und da es der dreiste Wegweiser noch nicht mit der Angst bekam, verwandelte sich der Hochmutsteufel schon in eine Bulldogge und schaute seitlich als bissiger Hund, so als knurre er schon, und einen Atemzug lang schien es, als würde er nach dem Finger schnappen. Morny liess das Glas sinken, erschrocken und entmutigt.
So war es gut, dass der Musikmagier wieder Dunkelheit über den Raum schickte und dann die neuen, weichen, warmen Töne; denn nun beginnt die Herrschaft der Liebe, die natürlich siegreiche, und die Trottelkönige, die sich dagegen wehren, marschieren folglich auf wie Gänseriche. Und da es keine simple Liebe ist zwischen einem Mann und einer Frau, sondern die hochberühmte Tyrannei der Leidenschaft zwischen Paris und Helena, gewann die Musik immer mehr an Brunst und Schwüle. Der Herzog Morny hörte nur die Musik; denn er sass noch immer hinter dem Logenvorhang, und überdies hatte er die Augen geschlossen. Doch von der Musik kam nicht die Sinnlichkeit zu ihm, sondern nur der Ton-Föhn, der sie begleitete. Morny war ein alter Mann – wie alt war er eigentlich? –, er litt unter der Schwüle, es schwankte plötzlich mit ihm der Sessel, die Loge, wohl das ganze Haus, er sass in einer Tonschaukel, das Gefühl war zugleich auflösend und zuschnürend, – er riss die Augen auf und setzte sich aufrecht, die Fäuste rechts und links um den Knauf der Armlehne. Ein Kranker sah Gespenster, er sah einen ausnehmend hässlichen Zeitgenossen als Mephisto, verwechselte, scheints, die Schöne Helena mit Orpheus in der Unterwelt, den Gestaltwandel der Götter mit den Grimassen des Herrn Rochefort, sozusagen die geile Fliege Jupiter mit einer Bulldogge von einem Pluto, – ein starkes Stück. Entweder Politik oder Halluzinationen, Monsieur le Duc, entweder Rochefort oder Offenbach! Morny schob sich mit dem Sessel an die Logenbrüstung: zuerst Offenbach, dann Rochefort.
Der Herzog Morny hielt während der grossen Pause nicht in seiner Loge den üblichen Cercle ab, sondern trat auf den Gang, der den ersten Rang umlief. Dort blieb er stehen, nicht weit von seiner Logentür, grauen Gesichts: immer wieder doch blühte das Morny-Lächeln auf, wenn er Grüssenden dankte. Aber er rief keinen heran.
Alles ist Plan und Plan ist gut; denn er verjagt das Irreale. Nennen wir es das Irreale, was uns eben erschreckte und entmutigte und was uns viel zu lange, kindisch und unwürdig beschäftigte. Wir fangen es jetzt mit Plan und Politik.
Doch als, dem Plane gemäss, Herr de Villemessant mit Rochefort auftauchte, wurden dem Herzog die Handflächen nass. Er hatte Angst, es war zum Lachen. Er setzte das Morny-Lächeln aufs graue Gesicht.
Plötzlich stolperte Rochefort, oder es war so, dass er sich fast im gleichen Augenblick zurück und wieder nach vorne riss. Es wäre zum Lachen, liefe er jetzt davon. Sein überdeutlicher Adamsapfel wanderte auf und ab am langen, hageren Hals.
»Ach, auf ein Wort, lieber Villemessant!«, rief Morny, dem Plan gemäss. Rochefort blieb stehn. Sein Chefredakteur sprang die fünf Schritt hin zum hohen Gönner.
»Durchlaucht?«, fragte er, schon ein klein wenig atemlos vor humorig grimmigem Eifer.
»Wer ist eigentlich der Herr, mit dem Sie gehen?«
»Rochefort, Exzellenz, Graf Henri de Rochefort de Lucay, mein Mitarbeiter.«
»Ach, der ausgezeichnete Chronist! Stellen Sie ihn mir doch vor, mein Lieber.«
»Mit Freuden, Monsieur le Duc.«
So war der ausgezeichnete Plan. Was konnte dagegen ein halbwegs gesitteter, einigermassen vernünftiger Mensch tun? Morny lächelte dem Figaro nach und dann zu Rochefort hin. Der Teufelskerl starrte in die Luft, das Kinnbärtchen in der Schere der Finger.
Die Zeit konnte ungesittet und unvernünftig sein. Rochefort dreht sich um, die planvolle Übermittlung eines zugleich höflichen und auszeichnenden Wunsches ist kaum über das bedeutsame »Monsieur le Duc« gediehen, Rochefort reisst sich gleichsam am Kinnbart herum und geht davon, der Figaro zischt noch den gerechten Zweifel an dem Verstand dieses Menschen dem abwandernden Rücken nach, einem überaus dürftigen Rücken im herausfordernd engen Futteral des schwarzen Anzugs, eine gepenstige Figur mit langen, dünnen Armen, Beinen, Händen und lauter Ecken, ein Monstrum nachgerade. Der Figaro lässt ihn ziehen und gerät schnell ausser Atem; denn nun musste er sich dem Herzog Morny zuwenden. Herr de Villemessant dreht sich um, das Taschentuch schon in der Hand bereit. Doch er sah, dass er ganz allein war. Auch der hohe Herr war verschwunden und die Logentür in aller Deutlichkeit geschlossen. –
Der Herzog Morny fand den letzten Akt musikalisch benachteiligt. Er sass hart an der Logenbrüstung, aufmerksam und kritisch. Dass Agamemnons Klage über die Entheiligung und Entsittlichung Griechenlands, die die tyrannische und lieberächende Venus herbeiführte, zur tonlichen Ausmalung reizt, war begreiflich, und dass man dazu Rossinis »Trio patriotique« buffonesk verwandte, war lustig: aber damit verkuppelt stieg schon der alte galop infernal aus der Orpheus-Unterwelt. Was soll der aufgewärmte Teufelsbraten! Morny war sonderbar gereizt, er umklammerte die Lehnenknäufe, ja, so hielt er auch sich zusammen, man läuft doch nicht fort wie jener, man läuft ihm doch auch nicht nach. – Agamemnon aber sang und tanzte:
Tu comprends
Que ça ne peut pas durer longtemps.
Vor sechs Jahren spritzte die Marseillaise durch den Empörungschor der Götter: es ist nicht dazu gekommen, dass man sie wieder singt. Heute singt man und tanzt man, dass es nicht lange dauern wird. Es wird lange dauern, ich sorge dafür, ich bin noch nicht hin, wenn ihr den Teufel an die Wand malt, so werde ich ihn exorzisieren, ich, Morny.