Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Tambours trommelten. Obwohl in alter Übung gedämpft und so etwas wie salonfähig gehalten, rollte der Wirbel durch das königliche Haus. Die Abgeordneten gewannen im Nu eine respektvolle Aufmerksamkeit, eine gewisse Habtachtstellung ganz wie von ungefähr, aus alter Gewohnheit, und alle fast blickten auf die Doppeltür des Sitzungssaales, die sich öffnete. Dort sahen sie eine Doppelreihe Soldaten, und alle wussten, dass die Gasse der Ehrenkompagnie vom Sitzungssaal bis zur Präsidentschaftsgalerie reichte, die sich auf das Vestibül öffnet. Das war nichts Aussergewöhnliches, das ist vor jeder Sitzung so. Wenn es trommelt, tritt der Präsident des Hauses aus der Galerie in die stramme Ehrengasse, um feierlich und vicekaiserlich seinen Platz einzunehmen. Jetzt betraten zwei Huissiers den Saal, schwarz gekleidet, mit Halskette und Degen und unter dem Arm den zusammengeklappten Hut: die Abgeordneten, die noch nicht standen, erhoben sich. Zwischen zwei Offizieren, gefolgt von den Sekretären des Büros und dem Generalsekretär, kam Morny.
So war es immer, so fürstlich war der Dienstgang des glänzenden Mannes, und dann sass er liebenswürdig auf seinem hohen Stuhl und dirigierte das Orchester mit lockerer Hand. Was hatte sich im neuen Jahrzehnt geändert?
Man sehe sich sein Gesicht an. Man kann nicht sagen, dass er gealtert sei oder die Last der Arbeit zeige, die der grosse Herr nun einmal ohne sichtbare Mühe zu tragen versteht, oder selbst die Last der Sorge, der vielfältigen Sorge. Man kann vielleicht sagen, dass er sich geändert habe wie die Zeit, um die es ihm ja geht, und dass es keine heftige Wandlung sei, aber auch ganz gewiss keine laue. Der Kopf war von so fester und eindrucksvoller Prägung geworden, dass es wie ein Formfehler sein würde, wäre der Schädel nicht nackt bis zum Nacken. Der verstohlene, tiefgerückte und sich doch nicht mehr schliessende Haarkranz, gerade noch über den Ohren modisch sich auflockernd, war nur dazu da, um die beinahe römische Härte des Umrisses in die nachgerade berühmte Silhouette des pariserischsten Freundes des guten Lebens hinüber zu retten. Die Entwicklung trieb zur Deutlichkeit, beinahe zur Übertriebenheit des Physiognomischen: jetzt war es der klarste Kopf und ein überwaches Gesicht geworden, – und es änderte doch nichts an der Ähnlichkeit mit dem Bruder Cäsar, der manchmal schon im Nebel versackte oder hinter den Wolken verschwand. Es war schon so, wie die Welt zu raunen begann und wie es hier im Saal die Mitglieder des Gesetzgebenden Orchesters aus grösserer Nähe sahen: in diesem königlichen Haus regierte das andere, das zweite Gesicht des Imperiums, das fassliche, fraglose und hoffnungsreiche.
Die Welt hatte im ersten Jahr des neuen Dezenniums viel zu raunen gehabt; denn Jupiter tanzte recht bedenklich und nicht immer elegant auf den Wellen im heillosen Doppelsturm aus Italien und aus Rom, und es wurde wieder einmal dem mitwankenden Europa nicht deutlich, ob er die Wellen trat oder ob sie ihn auf und ab trieben. Und dann flatterte wieder einmal aus dem Wirbel eine Broschüre, eine politische Sensation, die nicht nur deshalb der kaiserlichen Feder zugeschrieben wurde, weil sie sich namenlos gab, sondern wahrhaftig auch, weil sie tückisch war, weil sie mit höchst ehrerbietigen Worten und religiösen Zeichen, gleichsam das Kreuz schlagend, dem Patrimonium Petri die Kirchenstaatsglieder amputierte. Und dann schrieb Jupiter dem zürnenden Papst einen sehr schönen und sehr devoten Brief, der nicht gerade die Autorschaft am Pasquill, aber doch die Tatsache der italienischen Revolution anerkannte und den bedrohlichen Rat gab, Realpolitik zu treiben, also sich die Glieder amputieren zu lassen. Und dann zückte Pio Nono das Schwert der Enzyklika und zerhieb den verfilzten Knäuel der italienisch-römischen Frage, und es standen sich plötzlich zwei Feinde gegenüber: Katholizismus und Revolution, und mit diesem einen Schlag lief der grosse Schnitt über Italien hinaus ins neue Reich des alten Undankbaren von Spoleto. Und dann raunte Paris: der Kaiser ist wahnsinnig.
Das war schon zu Anfang des Jahres gewesen. Der Winterhimmel hing grau und niedrig über der Stadt mit dem merkwürdigen Druck von Verhängnis. Morny pflegte ziemlich früh aufzustehen, so spät er auch ins Bett kam. Für den, der mit der kostbaren Zeit immer geiziger werden musste, war es schon Verschwendung genug, fünf Stunden für den Schlaf auszugeben. Aber da er kein Freund der Hast und ein Feind des Stundenplanes war, blieb er lange im Schlafzimmer: so wurde das Lever schon wichtig bei ihm, wie einst im Dixhuitième, und das Schlafzimmer der Empfangsraum für die Intimen. Der Kammerdiener hatte die Vorhänge geöffnet und den Tag eingelassen. Der Tag war grau und gedrückt, Morny kannte seine Stadt und die Ahnung von Verhängnis, die manchmal rätselhaft über ihr hing. Er zog die Kordel seines Schlafrocks aus schwerer, schwarzer Seide enger, ihn fror. Er betrachtete sich im Spiegel, genau und mit strengem Gesicht. Dann, als sei es das Resultat der Prüfung, nahm er von den vier Flacons mit Silberpillen, die auf dem Toilettentisch standen, die dritte und schluckte zwei von den Kügelchen. Es kam die wichtigste Person des Haushaltes, der Küchenchef. Morny bestimmte an jedem Morgen die Speisenfolge des Tages, ob es ein gedrückter Tag war oder nicht, ob er Gäste hatte oder nicht. Morny liebte die Kochkunst, er verstand viel davon, er verstand allerlei, seine Küche war so berühmt wie seine Gemäldegalerie: aber er selber ass sehr wenig, er ass immer weniger. »Ich dachte mir, lieber Charles, ein Tässchen Schildkrötensuppe, dazu Tokayer, ein wenig Karpfenrogen in Sherry, und dann …«
»Vielleicht Wachtelbrüstchen en caisse, Exzellenz?«
»Gut, ja, ganz Leichtes, ein grauer Tag heute.«
»Forellen in Krebssauce.«
»Nein, nur Butter, dazu Johannisberger.«
Der Chef notierte mit überaus eiligem Bleistift; es sah aus, als zöge er nur flüchtige Striche. Er hob den rosigen Kopf. »Ist denn Majestät unpässlich, Monseigneur?«
»Nicht dass ich wüsste. Wieso?«
Der Chef schüttelte den Kopf. »Faisan rôti bardé …«
»Was schwätzt man denn wieder einmal, Charles?«
»Es ist schon etwas stark, Exzellenz, – der Kaiser sei sozusagen krank im Gemüt, durch die Enzyklika, nicht wahr?, er sei im Grunde doch eben fromm … – Ja also gebratenen Fasan, dazu vielleicht meine Trüffelpyramide, dazu welchen Wein, Exzellenz?«
»1819er Clos Vougeot«, sagte Morny nachdenklich und barg die Hände in die weiten Ärmel des Schlafrocks.
Zu den Intimen gehörte der erfolgreiche Theaterdirektor Offenbach. Bei der 228. Aufführung des »Orpheus«, Gala-Vorstellung in der italienischen Oper, war der Kaiser zugegen gewesen, und die Bronze-Figur, die am anderen Tag ein Hofbeamter als Kaiserdank für die »soirée éblouissante« überbrachte, schmückte jetzt einen der Salons der schönen neuen Villa »Orphée«. Der dürre Mann mit dem dunklen Backenbart und dem schwarzgeränderten Kneifer auf der grossen Nase, der glückliche und berühmte Mann, sehr nach der Mode gekleidet, war ein willkommener Gast gewesen, zumal an jenem grauen Tag. Denn er kam ja aus der bunten und tönenden Kulisse, die der Vicekaiser bekanntlich sehr liebte, nicht nur als Zuschauer. Und wenn er zumeist auch kam, um durch den hohen Herrn dies und das zu erreichen – wer von den vielen, die jeder Tag ins Palais Bourbon schwemmte, kam ohne ein Anliegen zu ihm, Morny? –, wenn der dünnwadige Musikmagier damals auch gekommen war (erinnerte er sich recht), damit ihm der Gönner den Auftrag zur Komposition irgend eines neuen Balletts für die Grosse Oper sichere, für die Emma Livry und die Taglioni und die Saint-Georges, kurz, damit der Musikant des Zeit-Inferno immer hoffähiger werde, so war er doch wiederum nicht einer von den vielen Bittstellern, die im Falle der Gewährung ihr Danke sagen, ihre Verbeugungen machen und dann gehen, – nun ja, dankbar und glücklich gehen. Herr Offenbach wusste zu kompensieren. Es gab da ja den charmanten, kleinen Ehrgeiz des grossen Herrn: nicht nur Theater zu schauen, nicht nur hinter die Kulissen zu schauen und die schöne Hortense Schneider, eine Künstlerin mit grosser Zukunft und von bereits vielgewürdigter Gegenwart, in ihrer Garderobe zu besuchen, sondern auch Theater zu machen. Man wusste bisher nur in den Hofkreisen, wer der Herr de Saint-Remy sei, der die entzückenden Szenchen, Comédies-proverbes, Charaden und Revuen für die Gelegenheitsbühnchen in den Tuilerien, in Saint Cloud, in Compiègne vor allem schrieb. Der kaiserliche Festdichter de Saint-Remy also war der Vicekaiser. Und da die Kreise des Hofes recht weit reichten und die literarischen Gehilfen des Herrn de Saint-Remy sowohl zum Sekretariat des Herrn de Morny als auch zur Textdichterei des Herrn Jacques Offenbach gehörten, ergab sich wie von ungefähr der respektvolle Vorschlag, ein Werk des viel zu unbekannten Dichters de Saint-Remy mit szenischer Hilfe der bewährten Libretto-Sekretäre und mit musikalischer Ausstattung des berühmten Komponisten Offenbach mittels der Bouffes der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Da haben doch Exzellenz kürzlich bei der Fürstin Narischkin – man weiss es durch den gemeinsamen Ludovic Halévy – einen ganz bezaubernden Einakter von Saint-Remy vorgelesen, eine Komödie vom neureichen Spiesser Blumenkohl oder so ähnlich …
»Monsieur Choufleury restera chez soi«, bekannte der Vicekaiser vergnügt, »ich werde Ihnen gelegentlich das Manuskript geben.«
Der Hexenmeister rieb sich die Hände, wie es seine Gewohnheit war, und sang mit seinem angenehmen Stimmchen: »Chou-fleu-ry – e-cis-h, c-h-a – das wäre schon ein Motivchen! Das wäre, das wäre! Und wenn dann für jeden, der Augen hat zu sehn, hinter der Charade Saint-Remy die beiden weltbekannten Namens-Silben sichtbar werden …«
»Darauf legte ich nun weniger Wert als Ihr Kassen-Rendant«, lachte Morny.
»Übrigens, mon cher prince«, meinte der Musiker und hielt den Kopf etwas schief, »was ist denn um Gotteswillen in den Tuilerien los? Sie wissen ja, ich bin Jupiter-Anbeter …«
»Was soll denn los sein«, antwortete der Vicekaiser unwillig, der Tag war wieder grau. »Wenn die öffentliche Meinung den armen Jupiter immer noch ins Inferno taucht, so ist es Ihre Schuld, Herr Orpheus.«
Und dann war die öffentliche Meinung eingetreten, Chefredakteur de Villemessant, auch einer von den Intimen, und er gehörte durchaus in die Szene, mit achtzehn Prozent bei dem Reingewinn der Bouffes beteiligt, mit unbekannten Prozenten bei der Glücksmacht Morny. Der schwere Mann hatte eine dröhnende Stimme: »O Dankbarkeit! O Dankbarkeit! Der »Univers« ist verboten, die liebe gute Empire-Säule eben noch, sie ist gestürzt! Und warum ist das Blatt verboten? Weil es den Text der Enzyklika brachte! Wie hübsch beginnt das neue Jahrzehnt, das uns doch ins Paradies bringen soll! Und wenn das für Euer Gnaden keine Neuigkeit sein sollte …« Er stockte, der Vicekaiser sagte kein Wort. Der Zeitungsmann strich sich den schweren Schnauzbart, unter dem kleinen Kinn hing viel Fett, er hatte kein Kaisergesicht, er sah aus wie ein Bierbrauer. »Maestro«, dröhnte er, »setzen Sie den »Orpheus« nicht vom Spielplan ab, die nächsten zehn Jahre … Es bleibt ja bei der Cancanpeitsche.«
»O nein«, sagte Morny ruhig.
Der Schnauzbart sah ihn an. »Aber die Polizei-Zensur schiesst ihre »Avertissements« gegen das kleinste katholische Blättchen, Exzellenz.«
»Schiessen Sie doch zurück, mein Lieber«, sagte Morny.
Der Chefredakteur lachte: »Nun, ich hätte da einen nagelneuen Scharfschützen – erinnern Sie sich an den Teufelskerl, der Ihnen in der Orpheus-Premiere vors Opernglas geriet, Monseigneur?«
»Da gab es eine wohlbestallte Hölle«, meinte Morny; aber er erinnerte sich gut.
»Rochefort!«
»Ach ja«, nickte Morny.
»Der Mann schreibt«, lachte der Dicke, »als sei er so wenig Graf, wie er es wahr haben will. Der Mann beisst auch mit Maulkorb. Aber ich habe ihn ja an der Leine, und wenn auch Euer Gnaden gnädigst über den Wolken …«
»Ja«, sagte Morny.
»A propos Wolken, Monseigneur, man sagt, die Geistlichen wollen in den Tuilerien keine Messe mehr lesen, und man sagt noch Schlimmeres …«
»Der Kaiser sei wahnsinnig geworden, nicht wahr?«, meinte Morny mürrisch. »Aber hoffentlich debütiert Herr Rochefort nicht mit diesem Wahnsinn, das wäre nicht ratsam.«
Um halbelf, gleich nachdem die Kinder dem Vater einen Gutentag gewünscht und ihre Bonbons bekommen hatten, unterbrach Graf Morny die Empfänge und befahl das Phaeton mit dem stadtbekannten Gespann, dem Schimmel und dem Rappen.
Der Kaiser war am Schreibtisch gewesen, schreibend, rauchend, hatte aufgesehen und dem Bruder unbefangen zugenickt. Er sah abgespannt aus, natürlich, er sah müde aus, die Kriegsfärbung der Haut war schon lange vergilbt: aber er sah nicht anders aus wie sonst, nicht kränker, nicht unruhiger. – Wie nur entstehen Gerüchte, solche Gerüchte?, fragte sich Morny, wollen sie ihn denn schon wahnsinnig haben und ganz am Ende? Der Kaiser legt die Feder hin. »Aber bitte nicht quälen, Morny«, sprach er freundlich.
»Sire, ganz im Gegenteil …«
»Was ist denn das Gegenteil, mein Freund?« Morny schwieg. »Glauben!«, rief der Kaiser, »so glaubt mir doch!«
»Ich glaube, Louis, dass Sie auf dem Weg sind, den Ihnen die Zeitbewegung gewiesen hat, und dass Sie auf dem Weg bleiben müssen, auch wenn er sich als steinig erweist. Ich glaube, dass Sie eine Nation, der Sie die Freiheitsgasse gebahnt haben, nicht zurückpfeifen können, selbst wenn Sie es wollten. Ich glaube, dass Pius die Ereignisse zeitwidrig, also unklug dramatisiert.«
Der Kaiser drückte die Finger gegen die Schläfen und flüsterte: »So glaubt mir doch lieber, dass ich leide!«
Es ist doch wieder so, staunte Morny für sich, wie damals mit dem roten Käppi: er spürt das Gefühl des Volkes besser als wir, er spürt jetzt sogar das Gerücht von seiner Gemütskrankheit. Man soll glauben, dass er leidet, dass er es furchtbar schwer hat, als christkatholischer Mensch den Kirchenstaat seinem Schicksal überlassen zu müssen. Das sollen die Frommen im Lande glauben, gewiss auch die fromme Kaiserin, alle, die jetzt unter der Enzyklika zusammenzucken (aber doch nicht schmerzlicher als er) und gegen ihn die Stimme und vielleicht auch die Faust erheben wollen. Die Indifferenten aber und die Feinde Roms sollen glauben, dass es keine Seelenfolter gibt, die ihn zwingen könnte, das Rad wieder rückwärts zu drehen. Gut und klug, – aber die Pressezensur lässt er wüten …
»Was ist der Kaiser?«, fragte der Kaiser wie im Selbstgespräch und zeigte einen Augenblick die schadhaften Zähne. »›Der Kaiser Napoleon ist nichts weiter als ein Lügner und Betrüger!‹ Das ist ein Zitat, Morny, das ist mit Anführungsstrichen gesprochen. So denken und sprechen viele; und wenn neulich unser Freund Walewski in seinem Entlassungsgesuch ein anderes Zitat, ein Times-Zitat unterbrachte, dass nämlich der Portier im Aussenministerium über die Politik des Kaisers ebenso gut oder ebenso schlecht unterrichtet sei wie der Aussenminister, dann mag doch das erste Zitat dabei schon Pate gestanden haben.« Er stand auf und ging durchs Zimmer, eine Hand auf dem Rücken. »Schade«, meinte er, »dass Sie das Aussenministerium nicht haben übernehmen wollen, mein Lieber; es wäre eine gewisse Beruhigung in Europa eingetreten, Sie würden so etwas wie den Sieg der Moral bedeutet haben; denn Sie gelten doch im In- und Ausland für gerade das Gegenteil …«
Was ist mit ihm heute?, fragte sich Morny, warum greift er mich plötzlich an? »Das Gegenteil wovon, Sire?«
»Von Lüge und Betrug natürlich«, antwortete der Kaiser freundlich und schritt am Schreibtisch vorbei zu seinem tiefen Sessel, – man konnte meinen, er ginge auf Socken, so leise waren seine Schuhe.
Meint er zum Teufel denn, dachte Morny und sah dem Bruder zu, wie er schlafsüchtig im Polster versank, – meint er denn, das Zitat stamme von mir? – »Meine Meinung ist, Sire«, sprach er etwas scharf, »dass Sie mit Herrn Thouvenel eine gute Wahl getroffen haben. Das ist ein gewandter Fachmann, weder so nervös noch so empfindlich wie sein Vorgänger, frei vor allem von privaten Imponderabilien oder Ponderabilien …«
»Du lieber Gott«, redete der Kaiser dazwischen und drückte, das Kinn hebend, den Kopf gegen die Rücklehne, »glaubt es mir, ich bin mit Pfeilen gespickt wie der heilige Sebastian, und der Splitter im Fleische achte ich kaum noch, und die Walewska gehört nur noch zu einer Gruppe von Splitterchen. Aber da ist wieder der Cavour mit dem vollen Köcher, Cavour redivivus, seit ein paar Tagen von neuem Ministerpräsident, wie Sie wissen, und er schiesst auf mich, immer nur auf mich, als gäbe es für ihn keine andere Zielscheibe, und er hat wieder sein Herz für die alte Allianz und Waffenbrüderschaft entdeckt, er preist mit einemmal sogar Villafranca, und in den Turiner Auslagen ist möglicherweise wieder mein Bild zu sehn statt des geköpften Nationalgespenstes, – aber, Morny, da ist auf jeden Fall noch ein anderes Bild, das Bild des immer berühmteren Mannes mit dem roten Hemd, und jetzt kommt die Genugtuung für mich, armen Sebastian, eine pfeilscharfe Schadenfreude sogar, darüber, lieber Freund, dass der Schütze Cavour selber angeschossen ist, vom grossen Cacciatore im roten Hemd, und dass er so gut weiss wie ich, was es heisst, den Dorn im Fleische zu haben; und wie vertreibt man nun den Teufel mit Beelzebub, Herr Präsident? Wissen Sie es schon und weiss es schon der zitierte Portier vom Aussenministerium? Wie dirigiert man Lawinen, Monsieur? Weiss es Ihre fachmännisch gewandte Dirigentenhand, oder schafft man es allein mit der Reformfreudigkeit?«
»Sire, wünschen Sie, dass ich zurücktrete?«
Der Kaiser fasste rechts und links in die weiche Armlehne und zog sich nach vorne. »Jeder hat seinen Jäger, Morny, von wem werden eigentlich Sie gejagt?«
»Von der Angst, Sie wissen es ja, Louis.«
»Ja, und wovon wollen Sie zurücktreten, vom Präsidium des Legislativkörpers?«
»Ich habe keine andere Funktion.«
»So. – Hören Sie, im Laufe des Jahres wird das Innenministerium neu zu besetzen sein. Wollen Sie?«
»Nein, Louis.«
»Warum nicht?«
»Meine Aufgabe hängt mit der Legislative zusammen.«
»Ihre Aufgabe, – das ist die Rückkehr zum Parlamentarismus?«
»In gewissem Sinne.«
»Das ist der Rettungsplan?«
»Wenn Sie es so nennen wollen.«
»Sie würden also vom Rettungsplan zurücktreten, wenn ich es wünsche, Morny?«
»Ja.«
Der Kaiser sah an ihm vorbei in die milchigen Augen der Hortense aus Stein. »Was wissen Sie«, sprach er leise, »was ich mir im Herzen wünsche, – was weiss ich, was Ihr Herz sich wünscht? Vielleicht wünschen Sie sich, dass ich zurücktrete und meinen Platz Ihnen, dem Reichsverweser, überlasse, bis das Kind so weit ist, – vielleicht wünsche ich es mir selber …«
»Louis!«, rief Morny, »das ist ja Wahnsinn!«, und dann erst erschrak er über das Wort.
»Wahnsinn ist anders«, meinte der Kaiser, kopfschüttelnd. »Resignation ist doch nicht Wahnsinn. Doch lassen wir das, ich resigniere ja nicht, noch lange nicht. Vielleicht sind Sie mir nur ein anderer Dorn im Fleische, Morny, tief genug, um ständig an die Reform denken zu müssen. – Ja, ja, meine Denkzettel sind alle nadelspitz …« Er liess sich los und sackte wieder nach hinten zusammen. Seine Augensäcke waren heute prall geschwollen.
Er ist doch wohl krank im Gemüt, dachte Morny; aber wie weiss es denn nur schon die Strasse? Er schwieg, er fühlte, dass er nicht zu reden, nicht zu überreden brauchte; denn Sebastian war sehr klug.
Der Kaiser strich mit zwei Fingern die Stirn entlang, immerzu. »Wie war es doch?«, flüsterte er, »ja, ja – ›der Kaiser Napoleon ist nichts weiter als ein Lügner und Betrüger‹«: das Zitat stammt vom Heiligen Vater, es ist authentisch, es ist keineswegs nur gedacht oder im Selbstgespräch geäussert, o nein, ziemlich viele haben es hören können. Aber es kommt mir nicht auf die Zuhörer an, sondern nur auf den Spruchrichter. Pius hat es gesagt, – glaubts mir, es tut mir sehr weh. Und dann sprach er noch von der Stunde des Gerichts und von Gottes Schwert, dass bereit sei, mich durch die Hand der Menschen zu treffen. Ach, der Pfeile sind noch zu wenig, Lug und Trug machen eine dicke Haut, nicht wahr?, da genügen Pfeile nicht, da muss das Richtschwert her, um zum Ende zu kommen …«
Man sollte wirklich Mitleid mit ihm haben, dachte Morny, das alles kommt ja von der alten Dankbarkeit; aber niemand hat sie ihm so recht geglaubt, er selber sorgte doch dafür, sie politisch, also verdächtig zu machen, und das tut er meistens mit den Gefühlen, sofern er sie zeigt; wer wird also Mitleid mit ihm haben? – Der Vicekaiser gelangte nur bis zur Frage, aber nicht bis zum Mitleid; denn er war schon sonderbar abgedichtet gegen den Bruder, nicht aus Herzenshärte, gewiss nicht, noch weniger aus Misstrauen, sondern einfach aus einem Konzentrationsbedürfnis. An diesem Vormittag unter grauem Himmel und grauen Gerüchten begann die grosse Aufgabe, die unabweisbare.
»Sie sind zum mindesten nicht neugierig, Morny«, kam es wieder aus dem Sessel, zugleich müde und hartnäckig. »Es ist merkwürdig: ihr schreit Zeter und Mordio über meine ministerlose Politik, ihr schreit immer nach klarem Wein: aber wenn es euch in euer Konzept passt, dann seid ihr ganz zufrieden mit dem halben Wissen. In Ihr neuliberales Konzept passt es, dass ich auf der italienischen Nationalstrasse bleibe, und den römischen Dorn im Fleische, den Pius-Schmerz, rubrizieren Sie einfach unter das Pius-Zitat …«
»Das ist falsch, Louis.«
»Also gut, dann überhören Sie es oder unterschätzen Sie es. Aber seien Sie doch wenigstens neugierig, wie es jetzt weiter gehen soll. Denn Lawinen kann man viel schwerer lenken, als den Teufel mit Beelzebub vertreiben. So denkt wenigstens Herr Cavour, ein grosser Rechner. Und seine Revolutionssumme soll doch Ihre Parlamentsrechnung fett machen, kalkuliere ich.« –
»Louis, glauben Sie mir, es ist für mich von entscheidender Wichtigkeit, dass Sie an die notwendigen Reformen nicht mit Widerwillen herangehen.«
»Mit Widerwillen?«, fragte der Kaiser zurück und lachte durch die Nase. »Kenne ich überhaupt Widerwillen? So hören Sie doch! Wenn ich im Laufe dieses Frühlings die Annexion Mittelitaliens durch Cavour gutheisse, also gegen mein eigenes Villafranca verstosse, dann bezahlt uns der Waffenbruder sozusagen in bar, nämlich mit Savoyen und Nizza, was wir in Villafranca aus Anstand nicht erwähnten. Es bleibt mir garnichts anderes übrig, als gutzuheissen, und Geschäft ist Geschäft. Aber ich sehe ja weiter, und Cavour sieht es auch, und die Revolution ist noch viel weiter, als wir beide im Augenblick zu sehen wagen. Und was dann? Dann ist es kein Geschäft mehr, sondern Lawinenfall, vielleicht gar ein Wettlauf von zwei Lawinen, einer königsnationalen und einer volksrevolutionären, – erinnern Sie sich an dieses Gleichnis, mein Lieber. Und uns bleibt wieder nichts anderes übrig, als gutzuheissen, ganz ohne Entgelt, und dann werde ich, aus politischem Zwang, immer gleichzeitig Ja und Nein sagen, laut Ja und leise Nein, laut Nein und leise Ja, und der Heilige Vater wird recht haben mit dem zitierten Verdikt und unrecht gegen die Zeit, und ich werde recht haben mit der Zeit und dennoch ewig im Unrecht stehen – wenn ich es durchhalte, Morny, wenn ich es aushalte! – und ich will noch in diesem Jahr die Verbindung zwischen der Legislative und dem Land wieder herstellen, also die parlamentarische Kontrolle, – machen Sie mir Vorschläge, Herr Präsident –: aber ich werde um nichts in der Welt die Kontrolle der öffentlichen Meinung lockern, also die Pressezensur, Herr Präsident, – ja, und jede Zeitung, die den Wortlaut der Enzyklika bringt, wird verboten …« Der Kaiser sprach immer lauter, ganz gegen seine Gewohnheit; und jetzt, nach einer Pause, die der laute Atem durchsichelte, schrie er, heiser wie Eugenie, mit den Fäusten dumpf auf die Armrolle schlagend: »Aber ich lasse ihn nicht nach Rom!«
Dieser graue und gemütskranke, letzte Januartag des vorigen Jahres also war der Anfang gewesen, und Morny, zugleich autorisiert und unerwünscht, brüderlich und kalt entschlossen, hatte mit der Planarbeit begonnen; aber dieses vorige Jahr, das erste des neuen Dezenniums, war nicht grau und nicht gemütskrank, sondern rot und robust, angetan mit dem roten Hemd Garibaldis, und es lief unter ihm und mit den Tausend seiner Rothemden zur Mai-Korsarenfahrt aus und tauchte rot wie ein Feuerball in Sizilien auf: die zweite Revolutionslawine, ohne König, Minister, Kabinettspolitik und Allianzen, ja, ohne Europa, zeitlos und unglaubhaft wie eine Heldensage, rollte über die Insel vom Süden her in den Stiefel Europas, drang durch die Fusspitze das Bein hinauf nach Europa, wie eine Blutvergiftung, jammerten die Kabinette der alten Mächte, wie neues, junges Blut, jubelte die potentielle Aufruhr-Internationale, und voran ritt der rote Mann, Volksheld und schon Diktator. – Das ist das Wunder der Zeit!, jubelte der Journalist Rochefort, das ist die Antwort der Zeit gegen Verführer, Vernebler, Wortbrecher und Spekulanten, so kratzt sie sich, wenn man sie tückisch kitzelt, – aber darüber durfte er nicht schreiben. Auch der tätige Morny betrachtete das grossartige Volksstück, mit dem das Jahrzehnt die Zeitbühne eröffnete, nicht missfällig und hatte dazu seine Gründe, und er dachte oft an die gemütskranke Prophetie des Nebelbruders. Freute sich der Kaiser über den roten Dorn im Fleische Cavours? Denkt er auch nur daran, die Mittelmeerflotte nach Neapel zu schicken, um ein vorsintflutliches Königreich vor der roten Welle zu retten? Woran denkt er, der heimliche Schiedsrichter, nein, der heimliche Wegmacher im Wettlauf der Revolutionen? Nur an Pio Nono, der gegen die Springfluten den Kirchenbann schleudert und sie dadurch doch nicht aufhalten wird? Aber kann Rom, darf Rom das Ziel sein, ist es für das savoyische Kreuz nicht schon unleidlich, wenn der rote Mann wie ein Halbgott über Neapel kommt? Da ist doch die Nord- und Hauptlawine mit dem populären König, dem berühmten Premier und der regulären Armee. Was geschieht jetzt? Morny weiss: er lässt ihn nicht nach Rom, mehr weiss er nicht. Weiss der Kaiser mehr? Während er im üppigen Sommer durch Savoyen zieht, ein Mehrer des Reichs, wie es auch sei, sind zwei Abgesandte des Dämons auf dem Weg zu ihm. Eine Mondnacht versilbert den See von Annecy, das Ufer ist illuminiert, zahllose Boote leuchten in Blauweissrot, auf den Bergen brennen Freudenfeuer, und über das Wasser gleitet die Märchengondel mit dem Kaiser und der schönsten Kaiserin, die Gondel ist mit grünem Samt ausgeschlagen, Dach und Behänge sind weiss und gold und tragen goldene Adler, das goldene N, das goldene E, über die Silberwellchen hüpft die Hortense-Melodie: »Partant pour la Syrie«; unter den Ehrenpassagieren sind die beiden Abgesandten. Und dann folgt das Gespräch mit dem Kaiser, dem niemand sonst beiwohnt. Und dann folgt der Völkerrechtsbruch. Die Nord-Lawine kommt ins Rollen, fällt über die Marken und Umbrien, reisst sofort den rechten Flügel mit scharfem Schwung von Orvieto nach Osten, um ja nicht Rom zu nahe zu kommen, zerdrückt den jämmerlichen Haufen der Pontifikalarmee wie Strohhalme und hält schon in Ancona: der Weg nach Neapel ist frei, die europäischen Kabinette protestieren in grossem Chor, auch der französische Aussenminister entrüstet sich im Namen des Kaisers und brandmarkt für ihn die Politik Piemonts, – aber kein Soldat der französischen Besatzung von Rom hat die Garnison verlassen, um der kleinen Papstarmee beizustehen, und der Kaiser ist schweigsam und ohne Verzug nach Algerien gefahren, weit weg von fragewütigen Ministern, und Morny lächelt. In Capua treffen die beiden Revolutionen zusammen, der König und der rote Mann reichen sich die Hände – »Sei mir gegrüsst, König von Italien!« – »Seien Sie mir gegrüsst, bester meiner Freunde!« –, und die grosse Nord- und Haupt-Lawine verschluckt die kleine Süd- und Sagen-Lawine im Nu.