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Das Garibaldijahr wehte scharf durch das Imperium, und nicht allein der Kaiser hatte das Segel nach dem Wind gerichtet. Der Kammerpräsident Morny tat es auch und er tat es anders, er tat es deutlicher, – und dadurch schon unterschied er sich vom Nebelbruder, ja, dadurch trat er fast in Gegensatz zu ihm. Die Mitglieder seines artigen Orchesters, durch die kleine Kammermusik eines ganzen Jahrzehnts dennoch nicht um das musikalische Gefühl für die aufregende und aufrüttelnde Heroica gebracht, die aus dem Süden wehte, bemerkten mit steigender Lust, dass der berühmte Dirigent die neuen und frischen Töne der Zeit hörte wie sie und nicht herrisch abklopfte, nicht die Türen und Türritzen verschloss und abdichtete, um die alten sanften Etüden und Paraphrasen zum autoritären Thema weiter spielen zu lassen: nein, dass er die junge Melodie in den alten Königsbau liess. Er leugnete nicht den Garibaldi-Wind, der die Köpfe frisch machte, mehr noch, der sie aufsässig machte und die Augen aufriss, die angstverklebten Augen des Volksvertreters, der nicht sehen durfte, was die Diktatur zu sehen nicht gestattete. Jetzt plötzlich sahen sie, bei irgend einer Departementswahl, den ungeheuren und unerlaubten Druck des autoritären Apparates zu Gunsten der Regierungskandidaten, die altgewohnte und gelittene Übung doch, und verweigerten die Ratifizierung. Und der Präsident, der Vicekaiser, der Bruder der höchsten Gewalt, vergewaltigte sie nicht mit einem Machtwort, mit einem Scherzwort, mit verweisendem Klopfen des Dirigentenstabes: nein, er gab ihnen recht, wahrhaftig, er ermutigte sie in ihrer Verantwortung vor dem Volk. Erfüllt sich die alte Ahnung, die alte Hoffnung auf dieses immer wachere, immer deutlichere Gesicht des neuen Reichs? Hat dort auf dem erhobenen Stuhl der glänzende und sichere Mann, der die Existenz des Hauses doch nicht allein in ihrer Kümmerlichkeit erhielt, sondern auch in ihrer leisen Würde verteidigte, solange er Präsident ist, nicht nur auf den Ruf der Zeit gewartet, um laut und gewichtig die Antwort zu geben, die der bewölkte Kaiser verschluckt? Ja, der Präsident nannte jetzt den Wind, der schön und ungestüm durch das Land wehte, beim Namen: Erneuerung. Er warf mit seinem alten Gleichmut und seiner alten Eleganz, ohne Pathos, ohne Rhetorik, ohne Gestikulation dem Gesetzgebenden Körper das Zeitpostulat zu: Verjüngung des Reichs. So sachte und klug formulierte er die Umformung der Diktatur; denn der Weg, wusste er, war lang und durfte nicht stürmisch werden, und es war nicht die politische Freiheit, die er ankündigte, sondern die bürgerliche Freiheit, ein feiner mornyscher Unterschied und ein anmutiger Wink, die alte Gesittung und artige Zusammenarbeit zwischen Orchester und Dirigenten aufrecht zu erhalten, auf dass ihm, Morny, die neue Partitur nicht zu schwierig werde. Als das Heldenlied vom roten Mann bei Capua abbrach oder aufging in die Königshymne, wurde er noch deutlicher: er bedenke gewisse, für die neue Bedeutung der Kammer ebenso wichtige wie günstige Regelungen und Modifikationen; aber um zum Ziel zu kommen – und jetzt wandte er sich an die Fünf der republikanischen Opposition –, um erreichen zu können, was ihm als erste Etappe der Erneuerung und Verjüngung vorschwebe, sei Massigkeit nötig, meine Herren von der Linken, und nichts gefährlicher, als das Resultat, auf das er hinarbeite, durch unzeitige Ausbrüche des Gefühls, der Sympathie oder der Antipathie zu kompromittieren. Oh, er war ein kluger Dirigent, auch als Reformator. Die Kammersession des robusten Jahres verlief in disziplinierter Hoffnungsfreudigkeit.
Wenn sich der Präsident an die Fünf wandte, suchte sein Blick nicht das Löwenhaupt des hochberühmten Orsini-Anwalts, sondern das junge, bebrillte, leicht reizbare und dennoch gutgläubige Schulmeister-Gesicht neben ihm, das Ideologengesicht mit dem breiten, weichen Mund und dem runden, weichen Kinn, einen sozusagen schüchternen Draufgänger, einen äusserst schnell in Schwung kommenden, geradezu stürmischen, zugleich doch stets über sich selber leicht verlegenen Geist. Der Präsident war ein Menschenkenner, und wie nur je ein erfahrener Anatom kannte er Bau und Gliederung seines Gesetzgebenden Körpers. Dieser Oppositions-Magister zum Beispiel, dieser leidenschaftliche und gehemmte, begabte, aber nicht feste, nicht einmal über das Rhetorische hinaus geschickte, möglicherweise recht ehrgeizige und hinter aller Intelligenz und Dialektik doch herzensreine, gar einfältige Abgeordnete Emile Ollivier, fünfunddreissig Jahre alt, interessierte ihn schon lange. Zu ihm also sprach er gerne hin, wenn er sich von den fünf Aussenseitern des Orchesters das artige Mitspiel ausbedang, nun ja, das einfachste Gebot der Klugheit, um zu den nun schon berühmten »Modifikationen« zu gelangen. An ihn auch wandte er sich hier und da während der Sitzungspausen im Vestibül auf seine gewinnende oder schon unwiderstehliche Art, nicht mehr Präsident, sondern Hausherr, und es ergaben sich wie von ungefähr kleine, liebenswürdig freimütige Gespräche.
»Was würden Sie sich denn von den Modifikationen wünschen, lieber Kollege?«
»Dass wir sprechen können, Exzellenz.«
»Wie bescheiden!«, lächelte Morny.
Das Garibaldi-Jahr ging zur Neige, der mythische Wind erstarb, Hoffnungen hatten sich erfüllt, Hoffnungen sanken unter, der rote Mann, nach getaner Schuldigkeit entlassen, nach sechs Monaten Diktatur und schon legendärer Volksherrschaft mit vier Talern, einem Stück Brot, einem Stück Käse, einem Sack Mehl, kehrte in sein Felsennest zurück, grossartig arm und zornig; der Heilige Vater sass auf dem beraubten Stuhle Petri, das Gesicht so weiss wie das Kleid, in heiliger Hartnäckigkeit, doch beschützt von den Soldaten des Lügners und Betrügers; der Sieger Cavour trug Pfeile im Fleisch, den Fluch der Kirche und den Fluch des roten Mannes, – was tat es dem robusten Sebastian? Mehr als man dachte; denn er sah damals schon, in manchen Nächten zumal, einen anderen Jäger, den grossen Jäger, und in seinem Köcher den Pfeil für den Herzschuss. – Und sein Freund, sein Feind, sein Helfer, sein Bremser, Mitsieger und Mitdulder, Sebastian mit dem durchpfeilten Gemüt: der Kaiser unterschrieb das Dekret vom 24. November, das Morny-Dekret, die neue Partitur.
So war, man nehme alles in allem, der Vicekaiser der Sieger des Korsarenjahres, der einzige, der ohne Fluch und Leid erreichte, was er wollte, uneigennützig fast wie der rote Mann, ein wenig herzenshart zum willfährigen, aber nicht glücklichen, nicht einmal mehr freundlichen Bruder Kaiser: doch man weiss ja, Morny war eher kalt als warm, ein liebloser Zeitliebling, und was den grossen Jäger betraf, der nun sogar den Scharfschützen Cavour anging: Morny dachte jetzt nicht mehr an ihn, er fühlte jetzt nicht mehr die Sonde (aber der Kaiser fühlte sie und schonte sich doch nicht und verschwendete sich, ein trauernebliger Jupiter, an eine kleine Pariser Lorette, Lilith der Studentenbälle, die er auf einer Bank im Bois entdeckte), Morny glaubte an das Leben wie noch nie; denn es gab noch viel zu tun. Doch was er in diesem Jahr erreichte, war schon bedeutend: was er bescheiden und fast spöttisch als »Modifikationen« bezeichnete, war nicht mehr und nicht weniger als die Befreiung der Legislative aus der Staatsstreich-Isolierung und ihre Restitution als kontrollierendes Parlament. Das Novemberdekret, Vorweihnachtsgeschenk an die artige Versammlung, stellte den alten Brauch der parlamentarischen Monarchie wieder her: die »Adresse« der Volksvertretungen, auch des Senats, als Antwort auf die Thronrede zu Anfang jeder Session. Das bedeutete viel, das bedeutete die Diskussion, also die Kritik der gesamten Innen- und Aussenpolitik, das bedeutete das Interpellationsrecht, das war die Brücke, auf welcher Meinung und Wunsch des Volkes, wenigstens einmal im Jahr, bis zum Thron gelangen konnten. Aber das war noch nicht alles. Der Dirigent machte Schluss mit der eigenen Komposition der Salonstücke, mit der anti-rhetorischen Unterhaltung, die dann als langweiliges und unlesliches Protokoll in die Zeitung kam. Der reformierende Präsident liess nicht nur wieder die grosse Beredsamkeit zu, sondern liess sie auch aus dem Sitzungssaal hinaus ins Freie wirken: das Dekret führte die stenographische Wiedergabe der Debatten ein, das Volk vernahm wieder das grosse und geliebte Wort. Und so wichtig und ansehnlich und wahrhaft gesetzgebend wurde plötzlich wieder der Körper, dass nicht mehr einfache Staatsräte für die Regierungsrepräsentation genügten, sondern dass Minister ohne Portefeuille ernannt wurden, die ohne jede administrative Belastung, nur als Fürsprecher der Regierung dem Parlament Rede und Antwort zu stehen hatten. Zu ihnen gehörte der bisherige Innenminister.
»Und wen jetzt als Innenminister?«, hatte der Kaiser gefragt, die willfährige Feder in der störrischen Hand, und er schien gegen den Schlaf zu kämpfen, »die Zeit für Generäle ist doch vorbei.«
»Ja«, nickte Morny, »die Zeit für getreue Eckarte ist gekommen.«
»Also wen, Monsieur, da Sie sich doch augenscheinlich nicht für einen getreuen Eckart halten?«
»Persigny, den Expropheten.«
»Mein Gott!« stöhnte der Kaiser, »ich vertrage nicht mehr Blechmusik, das war einmal, ich vertrage nicht einmal mehr knarrende Stiefel, – Ihre Stiefel zum Beispiel knarren, Herr Präsident. Und warum empfehlen ausgerechnet Sie Ihren alten Widersacher, den alten Schreier?«
»Als Gegengewicht zu mir, Louis, als Kontrapunkt der napoleonischen Idee, auf die ich ja nicht soviel gebe.«
»Nicht übel«, sagte der Kaiser, und durch seine grosse Nase gluckste ein kleines Lachen, in Rauch gewickelt, »garnicht übel! – Aber seine fatale Frau, seine höchst fatale Lady … – Sie bekommen übrigens im Gesicht etwas von Richelieu, mein lieber Reichsverweser. Ich muss Sie doch bald zum Herzog machen, wenigstens.«
»Warum sind Sie nicht zufrieden, Louis, Sie tun sich selber unrecht, nicht mir.«
»Wie falsch!«, rief der Kaiser, plötzlich wach, »Morny, wie falsch! Das ist es ja, ich bin zufrieden! Ich weiss nicht, ob es der Anfang oder das Ende ist, und bin zufrieden, wie es auch sei!«
»Es ist der Anfang«, sagte Morny gereizt, »das wenigstens muss man wissen.«
Der Sieger Morny wusste es. Es war noch ein langer Weg zu gehn. Man hat keinen Weg vor sich, wenn man am Ende ist. Und wenn der Kaiser am Ende ist? – Ich lebe, antwortete sich der Vicekaiser, ich lebe, ich lebe! Er traf ganz zufällig am 25. November vor dem Torgitter des Palais Bourbon seinen Oppositions-Magister Emile Ollivier. »Ich hoffe, lieber Kollege, Sie sind zufrieden.«
Der junge Abgeordnete blitzte ihn durch die Brille an, kühn und befangen: »Ich bin zufrieden, Exzellenz, aber …«
»Aber?«
»Ich darf etwas hinzufügen, Herr Präsident.«
»Sie dürfen ja jetzt reden, Herr Ollivier«, lächelte Morny, »wie Sie es sich gewünscht haben.«
»Gut, dann darf ich hinzufügen, Herr Graf: jetzt sind Sie verloren oder gesichert.«
»Wenn das ein Ende ist, sind Sie verloren. Wenn das ein Anfang ist, sind Sie gesichert.«
Der Sieger stockte einen Augenblick, dann sagte er: »Es ist der Anfang, das wenigstens muss man wissen«, und er lächelte dabei wieder, auf seine überlegene Art.
Die Tambours trommelten durch das Palais Bourbon, die militärische Ehrengasse vom Vestibül zum Sitzungssaal stand stramm, das Orchester nahm Haltung an, Morny trat auf. Das war geblieben. Morny sass auf dem Präsidentenstuhl, dezent, liebenswürdig, ein wenig lässig, zumeist das Einglas im Auge, seltener den schwarzbebänderten Zwicker auf der Nase, und sein Schädel leuchtete vor Nacktheit. Vieles und Bedeutendes hatte sich ja geändert; doch der Vicekaiser trat auf wie gewohnt, und blieb, wie er war. Er konnte es sich leisten.
Die Session dieses Frühjahrs 61, die erste also im Zeichen der November-Reform, die erste »Adresse« des Parlaments auf die noble, kluge, merkwürdig selbstbewusste Thronrede, hatte schon mit einer Sensation im anderen königlichen Bau, im Luxembourg-Palast begonnen, im Senat, der noch friedlicher, leiser und windstiller gewesen war als die Legislative. Es war eine politische, gesellschaftliche und oratorische Sensation gewesen; denn der Mann, der dort gegen die recht kühne legitimistische und klerikale Opposition aufstand und donnerte, war Plonplon, kaiserlicher Prinz und Revolutionsagent. Der Lebenswüterich tobte mehr als drei Stunden gegen die Reaktion, gegen Rom, gegen die Bourbonen, gegen Österreich, gegen lebende und tote, militante und verbannte und besiegte Gegner der kaiserlichen Politik. Sein mächtiges Gesicht, vergröbert und verwildert vom grossen Kaiser übernommen, stand zugleich cäsarisch und aufrührerisch über dem betäubten Saal, seine starke Stimme hämmerte hemmungslos die neue politische Melodie in die Pairsohren, den Sieg des Neuen und Bewegten über das Alte und Starre, den Sieg des völkischen Rechts über das angeblich göttliche, den Sieg des neuen Italien über die Kristallisation des Mittelalters: Rom. – Aber Rom steht doch unter dem Schutz französischer Truppen! Ist das noch eine Apologie des Kaisers, dem er eben mit viel zu heftigen Worten Bewunderung und Treue schwor, oder schon das Manifest der internationalen Revolution? Der Saal blieb ganz still: eine solche rabiate Beredsamkeit hatte er seit 48 nicht wieder gehört, seitdem hier Louis Blanc der »commission du travail« präsidierte. Rochefort in der Journalistenloge dachte: wenn er nicht Bonaparte hiesse … Persigny auf der Ministerbank dachte: Frankreich hat einen grossen Redner mehr, und dieser Redner ist ein Napoleon, – und dieser Gedanke war so trefflich formuliert, dass ihn das Innenministerium sofort nach der Sitzung als Regierungskommentar ins Land telegraphieren konnte. Der Präsident der Legislative, als Zuhörer in der Diplomatenloge, lächelte vergnügt und gehörte doch gewiss nicht zu den Freunden des Palais Royal. Und Cavour wird aus Turin an den wilden Prinzen schreiben: »Die Rede Eurer Hoheit ist für die weltliche Macht des Papstes das, was Solferino für die österreichische Herrschaft gewesen ist.«
Es kam schon nicht mehr darauf an, ob die Plonplon-Posaune das Gemäuer der klerikal-reaktionären Opposition umwarf – sie tat es nicht; denn bei einer Amendement-Abstimmung zugunsten Roms betrug die Gruppe der Papst-Apologeten über vierzig Prozent der Votanten –, nicht einmal, ob die Posaune gar Stücke der kaiserlichen Politik niederlegte – die Tuilerien blieben stumm oder waren gar sprachlos –: es kam darauf an, dass sich nach zehn Jahren Schweigen eine gewaltige Stimme erhob, eine barbarische zwar, aber eine beredsame. Die wieder zugelassene Eloquenz, wie eine Rakete sogar im nicht ganz gemässen Luxembourg aufsteigend, soll jetzt als grossartiges Feuerwerk dort losgehen, wo sie nach Herkommen und Können hingehörte: in der Meisterklasse der Rhetoren, in der Kammer. Mit einemmal zeigte sich, was man hoffentlich nicht vergessen hatte: dass das Kammerorchester aus lauter Solisten bestand, aus lauter Virtuosen, die sich nur aus Zwang in ein kollektives Responsorium verwandelt hatten. Und der Dirigent tat nicht nur mit: er war ja der Befreier aus der Gemeinschaftshaft, der Erlöser aus dem Unisono der lauen, ewigen Etüde. Das war ja das eigentliche Reform-Wunder; man sah es ihm nur nicht an. Er kam wie immer zu seinem hohen Amt, er sass wie immer auf seinem hohen Stuhl, vicekaiserlich, und hörte sich die virtuosen und überaus kühnen Solistennummern seiner Musiker an wie einst ihr gedämpftes Zusammenspiel. Er pflegte schon immer den Taktstock mit äusserster Dezenz zu führen, es gibt ja ausserdem das hübsche Vertrauen des Dirigenten zum Solisten, das dem Maestro erlaubt, den Taktstock aufs Pult zu legen, die Hände auf den Rücken, und nur hin und wieder ein wenig mit dem Kopf zu nicken. Vielleicht tut es Morny so, – nun, er nickte nicht einmal mit dem Kopf; vielleicht taktiert er doch unsichtbar: man war sich im Zweifel. Man beobachtete ihn scharf, aber ehrfürchtig und manchmal ängstlich, während sich die entfesselten Meister produzierten. Dirigiert er?
Das Haus hielt den Atem an. Da stand seit einiger Zeit auf der Rednertribüne ein noch junger Mann, Abgeordneter des Oberrhein, Katholik, und befasste sich mit der Aussenpolitik. Da er kaum bekannt war, also nicht zur ersten Redner-Garnitur gehörte, nicht zu den Grossmeistern, von seiner Partei unverständlicherweise nach einem alten flämisch-katholischen Kämpen und der ganz vorzüglichen Antwort des berühmten Regierungsadvokaten, jetzt Staatsminister, ins Treffen geschickt, war man zunächst nicht gerade aufmerksam. Der Elsässer sprach mit ruhiger, merkwürdig gleichmässiger und unerbittlicher Stimme. Er resümierte das vergangene Jahr, das Korsarenjahr, mit Genauigkeit, Klarheit und Kälte. Der stählerne Ton zog die Aufmerksamkeit auf sich. Er sprach von jener geheimnisvollen Zusammenkunft nach dem Nachtfest auf dem See von Annecy, – das war etwas, wovon man eigentlich nicht sprechen durfte: es war, als schnitte ein Chirurg mit dem Messer in eine Geschwulst. Der Saal zuckte zusammen und sah auf den Präsidenten. Morny hörte aufmerksam zu. Der Elsässer sprach vom Einfall in die Marken, dem Völkerrechtsbruch. Er hob die Stimme: man hätte Piemont zum Halten bringen können, man hätte es nur zu wollen brauchen. Er hob den Kopf: Frankreich habe seine Politik geändert, Frankreich sei zurückgewichen: nicht vor dem kleinen Piemont, nicht vor England, sondern vor einer Macht, deren Programm, in einem berühmten Dokument verzeichnet, an einem gewissen Tag im »Moniteur« zu lesen war. Das Haus erstarrte: der Elsässer nahm eine Zeitung vom Pult, – wahrhaftig, er las das Testament Orsinis vor, laut, klar, kalt, er zog den abgeschlagenen Kopf an den Haaren herbei, als Kronzeugen, als Gorgonenhaupt, er hielt es hoch, das Haus sah es mit eisigem Rücken, er rief mit erhobener Hand: »Vor der Revolution, fleischgeworden in Orsini, ja, vor der Revolution ist Frankreich zurückgewichen!« War es erhört? Ist solche Kühnheit erlaubt? Das Haus hielt den Atem an. – Morny hörte aufmerksam zu, die Hand streichelte das Kinnbärtchen. – Selbst der Elsässer hatte einen Augenblick geschwiegen, als wartete er, dass der Blitz in ihn einschlüge. Es blitzte nicht, die Präsidentenglocke läutete nicht, der Taktstock klopfte nicht ans Holz: die Kühnheit war erlaubt, mehr noch, sie war ermuntert. Der Redner sprach weiter, laut, klar, kalt. »Wir sind keine österreichischen Soldaten unter dem Mantel der Religion! Der Streit geht zwischen dem katholischen Glauben und dem revolutionären Glauben! Frankreich war echt revolutionär in der Grossen Revolution, echt erobernd unter dem Ersten Kaiserreich, echt konservativ 48 und 49!« – Und jetzt, wen griff jetzt der Elsässer mit der direkten Frage an? – »Aber ihr, die ihr die Unklugheit habt, diese Arena wieder zu eröffnen, ohne ihre Auswirkung zu ermessen, wer seid ihr, was wollt ihr sein? Seid ihr revolutionär? Seid ihr konservativ? Oder seid ihr einfach nur Schlachtenbummler? Bisher seid ihr weder das eine noch das andere gewesen; denn ihr seid vor Garibaldi zurückgewichen und nanntet euch gleichzeitig seinen grössten Feind; denn ihr schicktet gleichzeitig Piemont wirksame Hilfe und Scharpie dem König von Neapel; denn ihr schriebet auf den selben Seiten von der Unverletzbarkeit des Heiligen Vaters und von der Absetzung des Heiligen Vaters. Sagt endlich doch, wer ihr seid, die Ordnung oder die Revolution?« – Wer ist gefragt worden, so wie noch nie seit Bestehen des Kaiserreichs: der Kaiser, der Vicekaiser? Morny schob die Hände unter die Achsel, das war alles. Vielleicht schlug er auch hinter dem majestätischen Bollwerk des Würdensitzes die Beine übereinander: das konnte man nicht sehen. Aber der berühmte Regierungsanwalt und neue Staatsminister sprang auf, schon ging seine kahle Stirn und sein kahles Gesicht, vom dunklen Backenbart verklammert, über dem Rednerpult auf, schon stand er vor dem Kaiser und unter dem Vicekaiser und zog mit grossmeisterlicher Beredsamkeit noch einmal nach Magenta und Solferino. Das Haus klatschte seinen aufgeregten Beifall, aber es hatte auch dem tollkühnen Elsässer applaudiert: es lobte jeden seiner Solisten, aus Kunstbegeisterung. Doch eben, als der Minister zum grossen Gegenangriff ausholte und über das wildbewegte Haus sah, über den Aufruhr, den der Gegner entfachte, hatte er gerufen: »Welchen Weg haben wir seit acht Tagen gemacht!« Und dazu lächelte Morny oben auf dem bedeutsamen Stuhl, das sahen alle, und alle klatschten, selbst die Fünf.
Morny ist im Geschäft!, dachte der Teufelskerl auf der Journalistentribüne, das wäre meine Antwort an den elsässischen Ekstatiker; aber dann würden sie nicht klatschen, die befreiten Sklaven, die schon wieder Verkauften … Ach, wenn ich doch schreiben dürfte, wie sie reden zu können vermeinen!
Das grossartige und lang entbehrte Hörspiel der Beredsamkeit wurde die Sensation von Paris. An jedem dieser märzlichen Debatte-Tage drängte sich das Publikum in den Königsbau.
»Jeden Tag ausverkauft!«, stöhnte Theaterdirektor Offenbach während des vicekaiserlichen Levers, »selbst ich beneide Eure Exzellenz, meinen hochverehrten Kollegen!« Morny lächelte, auch Chefredakteur de Villemessant. Der Strassenverkauf der Zeitungen, der nicht verbotenen, vor allem also doch des präsidentiellen Leibblattes, stieg mächtig an.
Und der Dirigent stellt zu den grossen Monologen nur höfliche Aufmerksamkeit und einmal das Morny-Lächeln, – sonst nichts? Sonst lässt er die Szene laufen, auch als nach dem ersten Überschwang der reinen Kunstleistung doch ganz leise wieder die alte, gefährliche, nur den parlamentarischen Füchsen spürbare Taktik, Gruppierung, Kräftemassierung und jähe Überrumpelung sich in den homerischen Kampf begaben? Zunächst: was an Sensation kann man von den Fünf erwarten? Aussenpolitisch haben sie es nicht leicht, der wilde Plonplon hatte ihnen den Wind aus den Segeln genommen: man kann nicht gut, nur um zu opponieren, die Schlacht für die Römlinge schlagen. Das Löwenhaupt Jules Favre erschien auf der Tribüne, die berühmte Toledoklinge focht für die Auflassung der Papstmacht und für die Rückziehung des Besetzungskorps. Nun, in die gleiche Kerbe und tiefer noch, so, dass Splitter flogen, hat im Luxembourg der Plonplon mit dem Janitscharensäbel gehauen. Die Proposition erntete fünf Stimmen, die der Fünf. Das war albern, das war falsche Taktik, das war ein Erfolg für die Klerikalen! Man sah auf den Präsidenten. Morny rührte sich nicht. Aber die Katholiken rühren sich, oh, man merkt es kaum, sie schicken ganz unbelastete Leute vor, sehr geschätzte und loyale Geschäftsdebatter, und bringen ein höchst bescheidenes, höchst gefährliches Amendement zur Italienpolitik ein, überaus geschickt nach der siegreichen Antwort des Regierungsadvokaten gegen die Fünf. Man merkt es kaum: nur die Füchse wittern dicke Luft, den meisterhaft gewählten Moment für ein Manifest gegen die Aussenpolitik, für eine Manifest-Mehrheit, für ein Misstrauensvotum. Siehe, da ist ja der Dirigent. Er steht auf, er steht zum ersten Mal von seinem Thron auf, nicht hastig, eher müde, wie mit Bedauern über die Unbequemlichkeit, die er sich bereiten müsse; denn er sass gerne und gut, nicht wahr? Doch wie er jetzt stand, so hoch wie kein Meisterredner, hatte er einen nackten, strengen, harten Römerkopf mit Richelieubärtchen. Morny will sprechen! – Morny sprach so leise, dass im Nu Lautlosigkeit herrschte: denn wer wollte etwas überhören, wenn Morny spricht? Morny hat eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen dirigierte er in winzigen Bewegungen seine kleinen Sätze, seine kleinen, runden, scharf ausgestochenen Morny-Sätze, seine Unrhetorik, – und mit jedem Sätzchen spaltete er die mögliche Mehrheit, die er witterte und nicht haben wollte. – Solche Amendements, dirigiert er, sind klein und mager, wenn man sie vorschlägt, gross und dick, wenn man sie annimmt. Und er kommentiert den Regierungstext, dem es angehängt werden soll. Der Text entspricht dem Volksgefühl, das sehr katholisch ist und sehr traurig über die Ungnade des Heiligen Vaters, das aber zum anderen sehr liberal ist und, meine Herren, sehr feindselig gegen das Eindringen des Klerus in die politische Domäne. Morny spricht mit einemmal laut. Der Kaiser habe Vertrauen in die Legislative und hat es überaus deutlich bewiesen: durch das November-Dekret, durch das diese Debatten leben: Hat die Legislative nicht etwa das gleiche Vertrauen zum Souverän, der auch ohne diese Debatten leben kann? – Morny setzt sich. Das Haus, das schon sein Lächeln beklatschte, tost dankbar auf. Der Antragsteller hat die Späne fliegen sehn, ein scharfsichtiger Fuchs auch er, und zieht das Amendement zurück. Morny hat dirigiert.
Die Fünf drangen in die Innenpolitik, ein ergiebigeres Gebiet für sie, sollte man meinen. Das Löwenhaupt verlangte Erweiterung der öffentlichen Freiheiten. Das war sein gutes Recht, auch dass es die bekannten Mornyschen Unterscheidungen von politischer und bürgerlicher Freiheit durch eine mehr jakobinische Auffassung ersetzte. Aber er brüllte nicht laut und nicht gefrässig. Ein Fraktionsbruder, trotz seiner Dichterlocken der Finanzexperte der Gruppe, kritisierte den Präfekten Haussmann und sein Pariser Verjüngungswerk. Das allerdings wäre kühn, sehr kühn gewesen (denn der Stadtherr und das Stadtglück waren des Kaisers), wenn sich nicht die Kritik recht deutlich auf das Finanztechnische beschränkt haben würde. Morny hörte aufmerksam zu und liess den portefeuillelosen Minister die weisse und schwarze Magie der Glücksfinanzierung wenn auch nicht erklären, so doch verteidigen.
Dann aber trat der Oppositions-Magister auf, zugleich geladen und gehalten, – und Morny über ihm legte sich im Präsidentenstuhl zurück, fast wie genussüchtig. Herr Ollivier rückte grimmig an der Brille, obgleich er doch wahrlich der letzte gewesen wäre, der auf dem Katheder auch nur einen Merkzettel geduldet haben würde, – nun, er wollte auch nicht vorlesen, sondern anvisieren, und er stürzte sich mit seiner bekannten Anfangsgeschwindigkeit ins Gefecht. Es war nicht zu leugnen, dass er sich einen würdigen und schwer zu lockernden Gegner ausgesucht hatte, nämlich den Knebel im Mund der öffentlichen Meinung. Sein beredter und ungehemmter Mund hatte die staatliche Approbation, frei zu sprechen, und allen Grund, für das freie Wort zu sprechen; denn selbst dem loyalsten Blatt stolperte die staatslobende Zunge, wenn die neue und preisliche bürgerliche Freiheit genau vor der Redaktionstür halt machte und umkehrte. Es liesse sich denken und es hatte auch nach dem mächtigen Absprung und Anschwung des Meisterredners den Anschein, als gäbe es hier eine formidable Attacke auf die berüchtigten Halbheiten des Regimes, also des Kaisers in seiner fatalen Wolke und des Vicekaisers in seiner fatalen Deutlichkeit über dem Kopf des Sprechenden. Aber es war doch wieder einmal so, dass der Stürmer mit dem weichen Kinn vom eigenen Tempo schwindlig wurde oder dass er einen zu grossen Tross von Herzensgüte und Verständniswillen hinter sich her schleppte, – vielleicht aber war es noch etwas ganz anderes, rätselhaft Neues, beklemmend Wandelbares. Der reissende Schwung wurde gewiss nicht abgerissen, der wackere Kampf um die Lebensbedingung der Presse, eben um ihre Freiheit, um Selbstkontrolle statt administrativer Zensur, wurde nicht abgeschwächt, sondern die Angriffsfront schwenkte ein, in grosser Haltung und schönstem Ernst der Meistersprache, und wurde Parade oder Prozession. Vor wem?, fragte sich das höchst interessierte Haus. – Wahrhaftig vor ihm, dem Kaiser oder dem Vicekaiser?, fragten sich die beklommenen Vier. – Mut ist nötig!, rief der Magister, Leidenschaft des souveränen Geistes, der gutwilligen und staatsliebenden Führung, um kleinmütigen Ratschlag zurückzustossen und zur grossmütigsten und grossartigsten Bedeutung zu gelangen: um der mutige, freiwillige Führer eines grossen Volkes zur Freiheit zu sein. – Das war prachtvolle Kunst des Wortes, als solche zu loben, und es war noble Gesinnung, so aller Ehre wert, dass man sie in den Triumphbogen des Kaiserreichs einmeisseln könnte, – aber woher kam sie? Wünscht man sie sich aus dieser erstaunlichen Richtung? Die Blicke kletterten zu Morny hinauf. Der sass ganz gerade, die Hände flach auf dem Holz der Armlehne, das aufmerksame Gesicht ohne ein Morny-Lächeln. »Ich sage es«, rief der Magister in der Steigerung des Schlusswortes, »ich, der ich Republikaner bin: an dem Tag, an dem dieser Appell gehört sein wird, an dem er Tatsache sein wird, können wohl noch im Lande Männer leben, die treu sind der Erinnerung ans Vergangene oder zu sehr versponnen in die Hoffnung auf das Zukünftige: aber die grosse Mehrheit wird bewundern und wird mitarbeiten …«
Das amtliche Stenogramm zeigte die ausserordentliche Rede in den Zeitungen, Wort für Wort. Es fehlten nur fünf Worte: »... ich, der ich Republikaner bin …«
Hat Morny dirigiert?
Der Abgeordnete Ollivier wurde in den chinesischen Salon geführt. Das war ein Zimmer von verwirrender Üppigkeit und Kostbarkeit der Einrichtung, und es lag sozusagen als neutrales Gebiet zwischen den offiziellen Räumen der Präsidentschaft und der Privatwelt der Gräfin Morny, die weder den Hof noch die Repräsentation liebte und sich aus der präsidentiellen Sphäre nur diejenigen Menschen herausholte, die ihr zusagten: ihre Russen und seine Freunde von den freien Künsten. Morny liess seine schöne Frau leben, wie sie wollte: mit dem exotischen Getier, das ihre Etage sonderbar und lärmend belebte, mit Affen, Kakadus, seltenen Vögeln und quiekenden japanischen Hündchen, und mit den Auserwählten, die sie ihm anmutig entführte. Das Ehepaar verstand sich vortrefflich, er liebte sie, und es war nicht einzusehen, warum sie ihn nicht lieben sollte. Denn wer konnte sich mit ihm vergleichen?
Der chinesische Salon war die Freizone zwischen der Öffentlichkeit des grossen Herrn, dessen staatsmännische Arbeit sie wenig interessierte, und der Exklusivität der grossen Dame, deren bizarre Form er ritterlich duldete, ohne sie doch über den Salon hinaus in sein Gebiet einzulassen. Warum die Audienz, um die der besonders aktuelle Parlamentarier nachgesucht hatte, gerade hier stattfand, doch schon ausserhalb des politischen Raumes und sehr nahe der ganz fremden, verschlossenen und auch für einen Volksmann ungehörigen Feudalität fürstlichen Privatlebens, war nicht recht erfindlich. Dass die blonde Sophia Morny, geborene Prinzessin Trubetzkoi, zu dieser späten Vormittagsstunde nicht zu Hause war, brauchte er nicht zu wissen, auch nicht, dass dieses Zimmer, dessen fernöstliches Blendwerk ihn zuerst befangen und dann etwas zerstreut machte, gleichsam zur Hälfte auch ihr Empfangsraum war. Er brauchte von ihrer fremdblütigen und kostbaren Prinzessinnen-Existenz nicht die geringste Kenntnis zu haben; aber sie lag in der Luft und schlug sich im orientalischen Prunk der Möbel nieder, in den Edelstein-Überkrustungen der gewundenen Tische und Taburetts, den feixenden Bronzen mit Gold- und Silberschmelz, den Dingen, Masken und Fratzen, nacktbäuchigen und vielgliedrigen Gottlein aus Marmor, Porphyr, Elfenbein, Jade und köstlichen Zellschmelzarbeiten in Blau und Silber, den Seidentapeten, Mandarinmänteln, Waffensammlungen, wunderbarem Porzellan und dem mächtigen, gelben Teppich mit den blauen Drachen. Und dann war noch etwas Anderes in der Luft oder doch in der Nähe: Gekreisch und so etwas wie Gelächter, aber nicht von Menschen, und Gezwitscher und sonderbar heiseres und kleinliches Bellen. Kurz, der Volksmann gehörte nicht hierher und fühlte sich nicht wohl; aber da er Logiker war, ein deduktiver Denker, fragte er sich doch auch zugleich, warum er nicht hierher gehöre und wo der soziologische Zusammenhang zwischen einem mehr musealen als ansprechenden Meublement und dem Standesbewusstsein sei oder dem Selbstbewusstsein überhaupt, und ob zum Beispiel der simple Herr Adolphe Thiers, von Stand ebenfalls Advokat, als Politiker ebenfalls bedeutend (von einer ebenfalls noch nicht abgeschlossenen Bedeutung), etwa nicht auch ein pompöses Haus samt Chinoiserien besitze, wenn auch Gottseidank kein östliches Getier.
Die allmählich doch recht diffusen Gedanken hatten schon lange nichts mehr mit dem Audienzthema zu tun, und erst als der Präsident eintrat, mit einer charmanten Entschuldigung, rückte man kriegerisch an der Brille und fragte sich nachträglich, ob man hier wirklich hatte lange warten müssen. Morny legte ein länglich gefaltetes Bündel beschriebenen Kanzleipapiers, aus dem ein dicker Blaustift herausschaute, auf ein schwarzrotes Lacktischchen, setzte sich davor und lud mit freundlichen Worten zum Plaudern ein. Der Magister aber war kein Mann des Plauderns, sondern der strengen Rede, just auch hier in dieser unterhaltsamen Möbelausstellung, die wie von ungefähr zur uferlosen Sammler-Eloquenz verführen könnte, und er nannte klipp und klar den Audienz-Anlass, den bekannten Anlass.
»Also«, meinte Morny verbindlich, »meine amtliche Antwort auf die Interpellation eines Ihrer Parteifreunde, – nämlich dass ich die Verantwortung für die Weglassung oder, meinethalben, für die Unterdrückung jenes fraglichen Zwischensatzes im Stenogramm Ihrer Rede ausdrücklich übernehme, genügt Ihnen nicht.«
»Nein«, sagte der Magister viel zu grob, und er verbesserte sich auch, »das heisst: amtlich ja, aber persönlich nicht.«
»Aber ich bitte Sie«, lächelte Morny, zog den Blaustift aus dem Bündel und blätterte in den Papieren, »auch die amtliche Antwort sprach Ihnen persönlich die grösste Anerkennung aus, wie hiess es doch … ›der Massigkeit, Ehrenhaftigkeit und Geradheit und Redlichkeit meines ehrenwerten Kollegen‹.«
»Nun eben, Exzellenz, ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr dankbar, ich bin auch überzeugt, dass es die von mir angegriffene Zensur war, die mir den Streich mit dem Strich spielte und die Sie nur zu decken beliebten. Aber die amtliche Apostrophierung meiner Person unmittelbar nach der amtlichen Sanktionierung des Rotstiftes bringt mich in eine schiefe Lage.«
Morny spielte lächelnd mit dem Blaustift. »Sie selber, lieber Herr, Ihre Geradheit bringt Sie in die schiefe Lage, Ihre Redlichkeit, Mässigkeit, Ihr Wahrhaftigkeitssinn – oder sagen wir doch einfach: Ihre Intelligenz, die die Zeitentwicklung erkannt hat.«
»Verzeihen Sie, Monseigneur, ich appellierte an eine mögliche Zukunft, ich habe nur gewünscht, dass mein Appell einmal gehört, einmal Wirklichkeit werde.«
»Schön und gut, Herr Ollivier, zumal für die schöne und gute Rede. Aber jetzt sind wir unter uns, ohne Hörer und Stenographen, und da erlaube ich mir, den Kausalnexus ganz einfach umzudrehen und Ihnen auf den Kopf zuzusagen, dass Sie unseren schon sehr wirklichen Appell bereits recht gut gehört und verstanden haben.«
»Das erlaube ich mir zu bestreiten, Herr Präsident!«, rief der Magister, und seine Brille blitzte böse.
»Das glaube ich ganz und gar nicht, Herr Kollege«, lächelte Morny; »wollen Sie das befreite und einige Italien bestreiten und die römische Reform und fühlen Sie denn nicht, dass die grossartige Idee des Kaisers, die Idee der demokratischen Internationale, für die er in den Krieg gezogen ist, Ihre eigene Idee ist, und dass die Demokratie, die wir jetzt im Reich errichten, Ihr zukünftiges Werk vorweg nimmt? Aber das fühlen Sie ja.«
»Ich sehe aber auch viel Widerspruchsvolles und Dunkles und Nebliges«, warf der andere leise ein.
Morny beugte sich vor: »Wissen Sie, mit welchen Worten der Kaiser die beiden Cavour-Leute bei der geheimnisvollen Zusammenkunft von Chambéry entlassen hat? ›Fate presto‹, hat er gesagt, ›macht schnell!‹«
Ollivier sah geradeaus; dann sagte er wie verdrossen: »Aber Sie verraten mir ja Staatsgeheimnisse, Exzellenz!«
»Nur Kaisergeheimnisse«, lachte Morny, »und deren Zahl ist Legion! Und jeder, der in der öffentlichen Sicht steht, ist eine Zielscheibe, pfeilgespickt wie der heilige Sebastian, Herr Ollivier, und hat viel zu leiden und viel sich zu winden.«
»Das weiss ich«, sagte der Magister, ein Mann der Öffentlichkeit.
»Ja«, nickte Morny, »ein jeder von uns ist Schütze und Zielscheibe zugleich. Das ist widerspruchsvoll; aber das tut auch weh, und so geht man in Deckung, ins Dunkle, ins Neblige. Doch bevor ich mir die Freiheit nehmen kann, Ihnen Ihren eigenen Widerspruch darzutun und Ihre gedeckte Haltung nachzuweisen – eine Dreistigkeit schlechthin –, muss noch eine Aufklärung kommen, eine Farbenprüfung sozusagen, ein Prüfstein gar.« Der Magister setzte sich sehr gerade und rückte an der Brille. Morny lächelte. »Dies also, Herr Abgeordneter, ist ein Blaustift« – er hob den Blaustift und liess ihn aus dem silbernen Halter züngeln –, »genau gesagt, der Blaustift des Präsidenten, mit dem er, unter manchem anderen, auch die Sitzungsprotokolle signiert, die ihm nach dem Stenogramm vorgelegt werden. Und hier, Herr Ollivier …« – er blätterte in den Papieren und reichte seinem Gast eines der in sauberer Kanzleischrift geschriebenen Blätter, – »hier ist der bewusste Satz, Sie finden ihn sofort, er springt sozusagen in die Augen …«
Der Magister starrte auf den blauen Strich, der hart und dick inmitten der Kalligraphie stak, wie ein Dorn im Fleische. Am Rande daneben schwebte ein graziöses, blaues M.
Und nun? Morny liess ihm Zeit. Er nahm von einem altarartigen Gestell hinter sich eine kleine Figur aus glänzendem Stein, ein schwarzes Teufelchen mit grellrotem Nussknackermaul und Haar; doch es war Kuan Yin, die Göttin der Barmherzigkeit, die so taktvoll barmherzig ist, dass sie jedem zu Erlösenden in seiner eigenen Gestalt naht, den Teufeln also als Teufelchen. – Aber zu was soll ich es ihm erklären?, fragte sich Morny und liess die Figur auf der Handfläche tanzen. Der Magister sah ihm zu, recht in Gedanken, und in der langen Stille hörte er Gekreisch und Gelächter, das nicht von Menschen kam, und kleinlich heiseres Gebell. Dann sagte er und legte mit einem Ruck das Blatt auf das Lacktischchen: »Ich muss gestehen, dass es mich nicht einmal sonderlich überrascht.«
Morny hielt jetzt die kleine, schwarze Kuan Yin zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie aufmerksam. »Was sagten Sie mir doch neulich, lieber Kollege?«, fragte er dann nachdenklich. »›Wenn es ein Anfang ist …‹« Er stellte die Figur an ihren Platz und wandte sich dem Gast zu. »Es ist also der Anfang der Zusammenarbeit. Schon darf ich Sie nicht mehr des Widerspruchs zeihen. In Deckung können Sie ruhig noch bleiben.«
Der Magister gab heftig zurück: »Wie fragte doch neulich mein ehrenwerter elsässischer Kollege? Seid ihr die Ordnung oder die Revolution?«
»Die ordentliche Revolution, mein Freund. Gibt es eine bessere Formel für Ihre Politik der Massigkeit, Ehrenhaftigkeit und Geradheit und Redlichkeit?«
»Nein, o nein!«, rief der Magister aufgebracht.