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Parabel von der Laterne

So also wird man Herzog, dachte der Beobachter, so setzt man dem Gerücht die Krone auf. Es kann bedeuten, dass das Gerücht wahr ist und dass man den Erreger des goldenen Fiebers gerade um dieser fluchwürdigen Leistung willen zu ehren und zu erhöhen die Stirn hat: welcher Zündstoff für Brandstifter! Es kann bedeuten, dass das Gerücht falsch ist und dass man, die öffentlichen Verleumder schnell und heftig ins Gesicht schlagend, den Unschuldigen ehrt und erhöht: welche Rechtfertigung für das eigene Gewissen, das die Mexiko-Chronik zu schreiben nicht gestattete! Es kann aber auch ganz etwas anderes bedeuten, – jetzt, wo das Reich an die Wahlen zu denken beginnt: den kaiserlichen Segen für die Morny-Idee, für die Reform-Politik, für die »bürgerlichen Freiheiten«, für die grosse Zeithoffnung. Gemach, Rochefort, und klaren Kopf! Wäre nicht dies nur der halbe Segen des alten Doppelspielers hinter der Wolke, Segen der einen Hand, und segnet die andere Hand nicht den Autoritäts-Maniak und Wahleinpeitscher im Innenministerium? Ist nicht dies die alte Praktik des Taschendiebs der Zeitgeschichte, des Napoleon der Eskamoteure, die Hände in allen fremden Taschen zu haben, gleichzeitig zur Rechten und zur Linken, im Innern und im Äussern?

Klaren Kopf, Rochefort, und auf die Augen! Die Zeit ist noch zu jung für dich, zu frisch und zu feucht das Holz, um zu brennen. Du darfst dir diesen Glauben gönnen, damit es nicht wieder dein Kopf ist, der als erster glüht und den Blick verqualmt. Du kannst dich getrost in den Hinterhalt der Beobachtung stellen; denn nur so lernst du den Feind kennen, der so stark wie listig ist, nur so den Gang der Zeit dir zu und nur so, aus der Kenntnis der Kampflage und Kampftechnik, von Schlich und Sprung des Feindes und der Zeit, schützt du dich, gegängelter Chronist, vor der herzoglich mornyschen Glücksschlinge, der gefährlichen.

Der Beobachter schaute nach Italien. Dort war das junge Regno, das Feste feierte und nach Rom schrie. Dort war das alte Rom, das zur Feier japanischer Märtyrer, nein, zur Feier des eigenen Martyriums die Gläubigen aufrief, dass sie kommen mögen, um im Glanz der Ewigen Kirche das Säkularleid des Heiligen Vaters zu schauen und zusammen mit ihm gegen die Zeit zu beten. Die Gläubigen kamen aus aller Welt, in Massen aus Frankreich, unter Führung des Episkopats, Marseille war Sammelplatz und Einschiffungshafen des neuen Kreuzzugs, das Gebet für Rom war kein schwächerer Chor und keine mindere Kraft als der Schrei nach Rom. Was für eine Mobilmachung einer kaum mehr als geistigen Macht! Der Beobachter wusste, wo er stand, er glaubte an den Umsturz, das war seine einzige Religion, er stand gegen Rom. Aber hier, im Hinterhalt, kam es nicht auf seine Wünsche an, sondern auf die politische Erkenntnis. Wo stand der Feind, der Kaiser? Wie lange noch konnte er mit dem einen Bein in Turin stehn und mit dem anderen in Rom, wie lange wollte er es noch? Pio Nono stirbt nicht, er ist aus Stein. Klaren Kopf, Rochefort, was erkennst du? Die römische Frage ist schon lange eine französische Frage, doch jetzt wird sie eine innerpolitische Frage: der Wahlkampf kommt. Was hat es zu sagen, dass die französische Flotte in Neapel vor dem König des romlosen Italiens salutiert? Das ist eine kindlich leichte Volte für den Falschspieler oder sogar der Abschiedsgruss; denn dieser Mensch sagt ja niemals Lebewohl, wenn er herzlich winkt. Aber wie höflich und geradezu hilfsbereit sind die Marseiller Behörden zu den Kreuzzüglern, wie ehrerbietig schreibt die offizielle Presse über die grossartige Traurigkeit Roms, – und sieh nur: jetzt, gerade jetzt, auf dem Friedhof der katholischen Presse ersteht eine neue Zeitung, die sich kühnlich »La France« nennt und ungestraft, unbelästigt behauptet, zugleich kaiserlich und katholisch zu sein. Was fehlt jetzt noch?, fragte sich der Klarsichtige, der gute Rechner schon, der sieht, wie weit man es treiben kann, und berechnet, zu welchem Zweck man es tut, und als Theaterkritiker weiss, was auf die Szene gestellt werden kann und was nicht. Jetzt fehlt noch die Hilfe der Vorsehung, hier der politische Glücksfall. Dass der Kaiser eine taschenspielerische Bindung mit dem Glück hat, also Glück zu machen oder vorzutäuschen versteht, weiss man. Doch der erwartete Glücksfall steht ja nicht in der fingerflinken Macht des Illusionisten, sondern ist nur sein Wunsch, sein ganz heimlicher sogar. Der Kaiser wartet wieder einmal auf den noblen Anlass, den unpräparierten diesesmal. Der Beobachter wartet beklommen, ob der Feind Glück hat.

Was dann kam, als Glück für den Kaiser, war ein verblüffendes Schauspiel für Europa, ein zwiespältiges Lehrspiel für den Beobachter. Es erhob sich ein neuer Schrei nach Rom, in der Sommermitte, aber nicht von Turin aus, nicht mehr in der Form politischer Gesittung, als Verhandlungsparole des Kabinetts, als Redemelodie des Parlaments, als Festtrompete, sondern vom Süden her, als Feldgeschrei der Rebellion. Rom oder der Tod! So schrien Garibaldi und seine Rothemden in Sizilien, plötzlich in Sizilien, und zogen schon in der Gewitterwolke des grossen Grolls über Kalabrien. Aber das Korsarenjahr ist doch vorbei, längst vorbei!, rief Rochefort und rieb sich die Buckelstirn, die Süd- und Sagenlawine ist schon längst verschlungen vom grossen Norden, man kann kein Wunder wiederkäuen, man kann eine starke und gute Szene der Geschichte nicht neueinstudieren und wiederaufführen wie erfolgreiches Theater! Nein, hier wiederholt sich nur Eines – Schmerz für Rochefort –: dass der verehrteste Mann der Zeit, ihr grösster vielleicht, ihr tapferster gewiss, zum zweiten Mal der politische Glücksfall für den Kaiser wird, vor einem Jahr als der Cacciatore, der ihn von Cavour befreite, jetzt als der Schütze, der ihn vom Regno frei schiesst. Kaltes Blut, Rochefort, selbst die Neuinszenierung des Korsarenjahrs vermag dich zu erhitzen, so ähnlich ist sie der ersten und so anders doch. Der rote Mann, der in seinen Pronunciamentos den romschützenden Kaiser angreift, wie der es sich nicht besser wünschen kann, wird wieder abgefangen, nicht mehr von der Nordlawine, sondern vom jungverwurzelten Regno, nicht erst bei Capua, sondern schon ganz im Süden auf dem Hochplateau von Aspromonte. Hier ist kein Wechsel von schönen Worten, sondern von scharfen Schüssen, und die tiefe Wunde im Fuss Garibaldis steckt schon auch im Fleisch des schmerzlich siegenden Königreichs. Der Beobachter schüttelt den Kopf: wahrhaftig, die Wunde von Aspromonte ist wieder ein Glück für den Kaiser; denn wäre es dort nur das stille und glatte Disziplinarverfahren des Staates gegen einen unbotmässigen General gewesen, so hätten die guten italienischen Diplomaten, die mit Bangen sahen, wohin es den leider immer noch nicht entbehrlichen Sieger von Magenta und Solferino zog, zum mindesten den noblen Anlass verdorben. Doch jetzt gab es die Wunde des grössten Patrioten, des einzigen, der nicht allein um Rom schrie, sondern auch blutete; und stürbe er an der Wunde, durch den königlich italienischen Schuss: würde dann das Königtum leben bleiben? Jetzt war er der blutende Nationalgott, auch für den traurigen Sieger, die Diplomatie musste die nationale Wunde verbinden, nicht mehr dem beleidigten Kaiser den neuen Wind aus den Segeln nehmen. Der offizielle »Moniteur« schrieb schon feierlich von den Pflichten Frankreichs gegen den Heiligen Vater, und dass die ganze Welt wissen müsse: Frankreich verlasse in der Gefahr nicht jene, die seinem Schutz unterstellt sind. Turin aber musste die Wunde von Aspromonte dem Kaiser als Nationalforderung zeigen: Rom oder Tod! – Was hat er für Glück!, rief der Beobachter. – Bevor noch der Wahlkampf begann, gegen Ende Oktober, riss der beleidigte Kaiser das Steuer nach rechts, warf alle Italienfreunde über Bord, seinen Turiner Gesandten, seinen römischen Geschäftsträger, sogar seinen Aussenminister, ersetzte sie durch Freunde Roms und liess sie dem Heiligen Vater huldigen. »Wir sind desitalianisiert!«, jubelt keck »La France«, die junge, kaiserlich katholische Zeitung.

Jetzt also hat er wieder den Klerus und die Gläubigen, der Wahl-Charlemagne, dachte der Beobachter.

Und er schaute ins winterliche Frankreich, in sein Land, Unruhland. Der Wahlkampf begann, das stumme und glücksgelähmte Jahrzehnt war vorbei, die Geister rührten sich. Die Ideen rührten sich, die alten und die neuen, die Kräfte sammelten sich. Ach, was für Kräfte! Welche Kräfte hat die Revolution?, und wenn die Frage närrisch ist – denn der es sich fragt, ist kein Wirrkopf mehr, sondern ein kalter Rechner –: welche Kräfte hat die Demokratie?

Nun, es gab Revolutionäre oder doch radikale Extremisten, – ja, es gab seinesgleichen, hitzköpfige Rocheforts, Hasser. Er kannte sie so gut wie sich. Aber er hatte sich ja von der Wirrnis und Wildnis der eigenen politischen Vorstellung getrennt, um die Realität kennen zu lernen: er besass jetzt auch den schätzenden Abstand und dazu noch die Kenntnis von seinesgleichen. Nicht auf Wut und Wunsch kam es an, sondern auf die Kraft, die sie stellen konnten. Was waren sie wert, kraftwert, wahlwert, zeitwert, die so sind wie er? Ihr Gott ist Victor Hugo, ihre Bibel sind die »Châtiments«, ihre Evangelisten sind die Louis Blancs in London, Amsterdam, Brüssel, Genf, ihre Erbauung sind die Schmähschriften winzigen Formats, gedruckt in London, Amsterdam, Brüssel, Genf, ihr Mut ist, sie ins Land zu schmuggeln. Ihre Welt verschiebt sich, sie sind nicht, wo sie leben, sondern dort, wo der Gott und die Evangelisten des Hasses sind und wo der Hass laut werden darf, laut und gedruckt, sie sind Emigranten auf Montparnasse und Montmartre. Sie leben für den Hass; aber so tragisch verrückt ist ihr Leben und umgestülpt der politische Lebenssinn, dass sie, die Hasser, nicht mehr den Wald vor Bäumen sehn und den Hass von aussen beziehen müssen, um leben zu können, Hass-Kassiber, Rauschgift und Druckgift der Pasquills in Duodez: der Kaiser ist ein Hurenknecht, die Kaiserin eine Hure, der Kaiser ist ein Mörder, Giftmischer, Räuber, Erpresser, Eidbrecher und Zuhälter. Sie lesen, sie lesen, sie bekommen nie genug, und wenn die Augen flimmern und die winzigen Lettern der Diamantschrift tanzen, schliessen sie die Augen und zitieren die »Châtiments«; denn die kennen sie auswendig. Und sie schauen nicht ins Land. Sie sind weit weg, ihre Seele ist ausgewandert zu dem einzigen und wahren Hass, der wiederum nicht anders einwandert wie als literarische Konterbande, nicht anders zurückwandern will, schmähend selbst die Amnestie nach Villafranca. Ach, sie sind jetzt nichts nutze, die so sind, wie Rochefort war, sie zählen nicht, der Kaiser braucht nicht einmal an sie zu denken.

Was für Kräfte stellt die radikale Demokratie, das offene, republikanische Bekenntnis, – nur die Fünf, die berühmten Fünf der Kammeropposition? (Oder gar nur die Vier; denn Ollivier, dessen offenes Bekenntnis bekanntlich unter Mornyscher Verantwortung säuberlich und fugendicht, doch scheinbar für den Bekenner beschwerdenlos zugedeckt worden ist: der neue Stern Ollivier geht vielleicht neue Bahnen.) Da sind noch die alten Führer von 48, die im Land geblieben oder zurückgekehrt sind, grosse Parteinamen von einst, sehr ehrenwerte Männer, lauter lautere Catos, – doch was sind die nütze, was taugen jetzt Veteranen und steif wandelnde Reliquienschreine? Was anderes, ausser Erinnerung und Gesinnung, stellen sie dem Kampf als die alten, selbstmörderischen Parolen der Stimmenthaltung und der Eidverweigerung, immer noch nicht oder erst im letzten Augenblick aufgegebene Obstruktion und die Verleugnung oder die Verdächtigung der tätigen Fünf, was anderes als muffig dogmatischen Hader, Kompetenzstreiterei und Kräftespaltung? Aber es geht um die Kräftesammlung, ihr Seltenheiten aus dem Revolutionsmuseum, es bedarf der Oppositionsbildung um jeden Preis, der unbedenklichen, demagogischen, meinethalben schamlosen Ausnützung jener »bürgerlichen Freiheiten«, die euch der nagelneue Herr Herzog beschert hat, – wer weiss warum! – Und da ist noch die radikale Jugend, Studenten, angehende und gerade fertige Rechtsanwälte, fast nur Juristen, Hörer in der Kammer wie früher im Kolleg, Claque der Fünf, klare Köpfe, scharfe, aber nicht wirre Geister, unter ihnen möglicherweise ein politisches Genie, sicherlich eine rhetorische Begabung von mediterraner Fülle, ein ganz junger Jurist mit dunklem Bart und kühner Nase namens Gambetta. Rochefort kannte ihn und hatte seine leidenschaftliche Stimme im Ohr, er kannte sie alle und hatte ihre wilden und prachtvoll respektlosen Diskussionsabende in der Rue de Tournon erlebt: sie alle waren Hoffnungen. Aber was tut der politische Rechner, der Wahlkampfkräfte zusammenzählt, mit Hoffnungen?

Der Beobachter sah es deutlich: nicht seinesgleichen, nicht das Radikale und Umstürzlerische, sondern das Gemütliche, das Gebildete, das bürgerkönigliche Biedermeier stellte, neben anderen trefflichen Namen aus den »anciens partis«, aus der honetten Konstitution seliger Juli-Zeiten, die eine faszinierende Kraft der demokratischen Opposition: den kleinen, alten, ewigen Herrn Thiers, keinen zeitfernen Emigranten, einen zeitigen Revenant, dennoch ausgezeichnet durch eine hauchdünne Patina von Märtyrertum, das ihm nun einmal in jenen unangenehmen Hafttagen des Staatsstreich-Dezembers angeflogen war. Nun, das Gefallen an Erfahrung und taktischer Meisterschaft, wie es die Aufnahme dieser Kandidatur offenbarte, konnte den Betrachter weder überraschen noch enttäuschen; denn die Dinge gingen ja nicht hart auf hart, es gab ja keine Fronten: ein eben noch allmächtiger, immer noch mächtiger Staat stand gegen die kleine, hochmütig oder fahrlässig hervorgelockte Opposition. Da waren Wühlmäuse nützlicher als Rammböcke. Und wie Rochefort erkannte, dass die Biedermeier der Demokratie nicht nur den besten Kandidaten, sondern auch die bestgeführte Presse hatten – taktisch überlegte, geistig überlegene, im Schutz ihrer gemässigten Sprache schwer angreifbare Blätter wie den kürzlich gegründeten »Temps« und das ehrwürdige »Journal des Débats« –, machte er eine Entdeckung, die ihn persönlich anging. Der gegängelte Chronist, der Halbwochenclown des Figaro, entdeckte den ernsten, geistigen und als Geist freien Chronisten der Zeit, der ohnmächtige Hasser den sanft und klug wirksamen Gegner des Regimes, der Talmi revolutionär und Pseudobrandstifter (er will zu sich hart sein) den Edeldemokraten. Der Name dieses fast Gleichaltrigen schlug keine Funken und konnte sich nicht einmal mit der fatalen Berühmtheit des Figaro-Chronisten messen: er lautete Prévost-Paradol und gehörte dem politischen Leitartikler der »Débats«. Es war eine Freude, diesen klaren und skeptischen, wahrhaft lateinischen Geist den Dunst, den Nebel und die krausen Ausschweifungen, die Sappengänge, Sackgassen, Schleichwege und Umtriebe der Kaiserpolitik durchdringen und durchleuchten zu sehen. Es war eine Freude, wie dieser trefflich gerüstete Humanist mit den noblen Waffen des Wissens, der Überzeugung und der erlesensten Sprache, niemals aber mit demagogischem Giftpfeil, nicht einmal mit dem Hiebmesser kommuner Leichtverständlichkeit für die Demokratie focht, für die Menschenwürde, Klarheit und Sauberkeit des politischen Geschäfts, Freiheit des Geistes und des Gewissens, Mitarbeit der freien, gewissenhaften und verantwortlichen Geister an der Staatsführung, – für seine Demokratie, die eigentlich eine Aristokratie des Charakters war. Und was er nicht in der ehrwürdigen und vorsichtigen Täglichkeit der »Débats«, nicht als Kommentator und Staatsphilosoph sagen konnte und wagen konnte: den gleicherweise noblen, aber blitzenderen Angriff auf das herrschende Staatsprinzip lenkte er von einem ziemlich verwegenen Sonntagsblatt aus, das von einer Zensur-Verwarnung in die andere fiel, aber sich doch immer um ein paar Grade zu geistig, also ungefährlich hielt, um umgebracht zu werden und in die Grube zu sinken. – Dieser Kavalier der Polemik und Rosenkreuzer der Demokratie, Prévost-Paradol, ist eine Freude für Rochefort, eine reine Freude, keine leidgemischte, – kein Leid für den gegensätzlichen, also unedlen Fuchtler mit der Chronik-Pritsche, der bis zum Brandstifter avancieren will? Der Beobachter steht kaltblütig und scharfsichtig im Hinterhalt und lässt die Zeitkräfte defilieren, die leidigen und die erfreulichen, er spendet dem Neuplatoniker sein stummes Lob und sieht seine Grenze und jenseits der Grenze die Gefahren für ihn. Er kann Erfolg haben, keinen Sieg, dafür ist er zu sehr Geist, zu fein, zu hoch, zu wenig greifbar: aber dann hängt sein Erfolg schon im Netz der Glücksspinne, die ja nichts anderes will als die Entwicklung des brüchigen Autoritätsstaates zur elastischen Gentleman-Toleranz, zum Scheinliberalen Imperium, dann wird er Würdenträger des Herzogs Morny, der das Kaiserreich erneuert und vielleicht verewigt. Dann wird der eingefangene Humanist nicht nur der Feind des Barbaren Rochefort, sondern auch der Feind seiner eigenen Wahrhaftigkeit, und er wird kein gutes Ende nehmen. Nun, auch Camille Desmoulins hat kein gutes Ende genommen; aber sein Weg ging doch umgekehrt, er starb für die Humanität, nachdem er brandgestiftet hatte wie noch nie ein Pamphletist, er nahm also wohl doch ein gutes Ende, ein besseres als ein Edeldemokrat, der für die demokratische Lüge stirbt. – Auch Desmoulins kam aus der Bildung, der Glanzschüler des Collège Louis Le Grand, auch er hing sie für den Kampf nicht an den Nagel: aber er hing sie an seine schreckliche Revolutions-Laterne, er tauchte sie in virulenteste Demagogie und beschoss den Feind mit humanistischen Giftpfeilen, er belud selbst seine mörderischen Pamphlete mit Zitaten aus Tacitus, Cicero, Plutarch, er heiligte den höllischen und entheiligte den göttlichen Geist zu den Zwecken seiner unvorstellbaren Hetze, er degradierte die Klassiker zu Trägern jener Piken, auf denen die grässlich zerfleischten Köpfe der Geköpften, Gehängten, Gelynchten staken: Foulon, Staatsrat, de Launay, Bastille-Gouverneur, Berthier de Sauvigny, Intendant von Paris, auch Berthiers herausgerissenes Herz, im Juli 89. Auch Rochefort kommt aus der Bildung, widerspenstiger Schüler des Collège Saint Louis, armseligster Diogenes, der nach der Revolutions-Laterne sucht, theoretischer Terrorist, der mit dem Gleichnis von der Pike in die humanitären Fangnetze des Herzogs Morny sticht. Aber jetzt ist es ja gesagt, jetzt ist ja wieder der Name genannt, der zugleich das vorläufige Resultat des Wahlkampfrechners ist, der Nutzniesser auch der edelsten und löblichsten Bemühung, der grosse Kriegsgewinnler auf jeden Fall. Der Beobachter, der sich zurückgezogen hatte, um von ihm loszukommen, sieht ihn schon wieder, den Noblen und Unvermeidlichen. Wie beschliesst er, der Präsident, die Legislativperiode, drei Wochen vor den Wahlen, wie entlässt er die alte Kammer, mit was für Worten lullt er das Entschlafende ein, beseligt er die Hoffnung, verführt er schon die nächste Zukunft!

Mit solchen Worten: Eine Regierung ohne Kontrolle und ohne Kritik ist wie ein Schiff ohne Ladung. Das Fehlen der Einrede, der Gegenrede, des Widerspruchs macht die Macht blind und leitet sie manchmal irre und beruhigt nicht das Land. Rede und Gegenrede tragen mehr zur Staatssicherheit bei als trügerische Stille.

Mit solchen Fäden umspinnt die Glücksspinne die Zeit und saugt sie aus. Das ist die Erneuerung, die Verjüngung, die Verewigung des Kaiserreichs, – so macht man es. So stehst du nun, Rochefort, mit deiner Erkenntnis im Hinterhalt, im Hintertreffen, mit der Erkenntnis des grossen Feindes, und, kleiner Chronist von dieses Lordprotektors Gnaden, deine Pike bleibt eine Parabel, eine hinterhältig gedachte nur, nicht einmal eine geschriebene, und unauffindbar deine schaurige Laterne.

Einer aber war im Wahlkampf da, der gegen Morny kämpfte: der auf der anderen, der wahrhaftigeren Seite des Kaiserreichs, der Maniak Persigny, Innenminister, – und was war er für ein Kämpfer! Der alte Konnetabel der Plebiszite und Grossmeister der Wahlbeeinflussung ging genau vierundzwanzig Stunden nach der mornyschen Zeitverführung zum Generalangriff vor, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn diese seit Monaten vorbereitete, durch die vorzüglich eingespielte Verwaltungsmaschine überallhin wirksame Offensive, der durch tausend Polizeiaktionen der Weg geebnet war, nicht zum wenigsten und zu allererst diese paar gemeingefährlichen Mornysätze zuzudecken, nein, schleunigst zu zertreten und zu verscharren imstande wäre. Hier ist, proklamierte Persigny, nicht England mit seinen wenigen, staatspolitisch disziplinierten und verantwortungsbewussten, dem Staatsfundament gänzlich verhafteten Parteien, die der Regierung erlauben, dem Kampf der Meinungen zuzuschauen: nein, hier steht ein junges Reich gegen Faktionen, die sich aus den Trümmern gestürzter Regierungen gebildet haben und der Staatsinstitution ans Herz gehen wollen, um die Blutbahn des Staatsgrundsatzes zu stören, und die nur nach Freiheit schreien, um sie gegen den Staat zu wenden, – hier muss die Regierung kämpfen. Hier muss die Regierung den Wähler aufklären, wer der Freund des Imperiums ist, wer sein offener und verkappter Feind. Jetzt wird, wie bei den früheren Wahlen, die Regierung die Kandidaten ihres Vertrauens bezeichnen, schützen und fördern.

So begann die Aufklärung, das war der Kampf, der allgemeine Angriff, geführt von des Konnetabels Unterfeldherren, den Präfekten, den Provinzgöttern. Gesetz oder Dekret erlaubten, jede Versammlung aufzulösen, jede öffentliche Vereinigung zu verfolgen, jedes Komitee von mehr als zwanzig Personen zu verbieten, jede unerwünschte Wahlpropaganda in den Zeitungen zu unterdrücken – wenn auch nicht in Paris, wo die grosse, geistig und finanziell unabhängige, wahltaktisch meisterliche Presse nicht mundtot gemacht werden konnte, so doch in der Provinz, deren Blätter von der Gnade des Präfekten und den behördlichen Inseraten lebten –, jeden Maueranschlag, jede Hauskolportage unter die Aufsicht der Gendarmen zu stellen. Dekrete veränderten, verschoben, vergrösserten, zerstückelten die Wahlbezirke, jeweils zum Vorteil der Regierungskandidaten. Und dann gingen unter Leitung des Präfekten die Spezial-Aufklärer vor: die Bürgermeister, Friedensrichter, Schulinspektoren, Bezirkskommissare, Gendarmen, Tabaktrafikanten, selbst die Wirte, die von den Honoratioren lebten, – und ihnen entkam keiner in Stadt, Dorf und Weiler, sie versprachen oder drohten, je nachdem, und Wundertätige unter den Aufklärern erweckten sogar die toten Seelen. Denn es begab sich, dass eine Gemeinde von 30 Stimmen für den Regierungskandidaten 56 Stimmen aufbrachte.

Und der Krater Persigny spie Dekrete, Manifeste, Kampforders, Wahlparolen und Aufklärungs-Zirkulare aus, und drei Tage vor den Wahlen schleuderte er ein Sonderzirkular gegen die faszinierende Kandidatur des kleinen, alten, ewigen Herrn Thiers: es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn solche Wortlava den Revenant nicht verschüttete, und nicht nur ihn, sondern auch die anderen wendigen Geister. – Was will Herr Thiers? Das Zirkular beantwortete es: Wiedererrichtung eines Regimes, das für Frankreich verhängnisvoll gewesen ist, auch für ihn selber – das der Eitelkeit einiger Weniger schmeichelte, aber unheilvoll war für das allgemeine Wohl – das die Autorität von ihrem naturgegebenen Platz stiess und sie den Raubtieren der Tribüne zum Frass vorwarf – das die fruchtbare Tat durch sterile Wortagitation ersetzte – das in achtzehn Jahren nichts anderes hervorbrachte als innere Ohnmacht und äussere Schwäche – das im Aufruhr begann, im Aufruhr lebte, im Aufruhr endete.

Der Maniak ist wahrhaftig mein einziger Verbündeter, dachte Rochefort bitter, nur er kann die Diktatur vor Morny retten, und nur an der Diktatur des Maniaken entzündet sich die schaurige Laterne.

Aber was ist mit Mexiko? Wenn alles für den Wahlkampf zurechtgebogen wird, Rom und Turin und selbst der Aufstand in Polen, – warum fehlt Mexiko? Siegt man nicht in Mexiko? Das Volk weiss von der neuen, langen und schweren Belagerung von Puebla. Warum lügt der Maniak nicht den Fall von Puebla ins letzte Manifest hinein, wenn schon nicht die Eroberung von Mexiko-City, die noch zugkräftiger gewesen wäre? Nun, es schien, als lege er keinen Wert auf Mexiko, so wenig wie der stillere Herzog Morny. Und der stillste, der Kaiser? Es hiess, er sei sehr beschäftigt: mit einer Biographie des Julius Cäsar. – (Man siegte dennoch in Mexiko, man wusste es nur noch nicht. Puebla fiel am 17. Mai. Die Wahlen waren dreizehn Tage später, zu früh für die Siegesnachricht, die vier Wochen braucht. Und Mexiko-Stadt wird erst am 10. Juni besetzt.)! Kleine Rechenfehler, kleine Regiefehler: Glück auf Termin ist eine schwierige Sache, zumal, wenn Raum und Zeit zweier Erdteile zu berechnen sind. Rochefort ist ironisch: der Mexiko-Lorbeer wird also den Wahlsieger schmücken, entweder Persigny oder Morny, und ihr werdet sehen, dass er dem einen so gut stehen wird wie dem andern. Der Chronist wird leider den kleinen Taschenspielertrick der Verwandlung einer verspäteten Wahlbeeinflussung zur rechtzeitigen Siegerehrung nicht beschreiben dürfen, und das Volk wird nichts bemerken, sondern die Feste feiern, wie sie fallen.

Was denkt der Beobachter so geringschätzig vom Volk? Liebt er denn nicht das Volk, das er doch befreien will, oder kennt er es nicht, kennt er nur die Revolutions-Parabel, nur die Historie vom Volkszorn mit der Pike und darüber der Laterne als Leuchte und als Galgen? Sein Volk aber, das Volk der Zeit, lässt über sich ergehen: die politische Schwarzkunst des Kaisers, die magnetischen Striche des Toleranz-Morny, die Aufklärungs-Dragonaden Persignys, und wird so, in der Betäubung, wählen. Das ist die Meinung des Beobachters, keine hohe Meinung. Zurecht besehen, ist ja auch das Volk der Revolutions-Parabel nicht klar, sondern betäubt oder doch berauscht. Nur der politische Humanist, der Edeldemokrat, achtet das Volk und die würdige Nüchternheit seines Wahlwillens, – und so beachtet ihn nicht das Volk, das stille Zivilisten der Menschenwürde leicht übersieht und überhört; denn der Uniformen, Fahnenschwenker, Schärpenträger und Aufklärungs-Trompeter sind viele. Herr Prévost-Paradol wird also bei der Wahl durchfallen, bei Camille Desmoulins gab es keine Wahl. Funktionelle Eigentümlichkeiten sind dem Krater Persigny und dem Brandstifter Desmoulins gemeinsam. Es scheint, dass die Pamphletisten der Freiheit mit dem Volk nicht liebevoller umgehen als die Propheten der Diktatur.

Der Beobachter kannte nicht das Volk von Paris, sondern nur seine Revolutionsgeschichte; aber er sagte am ersten Wahltag nicht: ich kenne das Volk nicht, ich liebe es nicht, sondern er dachte bitterböse: wie sehr habe ich recht, wie sehr verdient es meine Meinung!

Der Maihimmel jubilierte über der Glücksstadt und wölbte sich strahlend über dem Ereignis des Tages. Oh, das war nicht die Wahl, sondern der Grand Prix. Das Volk staute sich längs der Champs Elysées und freute sich an der Parade der noch Glücklicheren, die zum Rennplatz fuhren, erfreute sich an der vierspännigen Karosse, in dem die Märchenkaiserin sass, ganz in Weiss, und der kleine Prinz in weissem Uniförmchen, eine schöne Frau, ein hübsches Bübchen, und zwölf weisse Lanciers ritten voraus, zwölf weisse Lanciers hinterdrein, es war ein schöner Anblick und beileibe nicht der einzige, es fuhren viele Göttinnen in den weit offenen Muscheln der Equipagen vorbei, ausladende Krinolinen, die den Kavalier recht in die Ecke oder auf den Rücksitz drängten, grosse Herren doch, gewichtige Cocus oder unverhohlene Liebhaber, oh, die Parade macht Spass, und siehst du ein Phaeton mit einem Schimmel und einem Rappen, so siehst du den grossen Morny mit seiner blonden Herzogin, den Schöpfer des Grand Prix, vielleicht siegt heute Stall Morny, und du kannst auch neben dem entlassenen Walewski die entlassene Walewska sehen, solche Entlassenen kosten den guten Moustachu drei Millionen oder fünf Millionen, musst du wissen, und in dem nagelneuen Kabriolett neben dem nagelneuen Negergroom siehst du dann endlich die Marguérite Bellanger, die kleine Kaiserin des Augenblicks, ein Pariser Kind, ein grosses Luder.

Das ist der erste Wahltag von Paris!, haderte der Beobachter, so sieht nach dem Wahlkampf das Volk aus, die Feste feiernd wie sie fallen, und wahrscheinlich ist der Grand Prix die wirksamste aller Wahlbeeinflussungen. – Oder ist es anders und schlimmer noch als in Figaros Parabel vom überfahrenen Boulevardhund und dem Erdbeben in Japan: kümmert sich diese Stadt nicht einmal mehr um ein politisches Nahbeben, sieht sie nur sich, ihr Volk nur sie? – Man sah es ihm an, dass er mit Gott und der Welt haderte, er sah aus recht wie ein Menschenfresser; aber an der Hand hielt er das Kind Lucile, seine Tochter, die einig war mit dem lieben Gott und der mailuftigen Welt, und so liess er sie denn hinter dem Wall der lässigen Wähler auf einem Eselein durch die kinderlauten Anlagen reiten und trottete nebenher; denn das machte ihr Freude.

Der zweite Wahltag ging zu Ende, Tag ohne Grand Prix, ein ganz gewöhnlicher Tag, wie es schien. Vom hohen Himmel sickerte der Abend langsam herab, ängstlich fast, als sei das Dunkel, das nun folgt, zu scheuen. Diese Stadt ist ja voller Ahnung, sie hat das zweite Gesicht. Sie hat zwei Gesichter. Als die Nacht da war, zeigte es sich, dass es eine besondere Nacht war; denn es herrschte Mondfinsternis. Doch keiner von den vielen Menschen sah in den Himmelskrater, dorthin, wo der dunkle Filz über der Mondscheibe sass. Anders zeigte die Nacht ihre Besonderheit: sie zeigte das zweite, das fast vergessene Gesicht von Paris, das politische Gesicht. Um es zu zeigen, braucht Paris das Volk, sein Volk. Sieh, es war da. Es stand jetzt nicht auf der pompösen Ausfallstrasse des Glücks im reichen Westen, sondern überall im Zentrum, wohin sich auch der erregte Beobachter wandte. Es war das gleiche Volk und ein anderes, so wie es das gleiche Paris war und ein anderes, dunkles, erregtes, mit einemmal gefährliches. Der besondere Nachtfilz sass über der Truggoldscheibe, es herrschte Glücksfinsternis, Paris sieht mit dem zweiten Gesicht nicht sich, sondern das Volk, Nachtgesichter in verfliessender Unzahl. Nächtige Masse ist nicht geheuer, und wenn sie wartet, so ist es, als lauere sie. Rochefort fühlte den Herzschlag bis in die Schläfen, und dann fragte er sich endlich angesichts des Wunders von Paris, ob er das Volk begreife und liebe. Wie kann er das Unbegreifliche und Fürchterliche lieben – und wenn es nicht Angst ist: wie wird er jemals die Scheu vor ihm überwinden, die letzte Scheu vor der Berührung, vor der Hingabe –, er kennt sie doch! Rochefort fühlt sich nicht wohl, er fühlte sich auch nicht wohl im Haufen, der das Maul aufriss, als nach hartdumpfem Schlag der Orsinikopf in die fragwürdige Unsterblichkeit rollte. Schnell die Parabel her wie ein Riechfläschchen: war Camille ein Danton, schamloser Hochzeiter der Masse, war er nicht ein Mann der Feder, gut, der hinterhältigen, aber der keuschen Feder, Pamphletist in der Klausur des Schreibtischs?

Das Volk wartete, nun ja, es lauerte. Dann kamen im Laufschritt die Zeitungsträger mit den Extrablättern. Es sah aus, als seien sie auf der Flucht vor ihrer eigenen Nachricht, sie trugen ja gefährliche Kunde, es war ihnen auch verboten, anderes auszuschreien als: »Die Wahlresultate von Paris!« oder »Paris hat gewählt!« Die Polizei war streng, wenn auch zur Stunde etwas benommen, und ginge es nach dem Innenminister, so gäbe es in dieser Nacht der Mondfinsternis keine Extrablätter. Aber es ging nicht mehr nach Persigny, sondern nach Morny: und so befahl der Kaiser die Verbreitung.

Jetzt plötzlich, wie im Sog der durchstürmenden Zeitungsträger, – nein, dachte der Beobachter und ertrug nicht mehr den Hut auf der verbeulten Stirn, nein, wie im Stoss der Parabel von Paris zerfiel die lockere Front der Wartenden, lief auseinander, nein, lief in lauter kleine Haufen zusammen, und jeder Haufe suchte sich eine Laterne. Da hast du deine Laterne, Rochefort, Leuchte oder Galgen. Einer wuchs aus dem Haufen, damit er Licht habe oder gehängt werde. Rochefort strich sich hastig über die Augen und hob dann den Blick über die Laterne. Dort begann schon, knapp über dem Hausdach mit den Schattenstümpfen der vielen Kamine, das schwarze Nichts, und die Himmelsecke, wo der erstickte Mond schwarzgrau durch den schwarzen Filz gewimmert hatte, fand er nicht mehr. Der Kopf, der über den Köpfen im Laternenlicht schwebte, gehoben oder gehängt, Allerweltsgesicht mit Imperial, rollte die Augen und zeigte die Zähne, und dann lachte er: Hahaha!, laut und kurz, die Köpfe unter ihm lachten mit, laut und kurz, doch nicht kurz genug, dass nicht das erste Schreiwort, Schrei von allen Laternen, ins Gelächter schlug.

»Gewählt!«

Der schwebende Kopf verschwand für die unter ihm hinter dem Zeitungsblatt, das unter den Stössen der geschrienen Namen schwankte.

Gewählt Jules Favre! Gewählt Ollivier! Gewählt Picard! Gewählt Darimon! Gewählt Havin! Gewählt Jules Simon! Gewählt Thiers!

Rochefort starrte auf das schreiende und zuckende Zeitungsblatt in der Luft. – Wie war es doch, flüsterte er, wie war es doch mit dem zuckenden Schleier über dem Gesicht Orsinis und des armen Schachers? Eh bien, mon vieux … eh bien, mon vieux … – Calma, Pieri, calma! – Mourir pour la patrie …

Gewählt in den neun Seine-Wahlkreisen die neun Kandidaten der demokratischen Opposition!

Das Volk brüllt unter den Laternen, und jede Laterne brüllt etwas anderes.

Paris nimmt Rache für den 2. Dezember!

Wir haben Paris erobert!

Paris will die Republik!

Rochefort floh vor den Laternen. Er ertrug den Volksrausch nicht und nicht das Auf spiel der Parabel bis zur Phantasmagorie. Er ertrug den Nachttrug nicht; denn es war Trug, selbst wenn das Revolutionstheater in der Stadt und von dem Volk gespielt wird, das Revolutionen macht.

Und so schob sich denn durch die Soffitten selbst dieser riesigen Nacht ganz leicht der neue Tag, die Junisonne blitzte glücksheiter über Paris, der Hauptstadt, wohlgemerkt, nur der Hauptstadt des Kaiserreichs. Aus dem Reich aber flogen die Wahlresultate nach Paris. Geschlagen die linke Opposition, die in Paris gesiegt hat, geschlagen die Legitimisten, geschlagen die katholischen Unabhängigen, die sich mit der römischen Verbeugung nicht zufrieden gegeben haben, über zweihundert Abgeordnete von nicht ganz zweihundertvierzig stellte die Regierung, gewiss nun nicht mehr die diktatorische.

Der Beobachter lächelt bitter. Der Edeldemokrat ist leider in der Dordogne kräftig durchgefallen, aber Thiers ist gewählt, und die Fünf sind nun fast vervierfacht, und da bildet sich rechts von ihnen ein neues konstitutionelles Fünfzehnergrüppchen. Oh, die Opposition ist erstarkt, man kann jetzt dem Maniaken Persigny, der seine Schuldigkeit getan, den Fusstritt geben und den längst fälligen Herzogsmantel hinterherwerfen. Die Opposition ist genau so gross geworden, wie es der Kriegsgewinnler Morny wollte. Erneuerung, Verjüngung!, nicht wahr, dafür sind die zwanzig Prozent nobel erspekulierter Opposition gerade recht. Man baut sie in die Erneuerung ein, man füllt mit ihr die Injektionsspritze der Verjüngungskur. Das ergibt die Dauer, die Verewigung, – und wenn das ein übertriebenes Wort ist, so genügt schon die kleine Ewigkeit, die länger währt als das Menschenleben, als dein Leben, Rochefort.

O, die Rache für den Staatsstreich! Der Staatsstreichgewinnler Morny quittiert sie dankend mit dem liberalen Kaiserreich.


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