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Der längste Tag

Und achtzehn Tage schleichen über die ewige Poebene, die endlose Feindin des Kriegs. Das Gelände kämpft gegen den Krieg, mit seinen Fussangeln, seinen Regengüssen und jetzt mit seiner Sonne. Das Käppi schleicht nach Osten, dem Feind nach. Oberitalien frei, von den Alpen bis zur Adria! Das Käppi selber hat es proklamiert. Welch eine Aufgabe, wenn sich die schwere Erde an die Sohlen hängt, – was für ein Aberwitz, wenn sich ganz Europa an die Siegerbeine hängt!

Die Kämpfer sollen sich erholen. Man sammelt sich. Der Fehler war die Pincette, die Zersplitterung. Man konzentriert alle Kräfte und rückt vor. Aber wie ernährst du die gewaltige Heersäule, die sich nicht über das Land, das reiche Land zerstreuen darf? Wie böse ist die Erde, Festung der Fruchtbarkeit: das langsame Heer hat Brotmangel. Dieser Krieg ist ein Hohn auf den Sieger. Auch der Feind, mahnt die Vorsicht, kann sich erholen, er kann aus der Addalinie hervorbrechen, aus den Positionen an den Nordsüdflüssen, die, den Vormarsch immer wieder zerschneidend, zum breiten, gelassenen und wunderbar ungestörten Westoststrom eilen, an Serio, Oglio, Mella, – du musst immer in halber Gefechtsordnung marschieren wie Mac Mahon auf Magenta, das geht nicht nach der Uhr, das frisst die Zeit, das macht schwerfällig, – und der Feind räumt auch die Chieselinie. Zur Minciolinie gehört schon das Festungsviereck. Achtzehn vorsichtige Tage: auch Europa hatte Zeit, sich zu erholen.

Die kontrollierende Suite ist auf dem Posten. Der Kriegsamateur ist kein Soldat, aber auch kein Drückeberger; er ist kein grosses N, aber kein schlechter Stratege. Diese Dinge stehen fest. Doch der Dilettant hat sein ziviles Fachgebiet, eine Weltkompetenz, vor der sogar die Militärs stramm stehen: das ist die Politik. Ins Ohr geflüstert, mon camarade: vielleicht ist die strategische Todsünde, Magenta nicht durchgekämpft zu haben, – vielleicht sind Stillstehn, Weiterschleichen, Zeittotschlagen ganz vorzügliche politische Taktik oder Praktik; denn, nicht wahr?, die Zerschmetterung Österreichs würde nicht einmal Russland zulassen. Vielleicht weiss er viel besser als wir, dass Kriegführen und Insurrezione zwei ganz verschiedene Dinge sind und dass es genügt, wenn er der Revolution zuzwinkert, der alte Augur, und sie laufen lässt und, wie neulich, die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, bebt es in der Romagna des verehrten Pio Nono. Vielleicht denkt er viel mehr als wir an die Gefahr am Rhein, wartet er noch sehnsüchtiger als wir auf die Regierung Palmerston (aber dazu wird es noch eines wohltemperierten Siegleins bedürfen; hier zwischen Chiese und Mincio): vielleicht ist er des ganzen mühseligen Geschäfts viel müder, als wir ahnen, – vielleicht hat er schon so grosse Angst vor der Kriegsspekulation, wie wir es ihm garnicht wünschen. Und hört doch zu, meine Herren, hört ganz genau hin, lächelt nicht in die Serviette, nickt mit dem Kopf, wenn neuerdings, an den immer noch wohlbereiteten Abendtafeln, S. M., der schweigsame Generalissimus, redselig wird und mit hängenden Lidern und zwischen Rauchkringeln und aus elegischem Bart humanitäres Zeug salbadert wie einer von den Caféhausliteraten seines unsichtbaren Unterfeldherrn Plonplon: dass der Krieg eine zugleich entsetzliche und beschämende Sache sei, die grausamste und blutigste Form des Zufalls, eine Schande also für das vernünftige und allgemeine Glücksmass des Zeitgedankens, eine Schande also auch der Begriff vom Kriegsglück, vom Profit durch Krieg, das unvernünftigste und asozialste Glücksmass, das zu denken sei, Glück für das Grüpplein der Ruhmgierigen, der Beförderungssüchtigen und der Rüstungsindustrie; aber nicht für die Soldaten, deren massiges Unglück im statistischen Meer der Verlustlisten unterzugehen habe, deren einziges Glück es sei, mit halbwegs heilen Gliedern davonzukommen, und die zu alledem nicht einmal recht wüssten, für welche Sache sie geopfert würden. (Nun, Sire, wer auch vom asozialen Grüpplein weiss das so genau?) Aufgepasst, Exzellenzen, hört hin und nickt verständig mit dem Kopf! Mag eines Kriegsherrn sonderbare Anschauung vom Krieg vom bekanntlich weichen Herzen kommen oder aus der vordiktatorischen Literaturquelle: S. M. pflegt weder aus heiterem noch aus bedecktem Himmel Geständnisse zu machen. Das ist also schon wieder Politik. Das ist unter dem Siegel der Verschwiegenheit an unsere Generalinnen zu schreiben, damit es Eugenie erfahre oder die Walewska oder eine andere Freundin von der Kriegsopposition (von der Abneigung gegen diesen Krieg), damit das Aussenministerium und die Botschafter Informationen erhalten, damit endlich, endlich die Diplomatie zu arbeiten anfange. Denn, ins Ohr geflüstert, lieber Generaladjutant, es scheint doch so, als verlange unser Käppimann, der weltanschaulich bedrückte, jetzt auch nach häuslichem Druck …

 

Der zwanzigste Tag nach Magenta ist der längste Tag des Jahres, der längste Tag vom Schlussjahr des glücklichen Jahrzehnts. Schlacht ist bis zur Dunkelheit, der Krieg hat seinen längsten, grössten Tag. Das Schlachtfeld ist so weit und so reich wie der Tag, selbst das widerspenstige Gelände ergibt sich hier und da dem Krieg, und im Süden gar, bei Medole, gibt es eine riesige Weide, einen klaren, festen, unzerschnittenen Boden, der nicht nur der Kavallerie den lange ersehnten Einsatz gestattet, sondern endlich auch der Artillerie, und hier schoss der furchtbare Niel mit seinen gezogenen Geschützen den Feind zusammen. Aber das war schon am frühen Morgen, und der Tag ist lang, im Norden stehen die bösen Höhen von Solferino, und die hat der Feind, und von dort reissen seine glatten Geschütze breite Blutbahnen in den anstürmenden Block des Ersten Korps.

Im Zentrum der vielschichtigen Operationen, auf einer Anhöhe bei Casa Morino, hält das rote Käppi. Unter den anderen goldbordierten Käppis des Stabes ist der Schlachtenmaler. Er macht die Skizzen des Schlachtenbildes für die Mitwelt und für die Unsterblichkeit. Der Feldherr auf dem Hügel sieht das wilde Bild der Schlacht, er sieht alles, er sah die fatale Lücke zwischen dem Ersten Korps in der Blutarbeit des Solferino-Sturms und dem Zweiten Korps des langsamen Magenta-Herzogs, er hat die Garde herangerufen, um die Lücke zu schliessen, und er hebt den Arm wie alle grossen Feldherrn und zeigt auf die mörderischen Hügel: das ist der berühmte Augenblick des Sturmbefehls für die Garde.

Die schöne Landschaft brüllt und tobt vor Schmerz und Wut, und der siegende Krieg umhüllt sie mit seinem giftigen Atem. Auf den Hügelhängen sitzt der Menschensturm unter gelben Rauchschwaden, das Kastell von Solferino, im Granatfeuer der Batterie vom Monte Fenile (oh meine weittragenden Geschütze!), stösst nur den schweren Turm aus dem Gewölk, vom Zypressenhügel, dem furchtbar umkämpften, stechen nur die schwarzen Speerspitzen der Bäume aus dem missfarbenen Nebel.

Das Käppi sieht nicht viel, der Schlachtenmaler sieht mehr. Jetzt ist auch die Garde, die letzte Reserve, die lange zurückgehaltene und schweren Herzens vorgeschickte, unter den Rauchumhang der Hügelhöhe geschlüpft. Der glühende Mittag drückt auf Qualm und Qual des Schlachtenbildes, geschlachteten Stückchens Erde zwischen Chiese und Mincio, wo dreihunderttausend Menschen ineinander verfilzt sind in dreiteiliger, verwirrter, zerfahrener, nicht mehr zu übersehender Aktion. Von den Alpen bis zur Adria! Das tobsüchtige Solferino liegt so weit von Magenta wie von Venedig: es liegt in der Mitte, und am Mincio erst beginnt die vierfache Fortifikation. Das Gesicht des Käppimannes, schon mehr braun als gelb, etwas abgemagert, schweissnass, sieht ruhig aus, beinahe gleichmütig, und so sah es auch aus, als er das Erste Korps in der Blutarbeit aufsuchte, zwischen der Leichengirlande, zwischen dem Kugelgepfeife, – und Freund Conneaus Pferd wurde getroffen, der Kommandeur der Cent-Gardes verwundet; die kontrollierende Suite stellte in der Frage der Frontnerven seit Montebello beängstigende Fortschritte fest. Der Feldherr raucht und starrt auf den schräg geschichteten Kampfrauch. Man weiss, er pflegt die Augen selten aufzumachen, der immer müdere Mann. Jetzt ist er nicht müde, der Hitze zum Trotz, er trägt nur die Müdigkeit in sich, in den geheimnisvollen Röhren des Körpers, und sie bricht noch nicht aus, sie bleibt noch in ihrer wunderlichen Wandung, es kann sein, dass sie austritt, wird die Spannung oder die Verzweiflung so heftig wie in der Nacht von Magenta, – ja, die Müdigkeit in ihm ist so wie seine Revolution in Europa, sie ist potentiell, und er hat, ehrlich gesagt, nicht weniger Angst vor diesem Ausbruch wie Europa vor dem anderen: er lächelt eine Sekunde lang, die Kontrolle übersieht es. Er schaut aus kleinen Augen, wie Kurzsichtige, auf das umräucherte Bild, aber auch, ganz plötzlich, mit grossen. Ja, er reisst die Augen auf, wohl nur, um besser zu sehen, und dann sieht er aus wie ein entsetzter Seher. Die Kontrolle bemerkt es und flüstert sich ins Ohr: die Weltanschauung … Man hat ihm nachgesagt, dass sein pythischer Blick durch die vertraute Wolke drängt, dass sie ihm nicht Hemmnis ist, sondern Schutz: sieht er auch durch die Nebelwand aus Staub und Pulver, durch den Vorhang der Sturmhölle? Dahinter sind seine vierzehn Brigaden bei der Blutarbeit, Division Forey und Division Camou gegen den Zypressenhügel und den Rocca-Berg, Division Bazaine gegen den Kirchhof, Division Ladmirault gegen das Kastell. Dahinter lauert Europa und wird seine Uhr nach dem langen Tag stellen: Italien wird auf den Weg zur Nation gebracht, aber vielleicht auch Deutschland, Russland wird sich der Leibeigenschaft schämen, aber auf Polen drücken, Palmerston wird zur Regierung kommen, aber die Präpotenz des neuen Glücks verhindern, die Idee wird einen guten Tag haben, aber schon wieder ein unbestimmtes Morgen; denn die Gegen-Idee, die unausrottbare, wird nur einen schlechten Tag gehabt haben. Und dieses alles, alles dieses Halbe und Unzulängliche wird gar nur sein, wenn auf den Leichenhügeln des endlosen Tages die Trikolore weht, die beiden Trikoloren flattern, flatterndes Zeugnis vom Leben des Sieges oder des Siegleins … Der mit dem Käppi kneift wie kurzsichtig die Augen zusammen oder reisst sie auf, wie hellsichtig.

Am Nachmittag dann kann der Schlachtenmaler das zweite Schlachtenbild skizzieren. Der Feldherrnhügel ist jetzt einer der Kampf- und Leichenhügel selber, der Kirchhof gar, einst Hof des Totenfriedens. Rechts ist ein Holzkreuz auf einem Steinsockel, darunter liegt ein österreichischer Offizier: ein französischer Sanitäter hält ihm den Kopf und gibt ihm aus der Feldflasche zu trinken. Im Vordergrund liegen Schlachtgerümpel, zerbrochene Lafetten, Ausrüstungsgegenstände, Weissröcke, Rothosen, Pluderhosen der Zuaven. Links steht eine Gruppe Gefangener, ein Turko hebt jubilierend die Arme. Cent-Gardes, die geschonten Erzengel, säumen das Zentrum ab. Dort hält der Kaiser. Hinter ihm sprengt die Suite heran. Vor ihm präsentieren die Helden der Regimenter die eroberten Fahnen. Der Kaiser hält das Käppi in der Hand. Sein Schlachtross sieht aus, als scheue es sich ein wenig. Im Hintergrund, auf seinem Hügel, steht der Turm des eroberten Kastells, der Turm mit der Siegesfahne, jetzt ohne Rauch.

Aber der Tag ist lang und noch nicht zu Ende, das Schlachtfeld ist gross und noch in mächtiger Bewegung, der Rauch steht jetzt im Südosten, der mit dem Käppi hält jetzt auf dem Monte Fontana und sieht nach Cavriana hin, um das jetzt der Kampf tobt. Er hat wieder auf Gischt und Gebräu des Schlachtbildes zu starren, die Kampfhöllen springen auf wie Geysire, diese Schlacht ist eine siebenköpfige Schlange und Solferino nur ein Kopf, der Kampf dort nur eine Episode. Ist er ein Herakles, hält er es aus? Die unerschöpfliche Glut des Tages sticht durch das Käppi, dicke Wolken stehen um den heissen Brei der Sonne und wagen sich nicht davor. Wieviel Tränen, wieviel Blut! Der Sieg steckt im Nebelhemd, und entkleidest du ihn, so ist es ein Sieglein. Von den Alpen bis zur Adria! Ein Wahnwitz von einem Spruchband. Du steckst in der Mitte und wirst noch sechs Wochen bis Verona brauchen und dreihunderttausend Mann für das Viereck. Du hast die Hälfte und verlierst davon heute fünfzehn Prozent, – was weisst du?, – zwanzig Prozent; denn bis neun Uhr ist es heute hell, und ganz im Süden des Schlachtfeldes, nicht zu sehen, aber furchtbar zu hören, treibt der wilde Niel sein Viertes Korps über Rebecco hinaus auf Guidizzolo durch die Blutfurt, – du verlierst ein Viertel des Offizierkorps, und es wird ein Sieglein, und es darf nicht mehr werden, soll dich nicht die grosse Koalition zermahlen, zur Rettung des alten österreichischen Glücks, oder soll sie wenigstens nicht den Griff lockern, der die am Rhein zurückhält. Man denkt an den Rhein, Cavour, das Hemd ist mir näher als der Rock, der Rhein ist mir näher als der Mincio, und die Sieglein auf der Waage wiegen immer noch schwerer als bebrillte Dämonen und geköpfte Gespenster … – Der Feldherr reisst die Augen auf.

Noch vor dem ersten Donnerschlag geschieht der Aufruhr der Landschaft, das Auftrumpfen der Erde mit den Trümpfen des verhassten Krieges. Sturm setzt ein, ganz plötzlich, zieht eine Staubwand hoch von der Erde bis zum Himmel und zeigt die Spottgeburt, die Kläglichkeit, die Nichtigkeit des Kampfqualms, der im grossen Wirbel verschwindet wie die Schiffsspur in der kochenden See. Und die Schlacht verschwindet, der Krieg verschwindet, der Vorhang ist gefallen, das Kriegsvolk schaut ihn blöde an. Der Feldherr hält das Käppi fest. Das Schlachtross scheut sich vor der riesigen Fahne des kapitulierenden Krieges und dann steigt es hoch, das schussfromme Pferd, vor der Kanonade des Gewitters. Das Donnerwetter zerfetzt, zerschlägt, verschluckt den Kriegskrach der Geschütze und der Gewehre, der gezogenen und glatten. Vor dem grossen Lärm schweigt der kleine, und es ist schon, als sei er nie gewesen. Dann setzt der Triumph des Regens ein und wäscht die Welt wieder sauber. Der Vorhang ist fort, die Sonne scheint nach dem Bade, die Luft ist rein. Vom Feldherrnhügel sieht man die Höhen und die Ebene nach Osten und Südosten zum Mincio zu. Man sieht weithin durch die gewaschene Luft auf das gefällige und übertrieben genaue Bild. Man sieht Infanteriekolonnen, Train, Artillerie, sogar versprengte Trüppchen. Das ist die österreichische Armee auf dem Rückzug, angetreten im Schutz des grossen Vorhangs.

Der Sieger bleibt stehen, so als sei der Vorhang immer noch geschlossen. Er nimmt das Käppi ab, damit die reine Luft die Stirn erfrische. Er verfolgt nicht.


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