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Die Triumphranke

Im August, genau fast am ersten Geburtstag des Boulevard Sewastopol, rückt die Italien-Armee in Paris ein, geschmückt mit den zwei neuen, glorreichen Schlachtennamen, vom Jubel umbrandet, wie es sich gehört, von der schönen Stadt, der eben noch skeptischen, umarmt. Noch ist es das eine und ungeteilte Glück des Kaisers, des Staates und der Stadt. Immer noch spielt der glückliche Offenbach in der Unterwelt.

Der Sommer schwingt seine Goldfahne über das Flaggenmeer. Die grossartige und erfahrene Stadt besitzt für jedes Aufspiel ihres wunderbaren Lebens die gebührende und vielsagende Stätte: sie feiert im offenen Festsaal des Vendôme-Platzes den neuen Sieg des neuen Imperiums. Wo die beiden Strassen auf den Platz münden, im Norden und im Süden, stehen Säulen mit der lorbeerhaltenden Nike. Auf der Westseite laufen mächtige Tribünen schräg hinauf bis zur Höhe des ersten Häuserstockwerks. Zwischen ihnen erhebt sich, baldachingekrönt, die Ehrenloge der Kaiserin und des Hofes. Davor auf freiem Raum, umsäumt vom Generalstab und den silbernen Cent-Gardes, steht das schöne, gleichgültige Pferd mit dem Kaiser.

Über der Brüstung der Ehrenloge und aus allen Fenstern der ersten und zweiten Stockwerke hängen rote Draperien mit dem goldgewirkten, grossen, gekrönten N. In halber Höhe der Nikesäulen hängen Schilder in Gold und Rot mit dem grossen N. Der goldene Buchstabe läuft in zweifacher Girlande rings um den ganzen Platz. In der Mitte steht die Vendôme-Säule, recht düster im Goldglanz des August, der Siegesfeier und der Triumphranke des kaiserlichen Zeichens. Die Spirale ihrer bronzenen Berichte von Austerlitz und dem Ruhmesjahr 05 klettert an ihr hoch, und ganz oben, ganz fern steht der Mann mit dem kleinen Hut. Die Menschenmasse sieht nicht zu ihm hinauf; denn es gibt den lebendigen Ruhm zu sehen, den nahen und neuen, und dazu ist sie da.

Die Kampftruppen ziehen rings um die Säule, mit eigenen und eroberten Fahnen und Geschützen vor dem Kriegsherrn defilierend. Der Kaiser im leeren Raum ist zur Einzigartigkeit zurückgekehrt, er trägt nicht mehr das allgemeine Käppi, sondern den Hut, den Längshut, einen andren wie der Einsame auf der Säule, und er zieht ihn trüben Gesichts und etwas mechanisch in regelmässigen Zwischenräumen.

 

Morny, der Vicekaiser, sass auf der Ehrentribüne und sah dem Kaiser in den Rücken. Wo steht jetzt eigentlich die Zeit, bei wem steht sie? Wölbt sie sich mit dem Prachthimmel über die Glücksstadt, den Festplatz, das Fahnenmeer, steht sie beim Sieger und dem blumenwerfenden Volk, steht sie im Zeichen des einen und unteilbaren Glücks? Ist also alles gut und schön?

Die Zeit ist fragwürdig. Als der Käppi-Kaiser vor drei Monaten in den Krieg zog, in das überaus suspekte Unternehmen, und das Quartier der Revolution ihm die Pferde ausspannte, klarsichtig im allgemeinen Nebel und begeistert in der allgemeinen Unlust, gab sich Morny mit dem Phänomen ab. Er entfernte sich vom Hofchor der zeternden Frager nach dem Sinn dieses Krieges, nach der Absicht dieses Dunkelkaisers, und studierte die erstaunliche Antwort des Volkes. Er kam dem Bruder auf die Schliche, er begriff, ein wenig nachträglich, Jupiters Höllenfahrt, er erkannte die Idee, er bewunderte die Konzeption, – aber er, der grosse Börsianer, zitterte um den kühnen Spekulanten; denn Krieg ist Glückssache. Nun, jetzt wohnte er der Siegesfeier bei. Die Börse fiel nicht und dann stieg sie.

So ist die Frage gelöst und der Vicekaiser der diskrete Bruder von des Kaisers Glück und Grösse?

Als der Sieger vor fast vier Wochen schon aus dem Feld kam, eine knappe Woche nach Villafranca, in aller Eile, und in den Tuilerien den Bruder umarmte, sah ihm Morny in das gebräunte, abgemagerte und abgespannte Gesicht, und dann sagte er, was er garnicht hatte sagen wollen: »Sie haben sehr klug gehandelt, Sire, man bringt die Lawine ins Rollen, aber man rollt nicht mit.«

Der Kaiser sah ihn an und sagte nichts. Vielleicht hatte er ihn nicht verstanden. »Es ist gut, Louis, dass Sie sich von der Revolution getrennt haben. Die Idee läuft ja weiter – Ihre Idee …«

Der Kaiser lächelte. »Die Idee hat zu junge Beine für mich«, sagte er. Morny suchte nach einem Wort des Trostes, nach einem neuen Wort; denn schon seine ersten Worte waren Trostworte. Warum muss man einen Sieger trösten? Ach, dachte er, ich bin ja nicht gesünder als er, das ist der Jammer. Der Kaiser lachte leise durch die Nase. »Als ich jetzt durch Turin kam, Morny, sah ich überall ein gewisses Bild. Raten Sie mal, welches …«

»Ich weiss nicht«, meinte der Vicekaiser verlegen.

»Orsini«, sagte der Kaiser und bekam die Augen nicht auf, »überall Orsini, und die Luft war ganz dick von Flüchen, schien mir …«

Man weiss, der Kaiser sieht zu Pferde stattlich aus, selbst für die Ehrenloge, die auf seinen Rücken hinuntersah. Aber setzt du ihn in Gedanken vom Pferd und entkleidest du ihn der Paradeuniform mit den schulternverbreiternden, goldrieselnden Epauletten, so kommt ein dürftiger Rücken zum Vorschein, ein leicht gekrümmter, ein leicht verzeichneter, und Hängeschultern. Hebst du die Draperie von seinem Sieg, so siehst du einen dürftigen Erfolg, ein Sieglein nach der schlimmen Blutarbeit. Lüpfst du den Vorhang seines Villafranca-Friedens, so entdeckst du einen nicht durchgekämpften Krieg, eine steckengebliebene Idee, ein gebrochenes Versprechen und die ungebrochene Problematik des ganzen Unternehmens, die halbe, die höchst dürftige Antwort auf die fatale Doppelfrage: die italienische und die römische. Kehrt also auch nicht, auf blutüberschwemmtem und dukatengepflastertem Umweg, die hämische Zeitfrage nach dem Sinn dieses Krieges zurück, schon jetzt, in dem goldenen Rausch dieser Augustfeier, im Schlepptau das Geraun vom Unsinn dieses Krieges?

»Gottseidank«, hatte Morny dem Bruder gesagt, auch dies zum Trost, »der Cavour hat abgedankt, den sind Sie los, Louis.«

»Hoffentlich nicht«, hatte der sonderbare Sieger geantwortet; »denn er läuft ja mit der Idee weiter, er hat die Beine dazu.«

Es war also falsch, den Kaiser zu trösten, das Unerreichbare mit dem Nichterreichten zu verwechseln und das Erreichte zu unterschätzen. Denn er liess die Idee nur laufen, er behielt sie im Blick, vielleicht gar am Zügel, und nichts wies darauf hin, dass er das Unternehmen bereute oder dass die eilige Liquidierung des Krieges weit ausserhalb des Planes lag. Er selber, Morny, gehörte ja zu den Druckverstärkern, als die ersten Zeichen von der feldherrlichen Bedrückung durch das Röhrensystem der Generalskorrespondenz nach Paris tickten. Von den Alpen bis zur Adria war ein Versprechen und wäre der europäische Krieg. 350 000 Mann hatten Preussen und der Deutsche Bund mobilisiert und 150 000 Mann hatte der Feldherr zuwenig, um Verona zu nehmen. Die Lage war so deutlich wie die Zahl, die hinter dem Rhein zu gross und vor dem Mincio zu klein war. Jetzt galt es, den richtigen zeitlichen und geographischen Punkt für die Demonstration des humanen Sieges zu finden, der kaiserlichen Massigkeit, wie man sie schon vom Krimkrieg her kannte. Nach Solferino, halbwegs zwischen Magenta und Venedig, schossen die klugen Druckverstärker von Paris die drohende Rhein-Zahl ins Hauptquartier am Mincio und erwarteten wohlvorbereitet den Auftrag, mit der diplomatischen Brückenarbeit zu beginnen. Aber der sonderbare Sieger, der echt oder falsch bedrückte, schlug sich die Brücke selber. Er schickte seinen schimmernden Generaladjutanten zur Vorbesprechung nach Verona und traf sich dann mit dem jungen Kaiser in Villafranca. Die beiden Souveräne und ihre Suite trugen Felduniform, ihre Eskorte aber Paradeuniform, das war vorher verabredet worden, und die Erzengel der Cent-Gardes übertrafen die Leibulanen bei weitem an Schönheit. Die sehr höfliche Unterhaltung im Hause eines Signor Gandini-Morelli dauerte eine knappe Stunde. Der Sieger erhält die Lombardei, die er schon hat, und übergibt sie seinem Alliierten von Piemont, sozusagen als Anzahlung auf das geeinte Italien oder als Abzahlung des halbierten Versprechens. Der Besiegte aber behält Venetien, und die kleinen Potentaten werden in ihre mittelitalienischen Gebiete zurückkehren (und Plonplon, Craint-plomb oder Fürchteblei der Krim, Korpsführer und Revolutionierer des italienischen Krieges, auftretend nach der Schlacht von Solferino, – der immer noch wichtige Plonplon weiss, dass diese restaurierten Grossherzoglichkeit und Herzoglichkeit nicht lange dauern werden, aber dass sie nicht ihm Platz machen werden, dem Gernekönig, sondern dem Herrn Schwiegervater), und alle diese Teile, k. und k. österreichische, königlich piemontesische, grossherzoglich toskanische, herzoglich modenensische, sollen sich flugs zum italienischen Staatenbund zusammenschliessen, mit dem Kirchenstaat, mit Neapel: den Heiligen Vater als Ehrenpräsidenten. Was für ein sonderbarer Plan, wenn die nationale Revolution schon durch das Land rast! Oder was für eine infernalische Taktik des Siegers, Halt zu machen und Massigkeit zu üben, während die unmässige Lawine der Idee abrollt.

»Man hat mir erzählt, Morny«, hatte der Kaiser gesagt, tief im Sessel sitzend, die Hand über den Augen, »dass in der Nacht nach Solferino während des österreichischen Rückzugs über die Minciobrücke von Valeggio eine furchtbare Panik ausgebrochen wäre, wenn sich nicht der junge Kaiser vor die Brücke begeben hätte. Er stand dort und sah die Leute an, die eben noch rasend drängenden und bis zur Meuterei disziplinlosen, und das genügte. Das ist die mystische Macht des alten, des uralten Kaiserglücks. Und ich sah mir dann den jungen Menschen in Villafranca an, ich war neugierig. Er ist kühl und korrekt, ich halte ihn für mittelmässig an Gaben und Geist; aber er ist aus Hoheit und Würde zusammengesetzt, aus uralter Hoheit und Würde, und er ist jung, junger Haltering um seinen Moderstaat. Er braucht keine Idee, er ist sie und braucht garnicht mehr dafür zu tun, als lange zu leben. Er ist so von sich durchdrungen, schien mir, von seiner Lebenspflicht, von seiner Kaiserpflicht, dass er lange leben wird. Dadurch wird er alle verlorenen Kriege, durch sich die Monarchie erhaltend, dennoch gewinnen. Ich aber bin alt, Morny, die Idee und das Reich sind viel zu jung für mich, und manchmal falle ich in die Müdigkeit wie in einen See, und die Müdigkeit ist doch in mir drin, ich falle in mich wie in einen See, – können Sie sich das vorstellen, Morny?«

Das war nun der Augenblick gewesen, wo Morny den Rettungsplan fasste, den »Plan« schlechthin, diskreten Bruder der kaiserlichen »Idee«. In diesem Augenblick, in dem sich Neigung, Angst und zugleich doch auch ein überraschendes Selbstbewusstsein verfingen, sah der Vicekaiser plötzlich seine Aufgabe, in Umrissen zwar und aus manchen Gründen noch nicht reif zur Aussprache, aber doch als Kern der politischen Überlegung dieser Kriegsmonate. Warum war denn, bei aller inwendigen Dürftigkeit, das Kriegsergebnis meisterlich drapiert und zeitlich von grossartiger Diplomatie? Doch nicht nur, weil Palmerston sechs Tage nach Solferino ans Ruder kam, weil er und selbst die Russen nach dem wohltemperierten Halbsieg des neuen Glücks sich in Berlin für die Vernunft einsetzen konnten, weil jetzt in Italien die französische Geltung der österreichischen den Rang abgelaufen hatte, weil die Pakte von 1815, die schon zwei Generationen freier Geister quälten, zu gewichtigen Teilen revidiert wurden und sogar Österreich zu innerpolitischen Reformen schritt, – nicht nur, weil das neue Kaiserreich in Europa, nehmt alles nur in allem, gebieterisch dastand: dies alles waren nur die Symptome des grossen geistigen Erfolges der Zeitbewegung, nun ja, der Demokratie. Der autoritäre Kaiser hat den Krieg mit dem allgemeinen Käppi gemacht, den demokratischen Krieg im Bunde mit der europäischen Freiheitssehnsucht. Er hat das neue Glück deutlich uniformiert, er hat unter dem sichtbarsten Zeichen gewonnen. Was stimmt jetzt nicht mehr? Die innenpolitische Diktatur des europäischen Demokraten. Was also ist die Verhütung des Bruchs, die Rettung, die einzige Rettung des Imperiums vor der Zeit, der vicekaiserliche »Plan«? Das liberale Kaiserreich.

Morny war vorsichtig gewesen. Bei Offenbach lernten die Götter noch immer den Höllencancan, und Jupiter empfahl sich in unterschiedlicher Gestalt. Es gab die Freude am doppelten Boden, Wendigkeit und schwarze Magie der Politik, die nach innen die russische Knute und nach aussen die phrygische Mütze schwenkt, und der Kaiser liebte bekanntlich die Verschwörer-Technik, und seine Ideologie kommt nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Hirn. Morny hatte nach dem denkwürdigen Augenblick nur die politische Amnestie vorgeschlagen, auch für die Staatsstreich-Verbannten.

»Auch für meinen Londoner Freund Louis Blanc?«, hatte der Kaiser lächelnd gefragt.

»Gewiss.«

»Auch für den Dichtergott von Guernsey?«

»Ja.«

»Sie werden bei ihrem propagandären Bedürfnis die Begnadigung wahrscheinlich ablehnen.«

»Wäre das die schlechteste Lösung des Problems, wenn sie wegbleiben und sich zugleich ins Unrecht setzen?«

»Also Amnestie. In diesem Frieden wird nichts als Pardon gegeben.« –

Morny sah dem Sieger in den Paraderücken. Für den Plan braucht es Zeit. Es wird darauf ankommen, wieviel Zeit ihm zur Verfügung steht. Die Brüder haben ein gleiches Gefühl, ein Angstgefühl, Gefühl von Zeitnot. Der Kaiser zieht mechanisch den Hut und schliesslich setzt er ihn nicht mehr auf, sondern hebt ihn immer nur bis zur Stirnhöhe, und selbst sein Rücken sagt aus, dass er sehr müde sei. Morny versprach sich, die Zeitnot zu überwinden, er redete auf sich ein, er rief sich auf, er war ja noch nicht fünfzig. Nicht weit von ihm sass die schönste Kaiserin in weisser Robe. Er sah nicht hin. Sie gehörte zu den Druckverstärkern, sie glaubte vielleicht, sie, die Regentin, habe den Krieg beendet. Sie hat vielleicht gelernt zu glauben, dass es von nun an auf ihren Druck ankommen werde. Sie lächelt dem Platz zu, sie allein, in ihrer vollkommenen Repräsentation, ist nicht insgeheim dürftig, die Fremde, sie in der Ehrenloge des Sieges stellt das Märchenglück des Reichs dar, sie ist zufrieden und glücklicher als die Brüder. Sie kennt keine Zeitnot, die Brüder wissen es. Morny lächelt bitter, vielleicht wird sie ein Sieger wie Franz Joseph.

 

Wie oft schon und wie lange noch sitzt der Kritiker Rochefort im Zuschauerraum des wirren Zeittheaters? Es ist fast ein Wunder, sicher doch das Zeichen eines ungewöhnlichen Temperaments, dass er immer noch nicht klein beigibt, durchaus nicht die übermässige Deutlichkeit der Szene als einen Beweis ihrer Wahrhaftigkeit oder ihrer Gültigkeit hinnimmt und weniger als je gewillt ist, sich mit der Rolle des resignierten Chronisten oder gar des anonymen Witzboldes zu bescheiden. Es hat zwar einen Augenblick von überaus heftiger Anschauungskraft gegeben, für ihn einen Augenblick der Verzweiflung. Doch das ist nicht heute beim gutgemachten und pompös ausgestatteten Siegestheater: das war vor drei Monaten, als vor seinen Augen die Bastille-Stürmer dem Käppi-Kaiser die Pferde ausspannten. Rochefort ist ein zu erfahrener Theatermann, um nicht zu erkennen, was gestellt ist und was sich stellt. Aus den alten Revolutionsvierteln kommt keine Komparserie für Neukaiserszenen. Der Empörerjubel für den präsumtiven Befreier gefesselter Nationen ist echt gewesen: es war zum Verzweifeln. Seht ihr denn nicht, dass es mit dem neuen Kreuzzug nicht stimmen kann, wenn man euch arme Jubilierer gerade erst in die Zwangsjacke des neuen Sicherheitsgesetzes gesteckt hat? Seht ihr denn nicht den Machtwucherer und Taschenspieler, wie er noch mit einem abgeschlagenen Kopf die Doppelvolte schlägt und aus einem politischen Verbrechen, das er zugleich sühnt und ausnützt, doppeltes Kapital schlägt und es gleichzeitig auf beide Seiten setzt, auf Links und Rechts, Rouge et Noir, Freiheit und Zwang, und wie die eine Hand ganz genau weiss, dass sie anders spielt als die andere! – Nein, sie sahen es nicht, sie jubelten ihn in den Krieg hinaus, und dort war doch, bei ihm war doch der verehrteste Mann der internationalen Freiheitssehnsucht, die neue Revolutionslegende: Garibaldi, bei ihm waren Cavour und, wie man raunte, auch der grosse Ungar von 48, hinter ihm schritten vielleicht schon alle anderen Fackelträger der nationalen Revolutionen, der internationalen Revolution, und er schenkte den Jubilierern Magenta und Solferino – schwere Zeit für Rochefort –, und dann? Dann schenkte er ihnen die Erfüllung des Friedens? Rochefort lacht, o, er kann wieder lachen. Da hat der Taschenspieler ganz mit einemmal einen Frieden in der Hand, ein unscheinbares und kantiges Etwas, einen kaum sichtbaren Schlagring, und damit schlägt er den Jubilierern ins Gesicht.

Übertreibst du nicht wieder, Rochefort? Gelingt es dir wirklich, dich taub und stumm zu stellen, aus Rechthaberei oder, richtiger gesagt, aus Selbstsucht, aus der Sucht nach Selbstbestätigung? Sind denn die enttäuschten, verratenen, geohrfeigten Jubilierer verstummt oder sind die blumenwerfenden Hurrabrüller auf der Galabühne vor dir etwa schon wieder eine andere Besetzung? Und sollte der Machtwucherer, der doch nicht dumm ist, der Cavourschen Blitzbrille zuliebe nochmals dreissigtausend oder fünfzigtausend Menschen opfern, französische Menschen, und dann doch gegen das vereinte Europa untergehen, das Land mit ihm, willst du diesen Weg des Tyrannensturzes, Rochefort, hast du nicht, als einziger vielleicht, damals am doppelbödigen Gerichtstag gegen die fluchwürdige Propaganda für den Interventionskrieg gewettert, – ganz für dich natürlich, wie immer? Und weisst du denn so gewiss, dass sich der Taschenspieler, Jupiter in allen Gassen, so ganz besinnungslos und endgültig von der Revolution getrennt hat, die doch weiter läuft?

Doch Rochefort lacht recht infernalisch, das Spitzbärtchen in der Schere der Spinnenfinger. Neben ihm sitzt Chefredakteur de Villemessant, der Figaro von Paris, jener Mann, dem der überfahrene Boulevardhund wichtiger ist als das Erdbeben in Japan. »Was freut Sie so, Rochefort, die vielen grossen N?«

»Ich addiere, ich addiere, und die Summe ist ein einziges kleines … und dabei werden wir niemals mehr so viele bei einander sehen …«

»Nana«, meinte der andere, »unterschätzen Sie nicht den Zirkusdirektor da unten in der Manege auf dem Pferd. Er versteht sich auf das Glück der grossen Zahl, der grössten Zahl. Das ist seine Art Demokratie.«

»Möglich«, lacht Rochefort, »und wie Sie vielleicht beobachtet haben, hütet er sich, die berühmte Säule hinaufzusehen, so als habe er einen steifen Hals, – und bei alledem ist der Dressurakt heute sein Höhepunkt …«

»Es verlautet«, meint der Chefredakteur nach einer Pause, »dass er im neuen Jahrzehnt neue Nummern zeigen wird, etwa die scheinbare Dressurlosigkeit, zunächst unter probeweisem Verzicht auf den Maulkorb …«

Rochefort sieht ihn an, man kennt Figaros Beziehungen zur hohen, zur zweithöchsten Stelle. »Kommt dann Offenbach in den Olymp?«, fragt er.

»Bleibt dann Rochefort in der Unterwelt?«, fragt der andere zurück.

»Was soll das heissen?«

»Es kann vieles heissen, wenn der Maulkorb probeweise fällt. Zum Beispiel: Rochefort als Chronist im »Figaro«.«

Rochefort lacht recht wie ein Teufelskerl. Sein Töchterchen ist schon lange so weit, dass es an seiner Hand spazierengehen kann: gibt es etwas Schöneres? Das Kind ist blond und rundgesichtig, süss von Antlitz, das glatte Stirnchen ohne Protuberanzen, das kleine Wunder heisst Lucile. Man wird ihr neue Kleidchen kaufen, Puppen und Puppenwagen und bunte Bälle, man wird endlich die Bürofron abstreifen und die Redaktionen in Ruhe lassen können: der Figaro zahlt gut. Man wird natürlich auch brandstiften.

 

Der Kaiser hebt nicht mehr den Hut auf und ab, der Arm ist müde, der Hut hängt an der hängenden Rechten, er nickt nur noch mit dem Kopf.

Dann aber – Rochefort sieht es nicht, Rochefort denkt an Lucile – hebt er den Kopf, und sein Blick klettert an der epischen Spirale die Säule hinauf, ganz hinauf bis zum fernen, kleinen Mann mit dem Hütchen. Was soll der Querhut in aller Ewigkeit, soll er noch den Sohn bedrücken? Was ist Friede? Friede war, nach aller Angst und Rechnerei, Mut, Trug und Ruhm, Blut und Tränen, – Friede war, als er den Sohn wieder auf den Knien hielt, die Lippen an seinem weichen Haar, und niemand da war, niemand sprach. Was wollte die mühselige Idee anderes, als dem Sohn den Weg bereiten? Der Querhut hat ausgespielt, der Sohn soll die Kappe tragen wie alle, der Sohn soll den Kopf frei haben vom gefährlichen, vom unmöglich gewordenen Putz der Einzigartigkeit. Man wird den Hütchenmann auf der Säule durch den gemässen Gott ersetzen, durch einen barhäuptigen Cäsar, man wird ihn so hoch in die Wolken schieben, dass er die Erben nicht mehr bedecken und bedrücken kann.

In der Ehrenloge neben der Mutter sitzt schön und artig das Söhnchen, in einem Puppenuniförmchen, und freut sich auf seine stille Weise. Er streichelt den Korb des Säbelchens oder das zierliche Bandelier. – Loulou hinter mir freut sich, denkt der Vater; das stärkt ihm den Rücken, und er hebt wieder den Hut auf und ab.


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