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Ein Pfeil war wieder abgeschossen, und es gab einen Sebastian mehr, noch keinen von den Grossen und Berühmten, noch kein schlimm getroffenes Gemüt, sondern nur ein angeschossenes Lippenbekenntnis zur Republik. Wie war es mit dem Schützen Morny selber, nahm ihn keiner aufs Ziel, ging er allein heil und stichfest seinen glücklichen Weg? Es schien so zu sein und es war ihm selber etwas unheimlich; denn er sah viele Pfeile fliegen, er sah die Treffer und die Getroffenen, und er fragte sich, wie lange sie es aushalten würden. Die Angst galt ja dem Bruder.
Der Heilige Vater sass auf dem Throne Petri, das Antlitz weiss wie das Kleid oder weiss wie Marmor; denn es war von heiliger Härte, und es war Ende April, dass er während der Frühmesse zusammenbrach, nein, dass er starr wurde wie ein weisser Stein, leblos hart, über den gütigen Augen die bleichen Lider, und er sass wie ein aufgerichteter Sarkophag, steinhart über der weltlichen Macht und nicht zu bewegen, und die Kunde von seiner Sterbensstarre drang in die Welt. Cavour, so als wüsste er, dass Pius nicht stürbe, sondern sich in Härte verewige, – so als wüsste er ganz genau, was es mit dem Pfeil sei, der vom grossen Jäger kommt, gab die heimlichen Verhandlungen mit Rom auf und begann wieder heimliche Verhandlungen mit Paris.
»Ich lasse ihn nicht nach Rom«, sagte der Kaiser gelben Gesichts, und er flüsterte es wie aus dem Schlaf; denn es war schon die Zeit, wo er plötzlich einschlief, zu unziemlicher Stunde, aber auch plötzlich aufwachte und alles gehört zu haben schien, was gesprochen wurde, alle bösen Worte der schönsten Frau gegen das neue Italien, gegen die Politik ihres Mannes im Äussern und im Innern, ja, gegen Frankreich, das ungeliebte Land, und der Kaiser fuhr auf, wie aus dem Schlaf, und flüsterte wach und böse: »Wahrhaftig, Eugenie, Sie vergessen zweierlei: dass Sie eine Französin sind und dass Sie einen Bonaparte zum Mann haben.« Oder er schlief wieder und hörte Cavours grosse Rede zur Proklamation des Geeinten Königreichs und seine grossen Worte an wen?, an Deutschland, – und er sah den preussischen General von Bonin in der Ehrenloge, und die Gedanken flogen wie Pfeile, Gedanken über das geeinte Deutschland, – will Cavour das Exemplum sein? – Gedanken über die Revolutionierung Deutschlands, wenn es nach der alten, grossen Idee gehen soll, – böse Gedanken über die Verpreussung Deutschlands und über Cavour, der dem Preussengeneral huldigt und vielleicht von jenseits des Rheins Pfeile schiesst, damit Rom frei wird, – aber ich lasse ihn nicht nach Rom!, ich habe ihm nicht meine Seele verschrieben!, aber es gibt keinen preussischen Cavour, keinen Preussen-Dämon, Gottseidank und leider! – Es gibt kein Bündnis mit Preussen? Aber es gab doch schon auch diesen Gedanken, es gab doch schon zwei, drei höchst offenherzige, wenn auch resultatlose Gespräche darüber, mit einem riesengrossen Junker und Realpolitiker, Bundestagsgesandten, jetzt preussischen Geschäftsträger in St. Petersburg, Feind Österreichs. – Es gibt kein Bündnis mit Preussen? – Der Kaiser wacht auf: nein, er gewährt noch nicht die Anerkennung des neuen Regno d'Italia, noch nicht, noch nicht.
Der Papst ist aus Stein, Cavour aus Stahl, der Kaiser ist nur ein wacher Schläfer und seine Rüstung die Nebelkappe. Wer hält es am längsten aus? Morny darf für den Bruder Angst haben; aber es ist gut, dass er da ist, der Vicekaiser, der lächelnde Vierte, der unbeschossene Schütze. Man darf selbst die Angst in Kauf nehmen. Doch warum zögert der Kaiser mit der Anerkennung des Regno, für das er gekämpft hat und beschossen wird? Die Proklamation war im Februar, jetzt ist April. Worauf wartet er, auf welchen Pfeil? Wartet er auf den Tod des Pio Nono, aus dem schon ganz vertrackten Zwang der alten Dankbarkeit? Doch der Papst ist aus Stein. Versteinte haben längere Dauer als Verschlafene.
Es war April und fast am gleichen Tag, an dem der Heilige Vater in die Starre fiel wie ein Sterbender. Rührt Gott sich endlich in Mitleid für Christi Stellvertreter, – nein, nicht der mitleidige Gott, was tut der heilig Widerspenstige mit Mitleid: rührt endlich sich der rächende Gott? Am gleichen Tag fast tritt der rote Mann aus der Klause seines Grolls, steht im Parlament als frisch gewählter Deputierter von Neapel, lässt den Zorn los, verlangt die Gewalt für das »bewaffnete Volk« und schiesst mit furchtbarer Kraft den Pfeil gegen Cavour ab, gegen den Landesverräter und die verlogenen Helfershelfer seiner Verbrecherpolitik, gegen den Mann, der ihn heimatlos gemacht und Nizza und Savoyen an Napoleon verschachert hat. Den revolutionären Anspruch des Volkshelden schüttelt Ricasoli ab, der grosse Florentiner mit dem Römerkopf, aus der Verteidigung des Regno wird eine mächtige Anklagerede, und das Merkwürdige geschieht: Cavour, sehr blass, beugt sich zu seinem Nachbarn auf der Ministerbank: »Wenn ich morgen sterbe, ist hier mein Nachfolger.« Hat denn der Pfeil so tief getroffen? Cavour steht auf, sehr blass, und redet: »Ich weiss, dass zwischen dem General Garibaldi und mir ein Abgrund liegt …«, und er redet weiter, ohne ein hartes Wort für den Beleidiger, er zeigt auf seinen gewaltigen politischen Bau, der nun schon unter Dach ist, er fordert Vertrauen, – und der rote Mann ist so allein im Parlament wie auf seinem Felsen Caprera.
Der Kaiser fährt auf, wie aus dem Schlaf: »Cavour ist krank. Er kommt nicht nach Rom.«
Cavour hat Sumpffieber. Er arbeitet noch, zwischen Frost und Hitze, Schmerzen, Erbrechen und Delirien, bis in die letzten Maitage, er arbeitet noch seine zwanzig Stunden am Tag, wie immer, auf seinen Christophorus-Schultern ruht ja das junge Regno, er will es noch über die Furt bringen, auf den festen Boden der Staatsvereinheitlichung. Dann gibt er zu, dass ihn der grosse Cacciatore getroffen hat, und er hat nur ausgesehen wie der rote Mann und ist doch knochenweiss. Dann, am 5. Juni, kam der Pfarrer von Santa Maria-del-Agnolo zu dem Verfluchten, ein mutiger und gütiger Priester zum gläubigen Kirchenräuber, und er verabreichte ihm die Sakramente, nahm ihm die Beichte ab, erteilte ihm die Absolution, gab ihm die letzte Wegzehrung und forderte keinen Widerruf von dem Exkommunizierten, – und so tapfer und gütig und eingeschlossen ins Beichtgeheimnis stand der Pfarrer auch ein wenig später vor den Richtern der Inquisition. Und der harte Heilige Vater öffnete die gütigen Augen und liess diesen Pfeil in seinem Fleische und tat dem Priester nichts.
Der Kaiser, tief im Sessel, sah zum Bruder auf. »Cavour ist tot, Cavour ist tot, Cavour ist tot.« Er flüsterte es drei Mal. »Er kam nicht nach Rom, nach Rom, nach Rom.« Er sagte es drei Mal, und dann rief er: »Ich erkenne das Regno an!«
Es war kein Triumphgesang. – Er bleibt als Sieger fragwürdig, dachte Morny.