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Die Glücksmächte bestimmten auch die Sommerfrische. Da es wie im Märchen zuging und man gezeigt hatte, wie man die alte Stadt Paris verjüngt und verschönt, bestimmte man nicht alte Bäder, sondern zauberte neue. Man wies mit dem Finger auf abseitige, unbekannte, elende Fischernester und sagte den schlichten Zauberspruch: hier gefällt es mir, – und schon marschierten dorthin die Arbeiterbataillone und die Kobolde der Spekulation, schufen kaiserliche und vicekaiserliche Sommersitze und um sie herum Hotels und Villen plötzlicher Modebäder. Die Kaiserin war Spanierin, man weiss es nur zu gut, sie zeigte auf die äusserste Südwestecke des Imperiums, wo das schöne Volk der Basken, zwischen Ebro und Adour lebend, den Wall der Pyrenäen und die Grenze überwindet und ein Stückchen Heimat in Frankreich auftut. Dort an der Baskenküste ist Biarritz. Dort gefiel es ihr, auch dem Kaiser, obgleich er tiefer in den Sommer hinein in Saint-Cloud zu bleiben pflegte, allein, wenn auch nicht ganz allein; und das neue Zauberschloss von Biarritz hiess füglich auch nicht nach ihm, sondern nach ihr: Villa Eugenie. Doch der Vicekaiser war Pariser, und der Pariser liebt seine Stadt so sehr, dass er nicht weit von ihr sein kann. Der Vicekaiser war ausserdem kein Freund der Spanierin, und wenn sie an die Baskenküste geht, so geht er recht gegensätzlich ins Calvados. Dort hat er ein Fischerdorf mit weitem Strand nicht weit von Trouville, dem alten Bad, gefunden: Deauville. Dort gefiel es ihm.
Die Villa Eugenie war ein grosser Ziegelbau mit weisser Steineinfassung, für eine Villa zu mächtig, für ein Zauberschloss zu schwer. Sie lag auf einem Plateau über dem Strand, nicht weit vom Leuchtturm, ihre balkonreiche Front sah auf das Meer, auf die immerböse, doch niemals graue Biskaya, die sich violett fleckte, wenn sie in Wut kam, und das geschah oft: dann peitschte sich der weisse Gischt den schwarzen Klippenturm hinauf, der genau im Blickfeld der Villa aus dem Meer stiess. Die schönste Kaiserin sass unter dem Pavillon auf der weit vorgezogenen Terrasse und sah dem ewig unentschiedenen Ringkampf zu, ihre kalten Augen wurden schmal und etwas grausam, ganz so, wenn sie hin und wieder des Sonntags in Bayonne dem immer entschiedenen Kampf des schwarzen Stiers gegen die weiss-strumpfigen Menschen zusah; denn sie liebte auch Stierkämpfe. Ihr grosser Strohhut bog sich im ewigen Westwind, ihr Haar war sehr blond. Hinter ihr sassen die holden und kostbaren Frauen ihrer Umgebung in bequemen Stühlen, plauderten, naschten Konfekt, vom spanischen Zeremoniell sommerlich frei, und kannten das Meer zur Genüge. Neben ihr stand ein wunderschöner, ziemlich junger Mensch.
Man kannte ihn gut und sah ihn schon etliche Zeit, seit ein oder zwei Jahren, in der unmittelbaren Nähe der Kaiserin, hier, in Paris, in Compiègne. Eugenie kannte ihn noch viel länger, aus ihrer Mädchenzeit, als der Schöne, damals Sekretär der Gesandtschaft seines Landes in Madrid, ein guter, ein sehr guter Freund ihrer Mutter war. Die Gräfin Montijo sah junge und schöne Männer gerne, man weiss es, ihre Tochter Eugenie war gleichgültiger; und keine von den holden Frauen hinter ihr auf der Terrasse, keine von den liebenswerten und erfahrenen Buchführerinnen der reizend wechselnden Beziehungen zwischen den grossen Damen und den grossen Herren ihrer Welt kopulierte auch nur in Gedanken die schönste und reinste Kaiserin mit dem südländischen Beau, dessen Haut olivenfarbig und dessen Augen ölig waren. Was die beiden verband, war zunächst die Sprache und dann die Erinnerung an das gemeinsame Madrid; und was sie in der letzten Zeit immer häufiger zusammenführte und ihn gerade an diesem Hochsommertag des Jahres, in dem Cavour starb und die Unruhe doch nicht allein über dem alten Kontinent hing, nach Biarritz hetzte, war grosse Politik. Es war so grosse Politik, dass sie den alten und den neuen Kontinent wie eine Lianenbrücke verband, noch dünn und schwankend, aber zäh. Don José Manuel Hidalgo stand neben Eugenie, vor ihnen ritt die Brandung das gewohnte Turnier gegen die stiernackige Klippe, der Mann hatte die schmale, sanftbraune Hand über der Brust auf dem feinen, sanftbraunen Tuch seiner Redingote, er sah aus wie ergriffen; aber er griff doch nur an die Brieftasche, in der die Depesche lag, eine höchst nüchterne, wenn auch äusserst wichtige Nachricht. Es lag indessen in der Natur der Sache, die Romantik der Eugenie mit ebensoviel Verständnis wie Behutsamkeit zu behandeln; es wäre sogar schon falsch, die Depesche zu zeigen, während das Meer seinen sehenswerten Schaum schlug, es wird auch nicht ganz einfach sein, den Inhalt der Depesche ins politische Kastilianisch der Eugenie zu übersetzen, einer märchenhaften, also unsachlichen Frau.
Don José hiess so spanisch wie möglich, so spanisch wie er aussah. Aber er war Mexikaner.
Zwischen Biarritz und Deauville liegt das Imperium in seiner ganzen Ausdehnung, und darüber wölbt sich der goldene Sommer. Aber das goldene Jahrzehnt ist vorbei, die Glocke der Glücksdiktatur hat einen Sprung, sie klingt nicht mehr voll und melodisch, sie wird in Stücke gehn. Morny in Deauville rechnet damit und arbeitet am zweiten Guss, er kennt die Zeitlegierung. Er kennt aber auch den Bruder, den sonderbaren Glückslegierer, und weiss, dass der Schläfer voll ist von Zeitideen, bis zur Betäubung voll, dass sein Hirn – zu ruhelos, um nicht den Körper matt zu machen – kaninchenhaft Gedanken zeugt, weiss Gott, wohin sie laufen; dass er kein Sämann ist, der Saat streut und weiss, wohin, und weiss, wozu, sondern ein Busch voll schütteren Samens: weiss Gott, wohin der Wind ihn weht. Die eigene alte Revolutionsidee war es, die, in das neue Glück gemischt, jetzt den Sprung trieb in das vergoldete Metall der Diktatur und die den Kontinent erschütterte, weiss Gott, wie tief und wie lange und mit welchen Folgen. Und der Wind, der immer weht in dieser Zeit, schüttelt immer neue Ideen auf, neue und alte, und trägt sie fort, weit über den Kontinent hinaus. Was soll der Ideenmischer tun? Schlafen oder sich schlafend stellen? Was nützt das? Sich anderer Wollust auf tun, immer wieder? Was nützt das? Den Ideen die Politik nachjagen? Wie heillos verwirrt er die Welt, wie fordert er das neue Glück heraus! – Oder sterben?
Selbst damit rechnet Morny, der lieblose Zeitgenosse. Doch er glaubt nicht mehr daran. Die Zeitstunde hat wohl an dem Tod des einen Sebastian und Ideenschützen genug, der Tod Cavours hat den Kaiser um ein Stück Leben reicher gemacht, das fühlt Morny; denn vielleicht hatte der Bruder dem Turiner Dämon doch die Seele verschrieben. Aber selbst der Tod tötet nicht die Aussaat, nicht die windigste. Muss man füglich als Reformer auch mit diesen unbekannten Grössen rechnen, so darf man sich doch wiederum nicht in die höchst schwierigen Gleichungen ganz und gar versenken: sonst kommt das Naheliegende zu kurz, nämlich das Imperium. Warum hat denn Morny das Aussenministerium abgelehnt? Weil er weiss, dass die Rettung von innen kommen muss. Das Hemd ist wichtiger als der Rock. Die Nähe ist wichtiger als die Weite, und je weiter die unkontrollierbare Aussaat fliegt, desto ungefährlicher ist sie für den Heimgarten, den Morny bestellt. Man war im vorigen Jahr, im Korsarenjahr, im Augenblick der heftigsten europäischen Nervenprobe, an sehr entfernten Erdstrichen zu sehen, die Trikolore flatterte mit Gloire in China und als Feldzeichen der christlichen Würde in Syrien, in der Nähe flatterte stets der Union-Jack, man war also in guter, wenn auch nicht immer harmonischer Gesellschaft, – und was schadete es dem Lande, was tat dem Morny-Plan solche zwar abgelegene, aber nicht üble und nicht einmal übermässig kostspielige Propaganda für das ruhige Gewissen, die Sicherheit und Weltwirkung des Regimes? Und wenn jetzt in der Neuen Welt der fürchterliche Bürgerkrieg der Staaten die gute Gelegenheit bietet, von der Union nicht gestört und wieder in guter Gesellschaft die Allgegenwart des neuen Kaiserreichs zu zeigen, möglicherweise dabei eine neue, wenn auch wirre Idee ins Korn schiessen zu lassen und auf jeden Fall dabei eine sehr nüchterne Rechnung zu präsentieren, so ist Morny nicht dagegen, im Gegenteil.
Dass die mittelamerikanische Idee neu sei, glaubten nur die, die den Kaiser nicht kannten, – Eugenie zum Beispiel oder Don José. Morny aber, der ihn gut genug kannte, um zu wissen, dass er ein hartnäckiger Ideenträger sei und sie zuweilen lange tresorierte, ehe er sie ausgab, war neugierig geworden, ein seltener Zustand bei ihm, und hatte sich systematisch mit der Louisschen Schriftstellerei aus der Prätendentenzeit beschäftigt. Er hatte alle politischen, militärischen und nationalökonomischen Traktate gelesen, durch die der Gefangene von Ham mit sich Propaganda machte wie mit seinen bunten Wallblumen. Er hat sich jetzt nach Deauville jene Zitadellenschrift mitgenommen, jenen Plan einer Verbindung des Atlantik mit dem Pazifik durch den Isthmus von Nicaragua, der nicht als geographische, sondern als politische Spekulation akut wurde, und liest wieder, kopfschüttelnd und interessiert, das sonderbare Gemisch von Statistik und Utopie, die Aufzählung der ungehobenen Reichtümer, die Städte, die Farmen, die industriellen Anlagen, welche die unruhige Phantasie schon sieht, und dann das politische Axiom: hier die Barriere gegen die angelsächsische Expansion, hier das neue Konstantinopel zwischen den beiden amerikanischen Welten mit seiner ungeheuren Bedeutung für das Gleichgewicht Amerikas, für den Ausgleich der angelsächsischen und der lateinischen Rasse, für das Gleichgewicht der Welt. Wer hier sitzt, hat die weltpolitische Schlüsselstellung. – Damals war es Nicaragua, heute ist es Mexiko.
Morny schüttelte den Kopf. Was alles stösst aus diesem umwölkten Krater der Ideen, was alles stösst es an? Italien und Rom und Venedig, den Deutschen Bund und Polen und Russlands befreite Leibeigene, Prag, Budapest und die Donaufürstentümer und die Pforte, Peking und Beirut, und jetzt Mexiko. Aber je weiter, desto besser. Was schaden uns die Exoten? Was schadet diese exotische Phantasie? Was schadet es, wenn sie die politische Romantik der Eugenie beschäftigt? Wenn der Kaiser klug ist, lässt er ihr die Anciennität der Idee, auf der sie bestehen wird.
Ja, Eugenie ist eine politische Frau geworden, ob verschwärmt oder nicht, ob mit schönen oder hässlichen Hidalgos, man soll es nicht unterschätzen. Seit wann ist sie es eigentlich? Seitdem der schöne Kopf Orsinis fiel, seitdem die schöne Castiglione über den Teich des Brautnachtschlösschens gerudert wurde? Als Regentin arbeitete sie gegen den verhassten Krieg und für den überstürzten Frieden: da half ihr Morny. Doch seit dem Frieden führte sie die ultramontane Hofopposition und wäre die Feindin des Rettungsplans, wenn ihre Gegnerschaft über die Tuilerien hinaus gelangen würde: aber sie kam nicht einmal über die Arbeitszimmerschwelle des renitenten Schläfers. Noch ist ihre Politik nicht gefährlich, aber sie kann es werden. Und wenn Hidalgo und die anderen eleganten Emigranten und monarchistischen Emissäre des gestürzten mexikanischen Konservativismus den politischen Ehrgeiz der Eugenie und ihren katholischen und legitimistischen Eifer überseeisch ableiten und sie zur Fee des lateinischen Kaiserreichs in Zentralamerika machen, wenn sie wahrhaftig schon irgend einen seidenbärtigen Erzherzog – gewiss nicht ihn, den unerwünschten und aus keinem Erzhause geborenen Morny – für die allerneuste Märchenkrone gefunden hat: was schadet es? Und sollte sich einmal die Feenpolitik der Eugenie und die exotische Phantasie des Glücksmischers verwirklichen und sollte einmal diese ferne Wirklichkeit der nahen und nächsten schädlich werden, nun, so wird bis dahin auch der Morny-Plan eine Realität sein und das liberale und parlamentarisch regierende und von der freien, öffentlichen Meinung kontrollierte Kaiserreich das erforderliche Regulativ und Korrektiv stellen.
Der Vicekaiser lächelt. Er wird das mexikanische Märchenspiel des Kaiserpaares dulden und die Mexiko-Spekulation der Börse stützen, und da er bekanntlich der Einzige ist, der sich dergleichen erlauben darf und auch börsentechnisch versteht, wird er die Spekulation in der politischen Kulisse der Überseeoperette unterbringen.
Morny hatte in Deauville ein bisschen die Landschaft verbessert und hinter dem etwas zu breiten und eintönigen Strand eine Terrasse errichtet, ein Plateau von Halbmeilenlänge, auf dem nun schon das erste Grün spross, das Casino leuchtete und hübsche Landhäuser über das Meer schauten. Dort auch stand sein Haus, nicht viel grösser und nicht viel schöner als die anderen, ebenso neu, kein Eugenie-Schloss, das sich Villa nannte, sondern ein Sommersitz, den man Villa nennen konnte. Das Haus trug auch keinen ausdrücklichen Namen; es kannte ohnedies jeder Fischerjunge den hellen, grossfenstrigen Bau, in dem der Wohltäter wohnte. Denn wenn ein Mächtiger, nur weil es ihm hier gefiel, sommerliches Leben, Häuser, Gäste und Geld herbefahl, die Dampfbahn von Trouville, Hippodrom und Pferderennen, Casino und Spielsäle, dann ist er ein Wohltäter. Und er sperrt nicht den Strand unter seinem Haus, wie in Biarritz die Kaiserin, so dass dort die Spaziergänger weit ins Land abbiegen mussten, um von ihrem Badestrand zum Leuchtturm zu gelangen, nein, er duldet um sich herum die Zahlungsfähigen, die er rief.
Das Meer lag vor der Glücksmacht dort wie hier. Hier war es undramatischer, eintöniger, farbloser, oft auch grau, mit kürzeren Wellen, Hüpfwellen, die eher tückisch waren als zornig und mit keinen Klippenstieren zu kämpfen hatten, und war es Ebbe, so nahm der behäbige Strand noch masslos zu und legte sich, ohne an Schönheit zu gewinnen, eine breite, graue, nässende Borte an. Das Nordmeer war anspruchsloser und nüchterner, es forderte nicht die ständige Aufmerksamkeit des Gastes heraus und liess ihn in Ruh. Nicht anders wollte es der Mächtige aus Paris, kein Naturschwärmer, überhaupt kein Schwärmer, neben ihm auf dem Musikzimmerbalkon mit dem frischweissen Holzbord stand kein öläugiger Hidalgo, sondern der kurzsichtige Theaterdirektor und Komponist Offenbach, und obgleich in der Frühe dieses Hochsommertages vom Aussenministerium eine politisch bedeutsame Depesche eingelaufen war – ungefähr gleichen Inhalts wie die, welche Don José nach Biarritz hetzte –, so ging das gutgelaunte Gespräch des Vicekaisers mit dem Musiker doch nur um eine Operette.
Morny war kein Schwärmer, er kehrte dem Meer den Rücken zu, auch der westlichen Sonne, die zur abendlichen Goldmacherei herabsank. Hier tat sie es etwas leichthin, in allzu grosser Übung, mit lässig übersehenen, gelbgrauen Schwaden im Schmelz des Wassers. Aber in Biarritz, wo schon die Küste das Amphitheater des westabendlichen Zauberschauspiels war und die Villa Eugenie die Kaiserloge, übte sie so leidenschaftliche Alchimie, dass alle Farben von Gold über die Biskaya brodelten, grünes Gold, braunes Gold, rotes Gold, und selbst die schwarzen Klippenfelsen in südlich mythischer Pyrotechnik glühten.
Hidalgo sang dazu mit seiner bronzenen Stimme die Schlussarie des bedeutsamen Tages: »Jetzt haben wir den Hebel, wenn der Kaiser will.«
»Er will, er wartet drauf, ich weiss es«, respondierte die Fee heiser, leicht erkältet.
»Aber wenn dann – ist es so weit, wird es ernst – der Erzherzog doch nicht will …«
»Er wird wollen, es ist kein Glück für ihn, nichts anderes zu sein als Kaiserbruder, ich weiss es.«
Morny in Deauville indessen, den Rücken angenehm vom Abendgold gewärmt, dachte im Augenblick nicht einmal an die Depesche, die unter dem Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch lag, und war doch auch, wenn man will, so etwas wie ein Alchimist, Goldmacher schon, wenn sein Interesse dies oder das berührte: ein Fischerdorf, eine Aktie, ein Bild, ein Rennpferd, eine Zeitung, ein Theater. Er war ein grosser Herr mit vielen Interessen, er zog also eine breite Goldspur; aber er war nicht habsüchtig, er tresorierte das geschlagene Gold nicht wie der Bruder, der Ideenalchimist, die gewonnenen Gedanken, er liess es laufen. Jetzt liess er es wohl zu dem dürren, nervösen und vergnügten Musiker laufen. Aber er selber, Morny, der ebenfalls gutgelaunte, tat es nicht aus Menschenliebe; denn er liebte die Menschen nicht, so wenig wie sein Bruder; doch er war, gleich ihm, dankbar oder zeigte sich gern erkenntlich für eine Freude, sogar schon für eine gute Laune, die man ihm verschaffte. Handelte es sich um Geldspekulation, um eine Rennwette oder um ein Hasardspiel, so wollte er gewinnen oder mit Anstand verlieren; da bedurfte es, obgleich auch dies seine Freude war, der heftige Reiz von jeher, keiner Erkenntlichkeit, – da lief das Gold durch seine Hand und blieb haften oder nicht. Hier aber handelte es sich um seinen hübschen, kleinen Ehrgeiz, um den alten Wunsch, der nun in Erfüllung geht: um sein Theaterstückchen, Musik von Offenbach. Der kleine Ehrgeiz lief zäh und munter neben dem grossen des politischen Reformers durch das Korsarenjahr und durch Cavours Todesjahr, und lange bevor es zu Ende geht, wird der kleine Ehrgeiz erfüllt sein. Das konnte man vom grossen Ehrgeiz, der gerade zur ersten Etappe gelangt war, nicht sagen; aber das störte nicht die gute Laune: Morny dachte nicht an Politik. Er hörte seinem Komponisten und Spielleiter zu, der eigens aus Paris gekommen war, um den Autor über die ersten Proben zu unterrichten – denn die Operette soll im September die Saison eröffnen –, auch über die charmante Art, wie jetzt schon der liebe, gemeinsame, gebührend beteiligte Figaro auf das künstlerische und gesellschaftliche Ereignis hinwies, mit äusserst wirksam dosierten Indiskretionen über die Persönlichkeit, die sich hinter dem Namen Saint Remy versteckt. Morny lächelte, sein Rücken war warm. Warum soll nicht neues Gold in die Bouffes fliessen, Morny-Gold?
Ein Wagen fuhr von der Ortschaft her, genau gesagt: vom Bahnhof kommend, durch das Gartentor, das der Seefront der Villa abgewandt war. So sah man ihn nicht und so hörte man ihn auch nicht im sanften Dauerrollen des Meeres. So schien es dann, als der Diener Herrn von M. aus Paris meldete, ähnlich wie auf der Bühne, wenn ein harmonischer Dialog durch einen plötzlichen Ankömmling ärgerlich und zumeist schicksalhaft unterbrochen wird. Aber es gehörte zu den Tugenden des grossen Herrn, sich mit dem gleichen Anstand stören zu lassen, wie er etwa Geld verlor, an der Börse, auf der Rennbahn, am Spieltisch. Ausserdem wusste Direktor Offenbach wie jeder einigermassen kenntnisreiche Pariser, dass Herr von M. der Finanzagent des Vicekaisers war, also eine so wichtige Person, dass er sich jede Störung leisten durfte. Was er nicht wusste, war, dass der grosse Herr heute vormittag, unmittelbar nach Empfang des Telegramms, seinen Spekulationsminister – wie Herr von M. in Börsenkreisen genannt wurde – durch Depesche nach Deauville berufen hatte, dass die gleiche vicekaiserliche Jagdbritschka, die mittags Herrn Offenbach vom Bahnhof abgeholt hatte, jetzt Herrn von M. herbeibrachte und dass es also keine unerwartete Störung war. Morny bat auf seine angenehme Art um eine halbe Stunde Urlaub, er zirkelte die genaue Zeit ab, die er ohne Unmut seinem kleinen Ehrgeiz zu stehlen hatte. Er bekannte auch nicht, dass er den Störenfried für eben diese halbe Stunde erwartet hatte, er sprach auch nicht von dringlicher Besprechung, von Geschäften, von Orders oder was man bei solchen jähen Abberufungen zu murmeln pflegt. Er sagte garnichts und ging mit seinem hübschen Lächeln.
Der Musiker blinzelte noch einen Augenblick in die heftige Vergoldung der See und trat dann ins Musikzimmer. Er war kein Naturschwärmer, und hier ist der Flügel. Er öffnet ihn und greift ein paar Akkorde, stehend. Er setzt sich und jagt die magischen Finger über die Tasten, leichthin. Morny ist im Geschäft, man kann einen kleinen, flinken, frechen Jubel trillern. Da sind schon die Melodien. Wie kann man den grossen Herrn stören, wenn man ihm sein Stückchen spielt? Der schwarzgeränderte Kneifer tanzt auf der grossen Nase, der hagere Körper tanzt auf dem Drehstühlchen, der Raum, von der grossen Alchimistin des Westens in Gold getaucht, lacht mit lustigen Tönen über sein eigenes feierliches Empire. Offenbach spielt aus »Choufleury«.
Herr von M. trug das Gesicht des Kaisers oder des Vicekaisers in Rund auf einem runden Körper. Seiner börsianischen Fülle zum Trotz sah er wie ein Beamter aus, wie ein hoher Beamter; der Bauch gehörte mehr zur Bürokratie als zur Spekulation, es war, möchte man sagen, dienstliches und nicht wohllebiges Fett. Er trug die Würde eines Geheimen Rats, und das war er ja schliesslich auch. Über dem Gesicht lag, als Korrektur seiner heiteren Polsterung, ein ständiger Ausdruck von Versorgtheit. Es hatte Gelegenheiten genug gegeben, sich wegen der allzu grosszügigen und kühnen Transaktionen des Chefs Sorgen zu machen, die Millionenverluste der Kriegsbaissespekulation vom Frühling 59 zum Beispiel drückten noch jetzt auf die empfindliche Galle, wenn man daran dachte, zumal des Nachts: aber die physiognomische Besonderheit des rundlich bekümmerten Gesichts bestand schon, als man diesen schweren, aufregenden, aber doch liebgewonnenen und ausserdem einträglichen Dienst angetreten hatte.
Herr von M. sass seinem Chef gegenüber am Schreibtisch und hatte seine Aktenmappe vor sich. Morny hatte das Telegramm vor sich. Beide trugen Kneifer auf der Nase.
»Also«, sagte Morny, »unser mexikanischer Geschäftsträger unterrichtete uns von der längst erwarteten Massnahme …«
Da kamen aus dem Musikzimmer die ersten Akkorde, die rasenden Läufe, die Triller des Jubels. Herr von M. hob den versorgten Kopf und sah in die Luft.
»Offenbach«, sagte Morny und lächelte.
»Ach, Offenbach«, wiederholte Herr von M. und lächelte ebenfalls; aber selbst vor dem Lächeln, das doch die lustigen Backenpolster noch lüpfte, floh nicht der Kummerausdruck, und Herr von M. dachte: der Chef zersplittert sich …
Morny strich über die Depesche und sagte: »Dieser neue Präsident Juarez hat mit Gesetz vom 17. Juli den gesamten Schulden- und Zinsendienst für alle Auslandsanleihen auf die Dauer von zwei Jahren suspendiert. Ausserdem hat er, was nur logisch ist, das in Vera-Cruz liegende Garantie-Depot für die internationalen Engagements in Höhe von einer halben Million Piaster beschlagnahmt.«
»Sehr gut«, sagte Herr von M. und faltete über der Aktenmappe die dicken, fröhlichen Finger, besorgten Gesichts, »das wusste man übrigens schon heute an der Börse, das ist das Einzige, was auf die City den notwendigen Eindruck macht. Jetzt kommt endlich die anglo-französische Intervention, die unsere Geschäftsträger seit einem halben Jahr betreiben, seit dieser jakobinische Indianer an der Macht ist.«
»Möglich«, meinte Morny ohne Leidenschaft.
Herr von M. richtete die wimperlosen Äuglein mit den prallen Kummersäcken auf den Chef. – Er will sich wieder teuer machen, dachte er, ich kenne das und hätte doch ohne Übertreibung sagen können: ›Ihre Geschäftsträger, Exzellenz‹; denn den neuen mexikanischen Gesandten hat er aus seinen Protektionskindern gewählt und mit gebundener Marschroute versehen, und wen hat er für London ins Leben zurückgerufen? Den Uralten, den durchtriebenen Herrn Vater, den tauben Herrn Flahaut, der immer noch das Gras wachsen hört … Herr von M. war nur gedanklich ein Spötter und Augur, keinesfalls als Sprecher. Er sprach: »Die mögliche anglo-französische Intervention dürfte nicht genügen, Monseigneur.«
»Ach Gott«, meinte Morny, nahm den Kneifer ab und liess ihn an dem schwarzen Band durch die Luft kreisen, »die mexikanische Frage war bisher eine rein kommerzielle Frage, und das ist sie noch heute für das Foreign Office und für die Börse, ehrlich gesagt auch für mich. Aber da hat man bekanntlich bei uns begonnen, sie als politische Frage zu behandeln. Das kann unter Umständen die Zusammenarbeit mit London stören.«
Herr von M. löste die gefalteten Hände und hob sie in abwehrender Sorge: »Selbst das ist im Augenblick nicht wichtig, Exzellenz, wichtig ist unser tatsächlicher Interventionswille, unsere deutliche …«
Auch Morny hob die Hand, wie ruheheischend, und den Blick hob er in die Luft, als höre er nicht nur die lustige Melodie, die durch das Haus hüpfte, sondern als sähe er sie auch. »Chou-fleu-ry«, sang er leise mit, etwas unsicher, sogar etwas falsch, und dann fügte er beinahe zärtlich die Erklärung hinzu: »Mein Choufleury, wissen Sie, meine Operette …«
»Ein Meisterwerk«, versicherte Herr von M. mit Kummerfalten, »eine Prachtmusik! Aber was die Intervention betrifft, unsere deutliche …«
»Kommen wir schon auf die Jecker-Anleihe«, befahl der Vicekaiser plötzlich ungeduldig, so als erinnere er sich mit einemmal an die befristete Zeit, und er liess wieder den Klemmer kreisen.
Herrn von M. schien der Befehl der vorgesetzten Stelle bekömmlicher als die kollegiale Debatte; denn er lächelte ohne Grund und beinahe ohne Kummer, als er jetzt die Ministermappe öffnete und ihr einige Akten entnahm. Er legte sie, mit prüfend blätterndem Finger, vor sich hin und räusperte sich, ein Vortragender Rat; und da er das Gesicht den Papieren ziemlich nahe brachte, liess er seinen von graublonden Löckchen umstandenen Kahlkopf sehen, und das war nun ein runder, rosiger Mond, wohllebig und beinahe leichtfertig. »Um Eurer Exzellenz die Entstehung und Entwicklung der nicht ganz unkomplizierten Transaktionen in Erinnerung zu rufen, rekapituliere ich in grossen Zügen …«
Morny hob die Brauen, es war ihm nichts in Erinnerung zu rufen, sein Gedächtnis war gut, – das wusste auch sein Geheimrat; aber jedenfalls rückte der gescheite und taktvolle Mann die Affäre mit Absicht in die halb amtliche, halb inquisitorische Form. Man kann ihn reden lassen, man kann ihm zuhören oder dem gleichzeitigen Offenbach, ja, man kann diese Angelegenheit, die man beileibe nicht dem grossen Ehrgeiz zuzurechnen vermag, über sich ergehen lassen, ohne die halbe Stunde dem kleinen Ehrgeiz gänzlich zu stehlen. Sein Choufleury, seine Operette spielt herein.
»Der gestürzte Präsident Miramon, jetzt Exilierter in Havanna, hatte Anno 59 in verzweifelter finanzieller Lage eine 6%ige Anleihe in Höhe von 75 Millionen Francs ausgegeben. Diese Emission war im Grunde genommen, um es gleich zu sagen, eine sehr fatale Konversion, weil alle alten Titel der inneren Staatsschuld, selbst die faulsten und bis 94% entwerteten, mit einer 25%igen Ausgleichszahlung in Silber gegen die neuen Bons eingetauscht werden konnten. Mit der Emissions- oder Konversions-Operation, genauer gesagt, mit der Geldbeschaffung – denn die Miramon-Bons waren noch lange kein Geld – wurde das seit fünfundzwanzig Jahren in Mexiko ansässige Bankhaus Jecker betraut. Herrn Jecker gelang es, durch teils gerechtfertigte, teils geschickte, teils illoyale Manipulationen, Wert-Ausscheidungen und -Herabsetzungen, Interessegarantien und Kommissionsgebühren, bei einer Barauszahlung von noch nicht ganz vier Millionen die gesamte Neu-Emission im Nennbetrag von 75 Millionen in die Hände zu bekommen. So wurden aus den Miramon-Bons die Jecker-Bons und Herr Jecker der Hauptgläubiger des mexikanischen Staates. Das schützte ihn nicht vor dem finanziellen Bankrott, sogar schon ein halbes Jahr vor dem politischen Bankrott seines Kompagnons Miramon. Die vier Bar-Millionen hatten ihm den Hals gebrochen, die 75 Bons-Millionen waren während des Bürgerkriegs nicht effektuierbar, und die erste Regierungshandlung des Siegers Juarez war ihre Nicht-Anerkennung, die Null- und Nichtigerklärung des Miramon-Jeckerschen Anleihe-Vertrages, – ein illegaler Akt, aber zur alten mexikanischen Revolutions-Praktik gehörend. Das, Exzellenz, ist in grossen Zügen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte.«
Morny schlug mit dem Finger auf die Depesche den Takt zu Offenbach. »Ich erinnere mich«, sagte er höflich.
Herr von M. hob den Kopf. Es war jetzt wohl so weit, um frei sprechen zu können, ohne Akten. »Die Jecker-Gläubiger und Jecker-Bons-Inhaber sind bekanntlich zumeist Franzosen. Sie haben Herrn Jecker in seiner Stellung belassen, obgleich das Haus in Liquidation ist. Sie sind in ihrer Haltung und in ihrer Hoffnung von unserem neuen mexikanischen Geschäftsträger und durch seine unerbittliche Kampagne gegen Juarez bestärkt worden. Herr Jecker selber ist übrigens noch Schweizerbürger.«
»Wie bitte?«, fragte Morny.
»Er ist noch Schweizer, wünscht aber, zu gegebener Zeit französischer Staatsangehöriger zu werden. Das gehört nicht nur zu seinen Forderungen, das erleichtert auch die ganze, die ganze …« Herr von M. fand nicht das Wort.
»Ich verstehe schon«, half ihm Morny.
»Illegal ist illegal!«, ereiferte sich Herr von M., eigentlich ohne Grund, »die Annullierung der Jecker-Bons ist genau so ungesetzlich, genau der gleiche, usurpatorische Akt wie die Streichung der gesamten Auslandsschuld vom 17. Juli.«
»Gewiss«, sagte Morny höflich.
»Was ist denn dieser indianische Winkeladvokat?«, rief Herr von M. und rang die Hände. »Eine Revolution mehr, die zweiunddreissigste oder dreiunddreissigste seit fünfundzwanzig Jahren! Und wenn die alliierte Flotte vor Vera-Cruz erscheint, ist der Spuk vorbei. Man muss endlich Ordnung machen! Man muss an die nationale Ehre denken und an die nationale Wirtschaft, der Millionen …«
»Die Jeckersche Forderung, bitte.«
Herr von M. tauchte wieder in die Akten. »Intervention, Protektion der Jecker-Bons durch die französische Regierung und ihre Aufnahme in die General-Forderung an den mexikanischen Staat, dergestalt, dass in einem besonderen Artikel Mexiko zur vollen, loyalen und sofortigen Erfüllung des im Jahre 1859 zwischen der mexikanischen Regierung und dem Haus Jecker geschlossenen Vertrages angehalten wird.«
»Das Jeckersche Angebot, bitte.«
Herr von M. tauchte nicht aus den Akten auf. »Dreissig Prozent Gewinnbeteiligung.«
Morny hob wieder den Blick in die Luft. Vielleicht rechnete er, vielleicht hörte er Offenbach.