Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Verdacht

Ein Durchgangsposten jedes Lehrlings ist die Portokasse. Geldzeichen gehen erstmals durch die junge Hand. Ein leichter Schauer stellt sich ein. Erklommen ist die erste Stufe einer Leiter, auf deren letzter Sprosse Bankkassierer Tag für Tag Millionenwerte wandern lassen, unbestechlich, oder – wenn das »un« fällt – selber wandern in die dunkle Zelle, je nachdem.

Daher der leichte Schauer, als ich erstmals unsere Markenkasse übernahm. Geld, Ruf, Bangen, Tränen und Erstarken steigen unterm aufgeklappten Deckel jeder Kasse, auch der kleinsten, hoch und ringeln sich und starren dir ins Angesicht: »Wie wirst du's halten? wie wird's dir ergehen?«

Mir erging es so:

Mit meinem ersten Portokassentag wurde ich ein anderer. Panzer legten sich um meine Brust. Ein Schloß schob sich davor. Breiter wurde ich. Eisern wurde meine Lehrlingsstirne: Mit einem Wort, man wird, was man verwalten muß, ein Kassenschrank.

223 Meine Mutter sah mir nach: »Du bist so verändert – fehlt dir etwas?« – »Nein, seit gestern habe ich die Portokasse zu verwalten.«

Ein alter Schulfreund aus der ersten Volksschulzeit, der Milchfrau-Pepperl, sah sich auf der Straße nach mir um, mit ausgestrecktem Daumen über seiner Schulter: »Jee, er aa, der Herr Kommerzienrat . . .«

Seelisch leicht erschüttert ging ich weiter. Ein Schutzmann, dessen Handlungsfrau ein Konto bei uns hatte, grüßte mich. »Vermutlich hat er irgendwie erfahren, daß ich jetzt die Portokasse führe«, dachte ich und ging, seelisch aufgeforstet, weiter, wieder jeder Zoll ein »Feuersichrer«.

Auch feuersichre Menschen haben ihren Ehrgeiz. Der meine war nach vierzehn Tagen: Hundert Mark Tagesumsatz in der Portokasse. Unter meinem Vorgänger war die höchste Tagesziffer einmal neunzig Mark in Marken. Ich brachte es auf fünfundneunzig Mark am dritten Samstag. Am nächsten Freitag ging ich unter den Korrespondenten betteln: »Bitte, könnten nicht verschiedene Briefe bis morgen liegenbleiben?« Die Korrespondenten sahen sich an: »Der Lehrling spinnt.« – »Bitte sehr, ich spinne nicht, ich möchte morgen eine dreistellige Summe in die Ausgangsseite meines Portobuches.« Da lachten sie und steckten Briefe, die nicht eilig waren, einen Tag ins Einzelfach. Tags darauf regnete es Briefe auf mein Postpult. Meine Ausgangsseiten schwollen. Nachmittag um fünf Uhr zählte ich zusammen: 99 Mark 10 Pfennig. Ich streifte durch die Kontore. Niemand schrieb mehr Briefe. Das war ein Unfug. Das war eine Beleidigung. Aber ich als Lehrling konnte doch nicht wettern. Höchstens diplomatisch handeln: »Noch Briefe fällig, meine Herren?« – »Nein, alles erledigt.« – Könnte man nicht doch noch einige –?« – »Spinnt halt wieder«, zuckte einer mit den Achseln. Ein anderer hatte Mitleid. Möglich, daß er einmal gleichen Hundertschmerz empfunden hatte. »Machen wir«, sagte er und adressierte dreißig vorgedruckte Reisendebesuchsanzeigen an die Kunden. Dreißig mal drei macht neunzig, plus neunundneunzig Komma zehn – hurra, wie glänzte diesen Abend meine Eins mit den zwei dicken Nullen im Portobuch! Ich schob es einem jeden, der es sehen mochte, unter die Nase. 224 Auch solchen, die's nicht sehen wollten. Die sagten zwar: »Na ja, hundert Mark in Marken, was ist da groß dabei?«

Da warf ich mich in meine feuersichre Kassenschrankbrust: »Was dabei ist? Ein Markstein in der Portogeschichte unsrer Firma ist es, daß Sie's wissen!«

Das war ein froher Markstein. Es gibt auch harte, die ein Morgentau mit Tränen netzt. Es kam ein Tag, da stimmte meine Kasse nicht. Zwanzig Mark zu wenig. Ach was, ein Rechenfehler. So oft habe ich nie wieder eine Seite addiert. Aber da biß die Maus keinen Faden ab, es fehlten zwanzig Mark. Was tun? Vor den Prokuristen treten und bekennen? Nein, nur das nicht. Nur nicht mit dem Kassiererkainszeichen herumlaufen: Achtung! da ist einer, dessen Kasse nicht gestimmt hat! Nein, sie mußte stimmen, kost' es, was es wolle.

Wie kann man eine Portokasse stimmend machen? Zwei Wege gab's. In der Ausgabenseite so viele Briefe an Maier, Schmid und Schulze setzen, bis es zwanzig Mark gab. Schön, dann war unter den fingierten Briefen auch ein unsichtbarer an den Lehrling Müller, eine Todesanzeige: »Wir teilen Ihnen mit, daß Ihr gut Gewissen eben sanft verschieden ist, nein, erstickt an zwanzig Mark, es ruhe in Unfrieden Ihr ganzes Leben lang.«

Fort mit dem ersten Weg. Wie war der zweite? Ei, man zahlte aus der eignen Tasche drauf. Gut, mach deinen Beutel auf: Hm, eine Mark und dreißig . . . wird die Mutter helfen? . . . Ja, sie wird von sauren Groschen zwanzig Mark für ihren Sohn . . . halt, Onkel Frank, der Maler . . .

Weltmännische Gebärde angelegt, leichthin geworfen: »Onkel, sag' mal, könntest mir mit zwanzig Märkern unter die Arme –?«

Er sah mir so lange unter die Nase, bis sie zum Teufel ging, die weltmännische Gebärde, bis ein kleiner Junge beichtete. »Schafskopf«, sagte er, »dem Prokuristen hättest du es sagen müssen.« – »Zu spät, seit drei Tagen habe ich den falschen Saldo vorgetragen, es ginge gegen alle kaufmännische Ehre.« – »Na, wenn die anders ist, als die gewöhnliche – hier sind die zwanzig – aber gib acht, mein Junge.« – »Worauf?« – »Daß es keine fünfundzwanzig werden – fünfundzwanzig hintendrauf vom Schicksal, weißt 225 du – nein, kein Rückzahlungsversprechen – ich kürz' es dir am Erbe, wenn ich sterbe.«

Kassen, welche stimmen, wirken lebensfreudig. Hoch trug ich die Stirn wieder. Erst recht natürlich, als die Revision kam. Am liebsten hätte ich die Hände in die Hosentaschen gesteckt und gepfiffen: »Revidiert nur, auf den Pfennig stimmt es.«

»Da ist ja noch was«, sagte der Revisor und zog zwischen eingeklemmten Deckeln 40 Marken zu 50 Pfennig hervor. Mir wurde schwül. »Zwanzig Mark Ueberschuß«, sagte stirnrunzelnd die Revision, »woher kommen die?«

»Ich – ich weiß nicht.«

»Die Einnahmen stimmen. Die Ausgaben auch. Und dennoch Ueberschuß. Sonderbar! sehr sonderbar . . .«

Die Revision klappte das Buch zu. Es wurde frostig im Kontor. »Was soll ich mit dem Ueberschuß beginnen?« Achselzucken: »Vortragen, bis sich's aufgeklärt hat – sonderbar, hm, sehr sonderbar . . .«

Von Stund' an fing es im Kontor zu raunen an: Schon gehört? Portokasse stimmte nicht . . . sonderbar, sehr sonderbar . . . Nicht, daß sie's an mich selber hingesprochen hätten. Nein, Aug' in Auge wurden sie sogar freundlicher. Von jeder händereibenden griesigen Freundlichkeit, die sich anfühlt, wie schlechte Margarine. Ich sah es wohl: Glotzäugig ging es um und flüsternd. Kam ich nahe – verlegne Stummheit. Da faßte ich mir ein Herz: »Wovon war die Rede, bitte?«

»Ach, nichts von Bedeutung.«

Aber nachher sah ich's blau angestrichen in einer Zeitungsnummer: Ein Kommerzienrat hatte alle seine Ehrenämter niederlegen müssen. Es war herausgekommen, daß er als Lehrling vor fünfunddreißig Jahren seiner Angebeteten eine blaue Schärpenschleife gekauft hatte. Gleichzeitig stimmte seine Portokasse nicht. Ergebnis damals: Drei Gefängnistage. Ergebnis jetzt: Schande in den weißen Bart und eine Kugel. Dazu ein Nachruf, der so schloß:

Wenn über eine dumme alte Sache
Endlich Gras gewachsen ist,
Kommt sicher ein Kamel,
Das dieses Gras dann frißt.

226 »Entsetzlich!« sagten sie bedauernd im Kontor. Was sie freilich nicht gehindert hat, mir einen namenlosen Zettel in das Portobuch zu schmuggeln, »Mittel, um eine überschüssige Portokasse stimmend zu machen, ›Eine blaue Schärpenschleife für die Rosamunde‹. Freundlichen Gruß.«

Blutige Tränen. Meine Lehrzeit war hinfort mit schwarzem Tuch verhangen. Nie wieder wird sie hell und freundlich werden. Mutter grämte sich zu Hause. Sie fragte mir die Seele aus dem Leibe. Ich ließ sie fragen, fragen, bis ich endlich sagte: »Laß nur, mir kann niemand helfen.« – »Auch Onkel Frank nicht?«

Ich ging zu ihm: »Onkel, du hast recht behalten, es sind fünfundzwanzig hintendrauf geworden.«

Er legte Pinsel und Palette fort: »Ja ja, das kommt von deiner Extraehrenwurst.«

»Hilf mir, Onkel.«

»Daß es wieder schief hinausgeht, Junge! Zweimal bin ich nicht so dumm. Ehrensachen hat man selber auszuschlecken. Wenn's hart auf hart geht, kann kein andrer helfen. Verdammt und überzwerch: hilf dir doch selbst. Morgen abend antreten zum Bericht – gute Nacht, mein Junge!«

Vierundzwanzig Stunden stiegen zähe auf und flossen ab. »Ich melde mich zur Stelle, Onkel.«

»Hast dir geholfen?«

»Ja.«

»Wie?«

»Ich hab's dem Prokuristen gesagt.«

»Und der?«

»Hat gelacht und hat's dem Prinzipal erzählt, so laut, daß es alle hören mußten. Sie haben auch gelacht. Sie flüstern nicht mehr. Oh, ich bin so glücklich. Aufrichtigkeit ist immer noch das beste.«

Er trat mir wieder scharf unter die Nase: »Ich weiß noch was besseres und größeres, Junge: Würde zu behaupten, wenn man falsch verdächtigt wird.« Er maß mich mit den hellen Maleraugen: »Du bist gewachsen, Junge – noch was auf dem Herzen?«

»Ja, hier sind deine zwanzig Mark.«

»Behalten. Gesagt, gesagt. Wird vom Erbe abgezogen.«

227 »Aber was – was soll ich mit – mit –?«

»Sei nicht dalkig, kauf eine blaue Schärpenschleife.«

»Aber – aber ich kann doch keine Schleife tra –«

»Dummkopf, deine Angebetete.«

»Aber wenn ich – wenn ich doch keine –«

»Dann schaff' dir eine an, zum Donnerwetter – oder soll ich sie dir malen? – Junge, Junge, was ist das für eine Jugend heute? – scheitert auf ein Haar an Portokassen und weiß mit neunzehn Jahren niemand, dem man mit blauen Schleifen Freude machen kann, verehrungsvolle – nu' aber rasch, mein Junge . . .«

 


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