Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Schlenk war Hauptbuchhalter. Schlenk hatte den höchsten Kontorstuhl. Schlenk hatte ein Extrapult. Schlenk führte ein Buch, auf dem mit Goldschrift stand: »Geheimbuch«. Schlenk sprach mit ihm, dem Brotherrn, wie mit seinesgleichen. Schlenk führte mich in seine Wissenschaft ein mit: »Wo's nicht drin steckt, kann man's nicht 'reinklopfen, was Rassepferde sind, die laufen auf drei Beinen.« Schlenk war mein Gott und Vorbild im Debet und Credit.
Das war im ersten Lehrjahr, wo er unnahbar auf dem hohen Drehstuhl saß. Im zweiten wurde er vertraulich. Wenn die andern fortgegangen waren, drehte er sich mit einem Ruck um neunzig Grad zu mir, dem letzten Lehrling: »In diesem Monat werden es dreitausend.« – »Jawohl, Herr Schlenk« – »Was, ›jawohl‹? Weißt du denn, dreitausend ›was‹?« – »Nein, Herr Schlenk.« – 95 Dreitausend Mark natürlich.« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Was, ›jawohl‹? Weißt du denn, dreitausend Mark ›wozu‹?« – »Nein, Herr Schlenk.« –»Dreitausend Mark Erspartes, natürlich, wofür ich mir eine Neu-Südend kaufen werde.« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Was ›jawohl‹? Weißt du denn, was Neu-Südend ist?« – »Eine Bodengesellschaft, deren Aktien gegenwärtig 100 stehen.«
Herr Schlenk war baff: »Junge, Junge, woher – natürlich, die modernen Handelsschulen – Unverdautes – vollgestopft – frühreif – tut nicht gut, mein Junge.« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Was ›jawohl‹? Weißt du denn, warum's nicht guttut?« – »Nein, Herr Schlenk.« – »Weil – weil du ein grüner Junge bist, mein Junge.« – »Herr Schlenk, ich bin im zweiten Lehrjahr und –« – »Grün ist nicht schlimm, mein Junge. Grau und dürr ist schlimmer. Ich wollt', ich wär wieder grün, mein Junge.« – »Jawohl, Herr Schlenk.«
Damit vergrub er sich wieder ins Geheimbuch. Aber es ließ ihm keine Ruhe. Er tauchte wieder auf: »Dann hast du in deiner Schnellbleich-Handelsschule wohl auch schon gelernt, warum man sich Neu-Südend kauft, he?« – »Man kann mit solchen Bodenaktien sehr viel Geld verdienen. Oft über Nacht. Es soll Bodenaktien geben, die aufs Zehnfache ihres Wertes steigen.« – »Zehnfach!? Junge, weißt du, was das heißt?« – »Das würde bedeuten, daß Ihre dreitausend Mark plötzlich dreißigtausend Ma –«
Es gab dem Kontorstuhl einen Ruck, daß es Herrn Schlenk um die restlichen zweihundertsiebzig Grade drehte, womit es ihn wider Willen wieder ins Geheimbuch warf, aus dem es dumpf und abgehackt zu murmeln anfing: »Dreißigtausend – verflucht – dreißigtausend – weiß Gott, ich schmeiß' den Federhalter hin – weiß Gott, ich machte mir's bequem – dreißigtausend – verflucht – verflucht –«
Am Ende des Monats, Neu-Südend standen 102, drehte er sich nach Geschäftsschluß wieder väterlich zu mir: »Ich hab' sie 'rin, mein Junge.« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Was ›jawohl‹? Weißt du denn, mein Junge, was ich 'rin –?« – »Dreitausend Mark Nominal 96 Neu-Südend-Aktien zu 102 plus 4 Prozent Stückzinsen ab 1. April ergeben einen Einstandswert von –.« – »Junge, Junge, und du meinst also, daß sie steigen werden?« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Was ›jawohl‹? Woher solltest du denn wissen, ob –?« –»Ei, Herr Schlenk, Sie werden doch nicht ein Papier kaufen, woran Sie verlieren.« – »Stimmt mein Junge, da gehörte ich verhauen – schade übrigens, daß ich's nicht zu 100 – denk' mal, wenn ich einen Tag gewartet und sie morgen doch zu 100 – verflucht – verflucht –.« – »Ei, Herr Schlenk, dann werden Sie eben beim Verkauf die Grenze auch um zwei Prozent höher legen müssen, um es wieder 'reinzubringen.« – »Junge, Junge, wenn das nur guttut.« – »Jawohl, Herr Schlenk« – »Was ›jawohl‹? Ich meine doch das Spekulieren.« – »Ich auch, Herr Schlenk.«
Neu-Südend taten es dem Herrn Schlenk am nächsten Tage nicht an, sich für 100 einkaufen zu lassen. Sie standen 108. Der Drehstuhl quietschte nach Kontorschluß vergnügt: »Siehst du, mein Junge, wie recht ich hatte, nicht zu warten.« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Wär' auch noch schöner: ein alter Rechengaul, wie ich, muß so etwas im kleinen Finger haben – 108 weniger 102, mein Junge, gibt –,« – »Sechs Prozent auf dreitausend Mark Nominal geben hundertachtzig Mark Gewinn, wozu noch Stückzins –.« – »Junge, Junge: Hundertachtzig Mark Gewinn in einem Tag, wo ich einen Monat mit allem Fleiß als Hauptbuchhalter – aber was geht dich mein Gehalt an – hätte nicht gedacht, daß du so naseweis –.« – »Herr Schlenk, ich bin im zweiten Lehrjahr und habe Sie gar nicht nach Ihrem Gehalt –« – »Schon gut, mein Junge – und um wie viel, sagtest du, daß in dem Rechenbeispiel in der Handelsschule jene Bodenaktien –?« – »Auf das Zehnfache, Herr Schlenk.«
Langes Schweigen. Dann beim Nachhausegehen wohlwollend ein Klaps auf meine Schulter: »Junge, bin mit dir zufrieden. Werde beim Prinzipal beantragen, deine Lehrzeit 'n bißchen abzukürzen. Wo's nicht drin steckt, da kann man's nicht 'reinklopfen, was Rassepferde sind, die laufen auf drei Beinen – und glaubst du, Junge, daß die 97 Dinger weitersteigen werden?« – »Zweifellos, Herr Schlenk.« – »Was ›zweifellos‹? Woher willst du wissen, daß –?« – »Es steckt drin, Herr Schlenk, Sie werden sehen, man braucht es nicht hineinzuklopfen.«
Der Lehrling, der Grasgrüne, der ein Taschengeld von zwei Mark fünfzig wöchentlich sein eigen nannte, behielt recht. Neu-Südend stiegen auf 115, 120, 130, 150. »Na, Junge, hatte ich nicht einen feinen Riecher?« frohlockte der hohe Kontorstuhl. – »Sie meinen, ich, Herr Schlenk?«, sagte ich selbstbewußt, »ich bin's gewesen, der Ihnen damals sagte, es stecke drin, man brauche es nicht 'reinzuklo –« »Junge, Junge, als ob das nicht von jeher mein Spruch – na ja, die Schnellbleich-Handelsschule heutzutage – frühreif – naseweis und – und, sag' mal, glaubst du, daß sie weitersteigen werden, he?« – »Nein, Herr Schlenk«, sagte ich beleidigt. – »Wie? Was? Was fällt dir ein, mein Junge – du nimmst dir ja Freiheiten heraus – das mit der abgekürzten Lehrzeit werde ich mir sehr überlegen –.« – »Ich habe mich versprochen, Herr Schlenk: Neu-Südend werden selbstverständlich weitersteigen. Ich hab' da einen Riecher –.« – »Wer hat einen Riecher, he?« – »Sie, Herr Schlenk, Sie, natürlich.«
Der Riecher roch. Neu-Südend krochen weiter in die Höhe. Sie druckten sie mit 200 in die Zeitung. »Junge, weißt du, daß ich damit glatt hundert Prozent ins Verdienen bringe?« – »Weniger zwei Prozent, Herr Schlenk, Sie kauften sie zu hundertzwei«, sagte ich altklug.
Neu-Südend machte von sich reden. Die Villen wuchsen aus dem Boden. Die reichsten Leute zog's ins Südend. »Wer ein bißchen auf sich hält, hat eine Villa in Neu-Südend«, sagte Herr Schlenk. »Und Sie, Herr Schlenk?« sagte ich vorlaut. – »Ich? ich hab' die Aktien – 387 heute, Junge, glaubst du, daß sie weiter –?« – Ich warf mich in die schmale Lehrlingsbrust: »Sie sollen sehen, Herr Schlenk, daß unsere Neu-Südend –.« – »Unsere? Erlaube mal –.« –»– noch mehr als einen Hunderter erklettern werden, Herr Schlenk.« Er lächelte befriedigt. Um diesen Preis ließ er sich mein mitbesitzendes »unser« gern gefallen. War ich nicht wirklich Mitbesitzer? Wer mitfühlt, besitzt 98 auch mit. Mehr als ich hat auch Herr Schlenk das Steigen seiner Neu-Südend nicht erleben können. Ich schlug jeden Tag die Abendzeitung mit einer Hast auf, daß meine Schwester sich beklagte: »Mutter, er zerreißt mir die Romanfortsetzung!« – »Was mir an deinem dummen Roman vorn liegt, ich schaue hinten nach, im Handelsteil, wo meine Neu-Südend – aber das verstehst du doch nicht.« Mutter lächelte über mich und sie. Hinten und vorne – »ihr« Roman, »meine« Südend, war das nicht dasselbe?
Als Neu-Südend 120 standen, hatte es bedächtig vom Drehstuhl geklungen: »Ich werde sie verkaufen – sicher ist sicher – was meinst du, Junge? – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Das wäre immerhin ein Nutzen von zwanzig Prozent und –.« – »Achtzehn, Herr Schlenk.« – »Stimmt, und du wirst mich doch nicht für so dumm halten, mein Junge, daß ich mit lumpigen achtzehn Prozent –« – »Nein, Herr Schlenk.«
Das wiederholte sich. »240, sagst du, stehn sie heute? – das wäre immerhin ein Nutzen von 140 Pro –.« – »138, Herr Schlenk.« – »Stimmt, mein Junge, und du wirst doch nicht glauben, daß ich mit dieser ungeraden Zahl den Abschlußstrich –.« – »Nein, Herr Schlenk.« – »Ja, wenn sie, sagen wir, 400 –.«
Dann standen sie 400. Herr Schlenk verdiente lumpige 298 Prozent – »so eine blöde ungerade Zahl«, sagte er nach meiner Zweierkorrektur. 500 standen sie. Herr Schlenk verdiente 398 Prozent – »ist es nicht komisch«, sagte er, »ich kann die zwei Prozent, um die ich sie damals zu teuer kaufte, nicht einholen. Ich mag sie verkaufen, wie ich will – immer bin ich 2 Prozent zu kurz.«
Nicht zu kurz kam seine Phantasie. »Jetzt, wenn sie noch um zwanzig steigen, könnte ich ein Jahrlang mit der Arbeit aussetzen, wenn ich wollte, verstehst du, Junge?« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Aber ich will nicht, verstehst du, Junge?« – »Jawohl, Herr Schlenk.« – »Sondern ich lasse sie ruhig noch auf, sagen wir, 600 steigen, verstehst du, Junge?« – »Natürlich, Herr Schlenk.« – »Dann kauf' ich mir ein Haus – oder meinst du, daß ich bis 700 –?« – »Natürlich, Herr Schlenk.« – »Dann könnte ich mir das 99 Haus auch ordentlich möblieren – oder was würdest du tun, he?« – »Ordentlich möblieren, Herr Schlenk.« – »Ach was, ob du sie noch weiter steigen ließest, meine ich?« – »Natürlich, Herr Schlenk.«
In Neu-Südend schossen Straßen auf um Straßen. Plätze knospten. Bogenlampen blühten aus dem Sand. Die Neu-Südendaktie blühte mit. Sie, die zu Pari so bescheiden tat, hatte geschwollene Manieren bekommen. Zu Pari war sie einfachen Leuten nachgelaufen: »Kauft mich, ei, so kauft mich doch.« – »Sogar Buchhaltern soll sie sich angeboten haben«, dachte Herr Schlenk, ohne zu bedenken, daß er doch selber – – aber nein, es würde sich ohnehin bald ausgebuchhaltert haben, er war jetzt Aktionär. Mit seiner Aktie würde er bald dick und fett geworden sein, mit ihr eine fingerbreite goldene Uhrkette sich auf den Aktienbauch gelegt haben –
»Herr Schlenk«, kam ich atemlos gestürzt, »unsre Neu-Südend stehen auf 990!« – Herr Schlenk zwang sich eine eisenharte Napoleonsmiene übers zitternde Gesicht: »Nun, was hab' ich dir gesagt, mein Junge: Zehnfach –.« – »Herr Schlenk, das sagte ich.« Aber er hörte nicht. Er rechnete: »Junge, Junge, bei 1000 schmeiße ich den ganzen Krempel hin und –.« – »Herr Schlenk, die Bank wünscht Sie am Telephon zu sprechen.«
Er nahm das Hörrohr. Es riß ihm die Hacken zusammen: »Was sagen Sie: schließen 1000? – wie sagen Sie: verkaufen?« Plötzlich warf er sich in die nachlässige Haltung eines Millionärs: »Na ja, meinetwegen, notieren Sie für die morgige Börse den Verkauf – warten Sie: nicht unter 1000, bitte – das heißt, 2 mehr, 1002 also – weniger auf keinen Fall – wenn nich, denn eben nich, verstehnse?« Er hing das Hörrohr lässig ein.
Ich hatte einen feuerroten Kopf, als er mit gefrornem Lächeln an sein Pult ging: »Herr Schlenk, wenn Sie doch bei 1000«, stotterte ich, »ich habe ein Gefühl, als ob –.« – »Ach was, Gefühl: Berechnung, Junge, eiskalte Berechnung – merk dir das, mein Sohn, sonst wirst du's nie zu etwas bringen.«
Am andern Morgen, eh' die Börse anfing, ächzte der Drehstuhl und ächzte. Als es einen Augenblick lang leer im 100 Kontor war, fiel die Sicherheit. Er winkte mir. Ein von monatelanger Erregung zerfurchtes Gesicht starrte mich an: »Lauf schnell auf die Börse, Junge«, flüsterte er, »gib dem Bankvertreter diesen Brief – ich zieh das Limit zurück.« Und aufglänzend fügte er hinzu: »Du wirst's erleben heute, was für einen Riesensprung Neu-Südend in den zweiten Tausender hineintut – eil dich, Junge, sonst sind sie weg, meine Neu-Südend, zu dem Lumpenpreis von 1002!«
Ich stürzte mit dem Brief hinaus zum Tor. Noch wie heute weiß ich's, ein Sonnenmorgen war es. Die Leute sahen alle froh aus. Vergnügt die ganze Welt. Und ließ sich Zeit. Nur ich mit meinem Brief ein Störer. Ich rannte auf einen Dienstmann um die Ecke. Er brummte mir nach: »Auch einer, der es nicht erwarten kann, bis er unter die Räder kommt, der Unverstand!« Ich drehte mich im Laufen um: »Sie sind der Unverstand: Was wissen Sie vom großen Sprung – Neu-Südend – zweiter Tausender!« schnaufte ich und rannte weiter.
Die Börse hatte angefangen. Auf dem Pfeiler, wo Neu-Südend-Aktien gehandelt wurden, hing eine Tafel. 1001 war der erste Kurs mit Kreide aufnotiert. Die Ziffer sah so komisch aus. Zwei dicke Nullen, links und rechts von einem steifen Bajonettsoldaten bewacht, suchten auszubrechen. Um den Pfeiler war ein aufgeregtes Summen. Leute schrien Zahlen hin und her. Ich schoß auf den Bankvertreter und knitterte ihm den Brief in die Hand. Er las ihn ruhig. »1001¼, 1001⅓, 1001¼, 1001¾!« brandete es um uns. Ein anderer Bankvertreter sprang auf ihn zu, packte ihn am Rockknopf: »Herr Schwabacher, Sie geben 3000 zu 1002, höre ich – ich will sie neh –.« – »Bedaure, ziehe das Limit zurück.«
Das Geschrei ging weiter: »1001¼, 1001⅓, 1001⅝, 1000, 999½, 1000, 1001½ . . .Ich spürte es bis in die Fingerspitzen: Das Schicksal zitterte um 1002 herum. Plötzlich trat eine Stille ein. Darauf eine Stimme. »Neu-Südend 1002, wer gibt?« Ein Schwindel packte mich. »Ich!« schrie ich. Gelächter. »Was will dies Bürschchen!« hörte ich es rufen. Und während ich hinausging wie ein Wasserüberstürzter, sagte eine klare Stimme: »Es ist ein 101 Unfug – Neu-Südend ist ein Wasserkopf – Sie werden sehen, es gibt eine Katastrophe . . .«
Ein verzerrtes Gesicht durchbohrte mich vom Drehstuhl. Eine heisere Stimme flüsterte: »Zurückgezogen, Junge?« – »Jawohl, Herr Schlenk.« An diesem Abend las ich auf der letzten Zeitungsseite: »Neu-Südend-Aktien, in denen eine zügellose Spekulation seit Monaten wahre Orgien feiert, überschritten zu Börsenbeginn den Kurs 1000. Dann griff eine Ernüchterung Platz. Das Papier ist scharf rückgängig und schloß zu 902.«
Herr Schlenk saß am andern Morgen unbewegt vor seinen Büchern. Kein Wort sprach er. Das Mitgefühl drückte mir die Kehle ab. »Herr Schlenk«, flüsterte ich, »sie werden wieder steigen, Ihre Neu-Südend.« Er sah mich erstaunt an, fast abweisend, als wenn er sagen wollte: »Was gehen mich denn Neu-Südend an?« Ich wurde irre: »Soll ich – Herr Schlenk, soll ich auf die Börse –?« – »Den Mund sollst du halten – deine Arbeit sollst du tun – nicht in anderer Leute Sachen sollst du dich mischen.« An diesem Abend standen Neu-Südend-Aktien 850.
Verdrossen saß ich auf meinem Schemel. Plötzlich klang's ängstlich neben mir, beinahe bittend: »Junge?« – »Jawohl, Herr Schlenk?« – »In fünf Minuten fängt die Börse an – lauf' rasch hinüber – sag', ich verkaufe zu 850 – nein, 860 – nein, 870 – das heißt, wenn sie gerade heute sich erholten – zu 900 also – ich verliere allerdings dabei noch hundert –.« – »Nein, Herr Schlenk, 800 würden Sie gewinnen – bei 800 würden Sie noch immer 700 gewinnen – Herr Schlenk, verkaufen Sie, so gut es geht.« – »Bist wohl verrückt – bei 900 bleibt es, nimm den Zettel mit der Unterschrift – aber eil' dich.«
An diesem Tage stand es in der Zeitung: »Neu-Südend konnten sich heute von ihrem Rückgang bis auf 899 erholen, um dann in wilden Zuckungen bis auf 780 zu ermatten. Es wäre unseres Erachtens an der Zeit, daß der Börsenkommissar selbst . . .«
Ich brachte wieder ein Limit zum Pfeiler: 780. Der Bankvertreter lächelte: »Es liegen Verkaufslimite zu 700 vor.« 630 grinste es aus der Abendzeitung.
102 »Gut, ich verkaufe das Teufelspapier zu 630«, ächzte es vom Drehstuhl, »Junge, lauf'.« – Ich lief . . . Kurs 627. Was bin ich damals mit Limiten hinter Neu-Südend hergelaufen: »Neu-Südend, höre doch, ich bitte dich, laß dich erwischen!« Aber Neu-Südend hörten nicht. Sie liefen schneller als ich. Sie hatten es noch eiliger als Herr Schlenk, auf ihrem Wege abwärts. Mit tollem Juchzen, wie am Stock der Aelpler talab springt, rutschten sie in Sätzen auf 600, auf 500, auf 400, die flehenden Limite des Herrn Schlenk dahinterher, immer eine Handbreit weg vom Ziel.
Der Häuserkrach begann. Die Wohnungen in Neu-Südend standen leer. Die Dividenden wurden eingestellt. Neu-Südend sanken ins Bodenlose. Es kam der Tag, da ich für Herrn Schlenk mit dem Limit 102 zur Börse lief – vergeblich, sie standen 101. Da tat er einen Fluch: »Ich will nichts mehr wissen von dem Schandpapier, es ist Luft für mich!« Recht behielt er: Ohne Luft kann niemand leben, und Herr Schlenk nicht ohne die Neu-Südend. Er schlug sie heimlich in der Zeitung auf. Er begleitete sie schwitzend weiter auf 80, auf 70 und auf 50, er sah sie endlich sich verschnaufen in der Wüstenei von 40. Er dachte nicht mehr ans Verkaufen. Sie rückten in die Ferne, in das ›Wenn‹.
»Wenn ich sie damals zu 1000 abgestoßen hätte«, sagte Herr Schlenk. »Wenn ich sie zu 900 hätte fahren lassen«, begann er zu erzählen. »Wenn ich kein Limit gegeben hätte . . . wenn . . . wenn . . .« Man konnte mit Herrn Schlenk sprechen, was man wollte, mit drei vier Sätzen war er bei dem Wenn. »Herr Schlenk, Sie sollten Urlaub nehmen – hinaus aufs Land.« – »Land? Hat sich was mit Land. Etwa gar Neu-Südend, he? Nun denken Sie, wenn ich damals, als sie 1000 standen . . .«
»Herr Schlenk, kommen Sie heute Abend mit zum Kegeln?« – »Kegeln? Schuß ins Volle, he – einmal, sag' ich Ihnen, hatte ich einen Schuß ins Volle frei – das war damals, als Neu-Südend 1000 standen – wenn ich damals . . .«
»Was halten Sie von Rußland, Herr Schlenk?« – »Rußland? Kolossales Land – Riesenzukunft – sehen Sie nur diese Flächen auf der Karte – da wenn einer eine 103 Bodengesellschaft daraus machte, he? – ob diese Aktien auf 1000 stiegen, wie damals meine Neu-Südend, die ich zu 1002 verkaufen hätte können, Herr, wenn . . .«
Erst lachten die Leute. Dann lächelten sie. Dann bekamen sie steinerne Mienen. Dann wichen sie ihm aus. Dann wanden sie sich unter seinen Händen, wenn er sie beim Rockknopf kriegte: »Ich sage Ihnen, wenn ich damals, als Neu-Südend über 1000 gingen . . .«, und überließen ihm den Rockknopf, nur um freizukommen.
So auf sich selbst zurückgeworfen und auf seine Neu-Südend, konnte er mitten in der Arbeit seine Bücher zuschlagen und Berechnungen, Tabellen, Kurven aufstellen, die dartun sollten, was geschehen hätte müssen, damit er die Neu-Südend doch zum höchsten Kurse abgeschüttelt hätte. Stundenlang brütete er darüber. Seine Arbeit blieb liegen. Er wurde nachlässig. Er empfand den leisen Tadel nicht, den der Prinzipal einfließen ließ. Er kam ganze Tage nicht ins Geschäft, weil ihm unterwegs eine neue Wenn-Möglichkeit in den Sinn gekommen war, der er gestikulierend durch die Straßen in die Felder nachging.
Dabei war er auf die Schuldüberwälzung gelangt: »Wenn an jenem Morgen meine Hausfrau mich nicht so geärgert hätte, als ich ins Geschäft ging – wer weiß, ob ich nicht dann doch zu 1000 . . .« – »Wenn mich nicht der Briefträger damals auf der Straße aufgehalten hätte – wer weiß, ob nicht doch verkauft . . .« – Und endlich blieb er bei mir stecken: »Junge, Junge, wenn du doch damals nicht so schnell gelaufen wärest, hätt' er sie verkauft gehabt zu 1002 – denk' mal, 1002!« – »Aber Herr Schlenk, Sie sagten doch: ›Lauf schnell‹!« Der Widerspruch reizte ihn, daß er blaurot wurde: »Mußt du denn immer alles tun, was dir jeder – jeder Schwachkopf sagt!«, schrie er, »das ganze Unglück kommt von deiner dummen Lauferei!« Er wurde täglich ausfälliger. Immer feindseliger sah er mich an. Es kam so weit, daß der Prinzipal mich fragte. Ich wich aus. »Erzähle!«, sagte er ruhig, aber zwingend. Da erzählte ich.
Er hörte schweigend zu. Dann tat er einen langen Atemzug: »Herr Schlenk ist 24 Jahre im Geschäft. Er soll bleiben trotz – trotz Neu-Südend. Und wenn Sie als 104 ausgelernter Lehrling nicht die Nachsicht gegen einen alten Mann aufbringen, der es ohnehin kaum lang mehr machen wird, so –«
Ich sah noch, wie sie einen alten Buchhalter enterbten. Stück für Stück und schonend. Ein Buch nach dem andern nahmen sie ihm unter einem Vorwand. Das letzte war das Geheimbuch mit der Goldschrift. Einen Bogen nach dem andern bedeckte er mit Kurven: »Wenn . . .« Wenn er einen Bogen fertig hatte, steckelte er unsicher an meinem Platze vorüber, leise zischend: »Du mit deiner dummen Lauferei, wenn du damals.«
Eines Tages war sein Platz leer. »Der alte Schlenk ist tot«, hieß es. In seinem Nachlaß fanden sich drei Neu-Südend-Aktien. Der Prinzipal wog sie in seiner Hand. »Verdammt leicht«, murmelte er, »möge ihm die Erde auch so leicht sein.« Dann wandte er sich zu mir: »Läuten Sie die Bank an, welchen ungefähren Wert heute die Neu-Südend-Aktien . . .« – Der Bescheid war knapp: »Makulatur!«
Der Prinzipal wog sie abermals: »Wollen Sie sie haben – als Andenken? Vielleicht schützen sie Sie mal – es gibt Neu-Südend-Aktien in der ganzen Welt, wohin Sie schauen, junger Mann.«