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Fünfundzwanzig Jahre nach meiner Lehrzeit ging ich in einer fremden Stadt durch eine fremde Straße. Ein Kellerfenster stand offen. Drunten brannten sie Kaffee. Ein Duft zog herauf. Einen Duft hat keiner je gewogen. Millionstelmilligrammwagen gäben keinen Ausschlag. Den Ausschlag gibt das Leben. So mächtig, daß die Gewichte auf dem Wägeteller durcheinanderklirren wie die Geschicke. Dies Klirren trug der Kaffeeduft vom Kellerfenster auf den unwägbaren Schwingen zentnerschwer.
Duft und Klirren trugen mich zurück. Ich war wieder Lehrling bei Kramer & Friemann. Die Gittertüre knarrte.
111 Der Prokurist schob mich herein zu tausend Kaffeesäcken und einem einzigen Geruch: »Den laß dir in die Nase steigen, damit aus dir was wird!«
Als ob Gerüche aus den Menschen etwas machen könnten, dachte meine Naseweisheit. Heute weiß ich's besser. Heute weiß ich, daß ein Geruch noch übern Tod hinausgreift. Was von dir bleibt, ist der Geruch, der gute oder muffige, in welchem du mit deinem Werk gestanden.
Außer dem Geruch aus tausend Säcken trug der Kaffeeboden noch zwei von ihm untrennbare Wesen: Den alten Schröder und die alte Wage. Alt und alt ist zweierlei. Verglichen mit der alten Wage, war der alte Schröder jung. »Ja, Heuschreck, grüner«, sagte der Wagemeister zu mir, »die da ist so alt wie die Firma.« – »Und wie alt ist die Firma?« – »Wie die Wage, Heuschreck, grüner, wie die Wage.«
Wenn der Tag im Dämmer ausgewogen wurde, konnte man es sehen: Der eine Hebelarm der Wage ragte weit in die Vergangenheit und gespenstisch reckte sich ein Zeiger in die Zukunft. Dazwischen stand der alte Wagemann Schröder, ewig murmelnd: »Zweiundfünfzig Kilo – schreib, Müller, sechsundfünfzig ein halb Kilo – hast du's?«
Ich schrieb und nickte.
»Nummer drei: fünfundzwanzig ein viertel Kilo – schreib, Müller – wem gehört der Sack, – schau nach.«
»Der Frau Pfeilschifter in der Westenriederstraße.«
»Aha.« Er gab den Gewichten einen kleinen Stoß, um dem Kaffeesack mit gutem Gewissen noch ein paar Bohnen nachzufüllen: »Wissen S', Müller, die Frau Pfeilschifter verkauft an kleine Leut', denen 's guttut, wenn zwei Bohnen d'reingehn auf ein Viertelpfund.«
»So, und unser Firmeninteresse, Schröder?«
»Unser was?« Er kannte kein Fremdwort.
»Das Recht unseres Hauses auf den ihm zustehenden Geschäftsgewinn«, übersetzte ich schwulstig.
Er zwinkerte mich gütig an: »Dafür hab' ich dem dicken Fallermeier seine zehn Säck' um so genauer ausg'wog'n, Heuschreck, grüner.«
Schröder und die Wage waren ganz verwachsen. Er putzte sie, er ölte sie, betreute sie, wie man ein kleines Kind betreut. 112 Nein, eher wie man eine Braut behandelt. Denn er gab ihr gleiche Rechte. Er ordnete sich unter, wenn er ihre Zeichen ablas, gespannt und folgsam. An die vierzig Jahre treuer Brautschaft will was heißen.
Ueberallhin nahm er diese Brautschaft mit. Auf der Straße sah ich ihn den andern Gründe auseinandersetzen. Erst verstand ich seine Handbewegungen nicht. Dann begriff ich sie: Gewichte tat er in die Schale, eins ums andere. Mit den Schultern schwankte er. Jetzt spielten sie aufeinander ein, standen im Gleichgewicht. Der Gegner war gewogen. Es hätte einen nicht gewundert, wären Wagegestänge aus seinen Scharnieren herausgewachsen, dezimal erstarrt, und hätte Schröder fürderhin als öffentliche Wag' gedient.
Eines Tages führten sie Besuch durchs Lagerhaus. Es war ein junger Ingenieur. Er beklopfte allerlei Maschinen kritisch. Auch auf den Kaffeeboden kam er, beäugte Schröders Wage: »Altes Möbel, was?«
Schröder gab keine Antwort.
»Uraltes Möbel, was!«
»Meinen Sie meine Wage?«
»Ja, verflucht altes Möbel, was!«
»Das ist kein Möbel, sondern meine Wage, Herr.«
»Nu, nu, wollen sich wohl duellieren Ihres alten Möbels wegen – übrigens, sollten mal die Teile auseinandernehmen, Alter.«
»Teile? auseinander?«
»Ja, Petroleum legen, Glaspapier abreiben. Bißchen polieren. Werden staunen, wie adrett das Ding dann wieder spiegelt und ausschaut.«
»Danke, tut's auch so.«
»Nu, nu, abermals beleidigt? Also Petroleum, Glaspapier, polieren. Oder wenn Sie das nicht wollen, dann 'ne neue Wage mit 'ner bess'ren Konstruktion als dieses alte Dings da – nichts für ungut – guten Morgen, Alter.«
Schröder sah ihm feindselig nach: »Sicher einer von den Neumodischen – was sagt er, daß sie haben müßte: Struktion? – soll meine Wag' in Ruhe lassen, dieser Kerl, sonst hat's g'schnackelt.«
»Vielleicht hat er doch recht, Schröder«, wagte ich.
113 »Willst wohl auch ein solcher siebeng'scheiter Grasaff' werden, grüner Heuschreck, he!«
»Sie knarrt wirklich manchmal, und die Schnäbel reiben aneinander.«
»Das tun jüngere Schnäbel auch«, sagte er anzüglich, »ohne daß man sie gleich aus den Scharnieren nimmt und in Petroleum legt.«
Ich hätte beleidigt sein müssen. Aber das war doch zu billig. Ich schnitt dafür in leichtem Aufriß das ergrimmte Schröderantlitz in das Seitenteil der Wage. Erst übersah er's. »Nummer eins, dreiundfünfzig Kilo – aufschreib'n Mül – ja, was ist – was ist denn – ist denn –!« Er starrte sein Gesicht an, »wer hat – wer hat denn – hat denn –!«
»Ich, Schröder.«
»Schau ich so entsetzlich –?«
»Nur wenn man Ihre Wag' beleidigt, Ihre knarrige«, lachte ich herzlos.
Aber er hörte gar nicht auf mich. Immer wieder ging er um die Striche herum, schüttelte den Kopf und schraubte die Seitenwand los. Das ging aber nur, wenn er den einen Wagebalken vorher wegnahm. Und das nur, wenn er einen Seitenhebel lockerte. Und das nur, wenn – kurz und gut, er tat, was er zweiundvierzig Jahre nie getan: die ganze Wage nahm er auseinander.
Als die Teile faul und leblos hingeschmissen lagen, gab's ihm einen Ruck: »Meine Wag'«, jammerte er leise, »meine Wag'.«
Ich glaub', ihm war zu Mut, wie einem Bräutigam, der seine brave Braut zerlegt. Faul und leblos hingeschmissen liegen ihre armen Teile. Und die lange Liebe, die sich rätselvoll vom Spiel des Gliederganzen nährte, ist ertrunken in dem großen Schrecken – vorbei, vorbei. Vergebens, daß er sie – die Glieder seiner alten Braut – nun doch noch in Petroleum legte, daß er sie verzweifelt rieb mit Glaspapier, daß er an ihnen keuchend hin- und herpolierte –
»Schröder«, sagte der vorübergehende Prokurist, »Sie haben also schon erfahren, daß die neue Wage angekommen ist?«
114 Er sah ihn stumm und verständnislos an. Er schaute unbeteiligt zu, wie sie von der Laderampe etwas Strohverpacktes anschleppten, wie sich's metallisch glänzend daraus schälte. –»Na, Schröder, Freude an der neuen, wie?« fragte der Prokurist ermunternd und ging.
Aber Schröder hatte keine Freude. Wie soll einer, der soeben seine Braut geschlachtet hat, an einer neuen Freude haben?
»Hallo Schröder, diese Säcke Kaffee müssen heute noch fort!« rief der Lagerhalter.
»Meinetwegen.«
»Sie sind noch nicht gewogen, Schröder!«
»Meinetwegen.«
Sie schleppten ihren Kaffeeballen auf die neue spiegelblanke Wage: »Schröder, wiegen! Müller, aufschreiben!«
Die Tinte floß mir langsam aus gezückter Feder. Schröder wog nicht. Es war nichts mit ihm zu machen. Ein anderer mußte wiegen. Schröder stand in der Ecke und bastelte an den Teilen seiner alten Braut. »Meine Wag'«, hörte ich ihn leise jammern, »meine Wag'.«
In dieser Nacht ist er nicht heimgegangen. Heimlich hat er sich auf dem Kaffeeboden einschließen lassen. Heimlich bastelte er die ganze Nacht.
Als der junge Morgen anbrach, war seine alte Braut aufs neu' lebendig geworden. Und mit ihr die alte Liebe, die rätselvoll vom Spiel des Gliederganzen wieder auf ihn ausströmte. Er jammerte nicht mehr »meine Wag'«, murmelte er fröhlich »meine Wag'«.
Als ich eintrat, standen schon die ersten Säcke wieder drauf. Des Alten Daumen und Zeigefinger prüfte ruhig an dem alten Zünglein: »Vierundfünfzig ein halb Kilo – was ist denn, Müller? hoppla, aufgeschrieben! . . .«