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Hinten bei den Mustergläsern saß der alte Holm und schrieb Adressen. Alles was an Schriftlichem hinauskam, ging durch seine Hand. Freilich recht mechanisch.
Holm sprach mit keinem Menschen. Pünktlich kam er, pünktlich ging er. So untergeordnet seine Arbeit war, nie hat ein Tipfelchen gefehlt. »Ein vertrockneter Pedant«, sagte der Volontär Sturmbrenner, dessen Arbeitstipfelchen zu wünschen übrig ließen.
Alle mußten wir an Holm vorbei, wenn's an die Arbeit ging. Alle grüßten ihn. Einige respektvoll. Sturmbrenner machte einen Fingerschnackler, zuckte seine Lehrlingsschultern und sagte zu mir: »Den grüßen Sie, Kollege, diesen alten Deppen?«
Buchhalter Vater drehte sich um: »Junger Mann, Herr Holm hat's einmal weiter gebracht gehabt, als wir alle miteinander, Sie und Ihre Zukunft eingeschlossen.«
156 »Na, zum Adressenschreiben bring' ich's auch noch«, spottete Sturmbrenner.
»Nicht auf das dünne Endstück einer Arbeit kommt es an, die ganze Lebensarbeit wird gewogen.«
Sturmbrenner blies über seinen Schreibärmel: »Nun, und wieviel Gramm –?«
»Zentner wiegt sie«, brauste Vater auf, »um die halbe Erde ging sie, während eines jungen Windhunds Spur im Sande verweht – an die Arbeit, bitte.«
»Er spinnt«, murmelte Sturmbrenner beleidigt in seine Arbeit, »er spinnt total, Kollege.«
»Wenn Vater bisher etwas sagte, hat's immer gestimmt,« sagte ich.
»Sie halten's also auch mit dem Adressenschreiber?« spottete er.
»Ich halte dafür, daß er große Züge im Gesicht hat, die auf etwas anders zurückweisen als auf Adressenschreiben.«
»Gott, ein jeder hat mal irgendwann irgendwas getaugt.«
»Ja, Sie zum Beispiel mit Ihrer Schnauze, Ihrer schnodderigen«, sagte Buchhalter Vater übers Pult herüber, »und das will ich Ihnen sagen: wenn Sie den Mann nicht grüßen, gehe ich zum Prinzipal, Herrn Kramer, und –«
»Der wird sich wegen eines Adressenschreibers kaum aufregen.«
In diesem Augenblicke ging Herr Kramer mit Holm durchs Kontor. Er schien ihn eindringlich um etwas zu bitten: ». . . und ich dachte, Herr Holm, da Sie doch selbst so lange in China waren, würden Sie uns Ihren Rat in dieser Sache nicht vorenthalt –«
»Ich gebe keinen Rat mehr«, sagte das steinerne Gesicht, »nichts ist sicher, alles fließt.«
»Ich weiß, Herr Holm. Aber ob Sie damals – ich meine, zu Ihrer Zeit – einen solchen Abschluß unter gleichen Umständen gutgeheißen hätten, könnten Sie uns doch ohne Gewähr –«
Holms Gesicht gewann Leben. Alte Gedanken schossen alte, längstverlassene Geleise. »Ja«, sagte er, »das hätte ich.« Schon war er wieder starr.
»Das genügt mir, danke Ihnen sehr, Herr Holm . . .« 157 Es sah aus, als wolle er ihm die Hand drücken. Aber Holm war schon unterwegs zum Musterzimmer, um Adressen zu schreiben.
»Komisch«, brummte Sturmbrenner, »unbegreiflich«. Dabei beruhigte er sich. Ich nicht. Mir ließ es keine Ruhe. Holms Vergangenheit saß mir im Genick und raunte mir ins Ohr: »Ja, Junge, der hat viel erlebt . . . so viel, wenn du einmal bewältigst . . .«
Aber fragen tat ich Vater nicht. Er würde mir's schon selber sagen, wenn er es für richtig hält. Dann kam die Nacht, die ihre Bilder von den Farben malt, die am Tag nicht ausgepinselt werden durften. Holm tauchte auf. Den starren Mund geschlossen: »Herr Holm, man sagt, Sie hätten eine große Zeit gehabt?« – Holm blieb unbewegt. »Ich weiß nicht mehr.« – »Ist es wahr, daß Sie einmal in China?« – »Weiß nicht mehr.« – »Und daß Sie dort große Dinge –?« – »Weiß nicht mehr, muß jetzt Adressen schreiben . . .«
Am andern Tag hielt ich's nicht mehr länger aus. »Herr Vater«, begann ich zagend – »Weiß schon: Holm, nicht wahr?« lächelte er. – »Woher wissen Sie –?« – »Hat Sie wohl die ganze Nacht gezwickt, nicht wahr?« – »Woher wissen Sie –?« – »Nun, wenn man so lange Buchhalter ist, wie ich, lernt man auch in der Geheimbuchführung der Lehrlingsherzen ein wenig lesen. Können mich nach Haus begleiten. Will unterwegs von Holm erzählen. Lang ist die Geschichte nicht. Ich kenne nur den groben Umriß. Auch nur, soweit er sichtbar ist. Das Feine, Unsichtbare wird man sich ergänzen müssen.«
Die Geschichte, die er mir erzählt hat, hab' ich damals nicht verstanden. Ich war zu jung dazu. Heute verstehe ich sie. Sie hat jahrelang als Klotz in meinem Kopf gelegen, ehe sie zu keimen anfing. Das ist mit hundert Brocken so, die grob und unverstanden in die Jugend fallen. Viele Jahre gehen wir drumherum. Die Jahre selber spinnen drüberhin, durchwachsen mit tastenden Wurzeln die Brocken, bis sie eines Tages auseinanderfallen und uns den süßen oder bittern Kern enthüllen.
Holm hat angefangen, wie er aufgehört hat: mit 158 Adressenschreiben bei derselben Firma. Nur daß der Ehrgeiz in ihm brannte, als er anfing, der Ehrgeiz, der ihn eine steile Leiter aufwärtshetzte. Vater hat ihn nur das kleine Anfangsstück bei Kramer & Friemann überklettern sehen. Dann verschwand er vom Gesichtsfeld. Von Zeit zu Zeit kam Kunde: Kassierer bei der Bank geworden – Prokurist in einem Speditionsgeschäft – stellvertretender Direktor eines Ueberseehauses – Spezialbevollmächtigter eines Ausfuhrsyndikates für China – seine ungewöhnlichen Exporterfolge gingen durch die Zeitung – neuen großen Warenströmen hat er eine Furche durch die halbe Welt gegraben – ein Heer von Angestellten hat er drüben dirigiert – auf einmal –
. . . gestern hat er noch aus einer Flut von Telegrammen einen wundervollen Feldzugsplan entworfen, mit Geschick die Schwierigkeiten für ein halbes Jahr hinweggeräumt, und heute sein Telegramm von Shanghai an das Syndikat nach Hamburg: »Ich danke ab.« Sie hielten's erst für einen schlechten Witz. Dann für einen Schachzug. Sie kabelten ihm, verdoppelt sei sein Jahresgehalt. Unverrückt kam durch denselben Draht die Antwort: »Rücktritt fest beschlossen. Nachfolger ausgesucht. Abfahre übermorgen Dampfer Sussex. Holm.« In Hamburg stürmen sie aufs neue: »Holm, Sie werden doch nicht . . . Holm, wir brauchen Sie . . . Holm, was ist nur über Sie gekommen, sind Sie krank?« – »Nein, nur müd.« – »Gut, Sie sollen ein Jahr Urlaub haben, wenn Sie nachher wieder –« – »Nein, fertig bin ich.« – »Sie meinen mit den Nerven, Holm?« – »Ich weiß nicht, sind's die Nerven oder sonstwas – um meinen Abschied bitt' ich – ich will Schluß.« Nun gut, so hat er Schluß gemacht. Hatt' einiges erspart. Viel war's nicht. Ist eine Weile unstet spazierengelaufen. Hat das Müßigsein nicht vertragen können. Hat sich in Geschäften vorgestellt. Ah, der erfolgreiche Holm, hat es geheißen, für den mache man irgendeinen Posten frei, und wenn's der erste wäre. – Nein, nicht den ersten wolle er, den letzten. – Ob das Spaß sei? – In Geschäften habe er noch nie gespaßt. – Gut also, welchen Posten? – Adressenschreiber.
159 Da hätten sich die Prinzipale angesehen und verlegen vorgeschützt, sie würden morgen schreiben. Wären froh gewesen, wie er draußen war und hätten sich bedeutsam zugenickt: Ja, es sei schlimm, daß die chinesische Sonne diesem tüchtigen Menschen am Ende eines tatenreichen Lebens das Gehirn verwirrt. Von Firma wäre er geirrt zu Firma. Ueberall das Nicken und verhaltenes Mitleid: »Jawohl, Herr Holm, wir werden Ihnen morgen schreiben.«
Sie schrieben nie. Sie schickten ihm den Nervenarzt. Der machte eine Nadelprobe in der Wirbelsäule. Der durchforschte ihn nach Freudschem Muster. Der ließ ihn schwierige Worte sagen: Artilleriekaserne, Psychologie, Tetraeder. Holm sprach sie glatt. Der Arzt kam zu den Auftraggebern: »Meine Herren, Holm ist intakt.« Das heißt, so wollte er es sagen. Aber er war von Nachtbesuchen überanstrengt. Sein Sprachnerv machte, ohne daß er's wußte, einen Hopser. »Meine Herren«, sagte er, »der Mann ist antikt.«
Da sahen sich die Prinzipale wieder an und sagten, es sei gut und – schafften ihn als Hausarzt ab. Und so wäre es gekommen, daß ein gesunder Mensch einen anderen gesunden Menschen bei gesunden Philistern aus dem Sattel hob. Womit Holm freilich noch immer keine Stellung hatte. Als sein Erspartes völlig auf die Neige ging, sei er zu Kramer & Friemann gekommen, wo er mit Adressenschreiben angefangen hatte: »Herr Kramer, bitte um Adressenarbeit.«
Herr Kramer sei erschüttert gewesen. Aber merken ließ er nichts. »Freilich«, habe er gesagt, »natürlich, wenn es Ihnen Spaß macht, Holm.« – Nein, Spaß gerade nicht, aber immerhin, es sei was sicheres. – Herr Kramer sei kein Doktor, aber das habe er gespürt, in diesem Wort »was sicheres« steckte der Schlüssel. Er habe ihn vorsichtig gedreht, den Schlüssel, und da sei die Tür plötzlich aufgegangen. Aus ihm herausgequollen sei sein ganzes Leben. Auf der Stirn die Etikette: »Uebermaß an Arbeit«. Heiß verzehrend hatte ihn der Ehrgeiz umgetrieben. Keine Ruhe und Rast. Höher, höher. In Posten ward er aufgeschoben, wo es hieß, mit Unbekannten rechnen, lauter Unbekannten. Telegramme hatten ihn Tag und Nacht umwirbelt. Mehr als einmal haben Hunderttausende an einem simplen Ja 160 oder Nein gehangen. Aber aus hundert Unsicherheiten habe sich das sichre Ja ergeben, grinsend hat ein falsches Nein den Rachen aufgemacht, daß es ihn verschlinge. Es hat ihn nicht verschlungen. Durch tausend Klippen ist er glücklich durchgekommen. Von Erfolg zu Erfolg. Wo er freilich täglich auch hätte stranden können, Hohn hinter sich. Viel beneidet von den vielen, die von heute auf morgen leben, hochgeschätzt von seinen Auftraggebern. Er selber unablässig mitten im Gewirr von Fädenbündeln, die, verknüpft mit seinen Nerven, immer an ihm rissen, dahin, dorthin. Bis er's eines Tages nicht länger mehr ertrug. Bis er das blanke Webeschiffchen mit Gewalt erfaßte: »Halt!« Bis er im fernen Land in hastendem Getriebe eine stille Vision hatte: Adressenschreiben. Das war die erste Staffel gewesen, wo er mit dem Absatz hinten noch auf sichrer Mutter Erde stand, ohne X und Y. Wo er das erste Geld verdiente, das erste sichre Geld. Das Gefühl des ersten selbstverdienten Zwanzigmarkstückes sei gewaltig. Es verblasse nicht, wenn später auch Millionen durch die Hände gingen. Das Büchlein sei ihm wieder aufgetaucht, wo er das schmale Monatsverdienst links eingetragen habe, und rechts die sauber ausgetipfelten Ausgaben, Pfennig für Pfennig. Und es habe stets gestimmt, und stets sei er im Gleichgewicht gewesen, für sich und still versenkt in seiner stillen Welt, die ihm dann der Ehrgeiz und die Ueberarbeit so grausam auseinandergerissen und zerzupften. Nun sei er müde, furchtbar müde, und ihn verlange nur nach einem kleinen Büchlein, wo er sein schmales aber sichres Monatseinkommen links, und rechts –
Herr Kramer habe ruhig zugehört: »Es sei, Herr Holm. So lange, bis Sie selbst, von der Eintönigkeit der Arbeit abgestoßen, verlangen, daß –«
»Eintönig«, habe Holm gelächelt, »Adressen sind nicht eintönig. Ich weiß noch genau, wie damals meine Phantasie durch die Adressen spielte. Schrankenlos. Welten sind mir aus den seltsamen Firmen und den seltsameren Orten aufgetaucht – Welten, die keine spätere Wirklichkeit erreichte – überhaupt, Herr Kramer: Wirklichkeit? wer sagt uns, daß die sogenannten Wirklichkeiten nicht verzerrte 161 Träume sind, und die sogenannten Träume unverzerrte Wirklichkeit.«
»So hat Herr Holm den Posten bei den Mustergläsern angetreten«, schloß Vater seine Erzählung. »Wer um sein seltsam Schicksal weiß, – mir hat's Herr Kramer anvertraut – behandelt ihn respektvoll. Tun Sie's auch und helfen Sie dazu bei andern.«
Ich hab's nicht begriffen. Verstand entscheidet nicht. So wenig als es in China Holmscher Ehrgeiz entschieden hat. Entschieden hat das Gefühl. Und im Gefühl, so jung ich war, erfaßte ich doch unbewußt die Holmtragödie hinten bei den Mustergläsern.
Als ich nachmittags ins Geschäft ging, lief er mir wieder in den Weg, der superkluge Volontär Sturmbrenner. »Der Holm ist doch verrückt«, bemerkte er. Ich hätte ihm links und rechts eine 'runterhauen können. Aber es fiel mir ein: Das hatte Vater nicht gemeint, als er sagte: »– und helfen Sie bei andern.« Also habe ich ihm das von China wiedererzählt, sturmbrennerisch verbrämt, so daß er's schlucken konnte. Er hat's geschluckt und »Komisch«, dazu gesagt, »komisch«.
Als wir beide durch das Musterzimmer gingen, saß Holm schon da, links die Adressenstöße, rechts ein schmales Büchlein aufgeschlagen. Ich habe tief den Hut gezogen. Sturmbrenner tat desgleichen. Das starre Gesicht hat uns ruhig angesehen. Mir war, als habe er gelächelt. Ganz fern gelächelt. Mit einem Chinalächeln, wie es lebenslang auf elfenbeinernen Gesichtern der Chinesen spielt.