Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Das Konto

Ein Gickel ist bei mir zu Haus ein Doppelvieh. Einmal ist's der Hahn, der im Hühnerhofe schillert, kräht und stolzt. Und noch öfter ist's der Gickel, der in einem selber schillert, 21 kräht und stolzt. Der Gickel auf dem Hühnerhofe hat ein zähes Leben. Jede Köchin kann davon erzählen, wenn sie einen schlachtet. Es soll Gickel geben, die mit abgehacktem Kopf noch über eine Mauer fliegen. Es könnten drüben Hühner leben, die sich ohne Kopf regieren lassen. Inwendig aber sind die Gickel noch viel zäher. Sie regieren immer kopflos. Ganz tot sind sie, glaub' ich, nie zu kriegen. Am wenigsten der Lehrlingsgickel.

Mein Lehrlingsgickel war in der scharfen Luft des Warenkellers sanft eingeschlafen. Da kam ein Prokuristenzettel: »Lehrling Müller hat von morgen ab in die Stadtbuchhaltung einzutreten, Kontokorrent M–P. Mathis, Prokurist.«

Mein Gickel hob sofort die Flügel. »Aha«, krähte er, »jetzt haben sie da droben deinen Wert erkannt, jetzt beginnt der Aufstieg. Ich bin bereit. Her mit dem Konto terzo!« Das Konto terzo, hatte unser Handelslehrer lockend unterstrichen, sei die Krone in der Geheimwissenschaft der Buchführung. Wer's beherrsche, sei ein halber König. Ich beherrschte es. Sogar mit Doppelwährung. Ich war ein halber König, heimlich und mit Arbeitsschutzkleidung heute noch im Warenkeller, offen und im Tagespurpur meines Wissens morgen in der Stadtbuchhaltung, Kontokorrent M–P. Freilich nur als ein halber König, dessen andre Hälfte überschattet war vom amtsverwachsenen Kanzler. Das war ein alter Buchhalter namens Vater, der mich scharf betrachtete:

»Aha, der neue. Verstehst schon was von der Buchführung?« Das Du war bös. Noch böser war die Schätzung meiner Kenntnisse. Auf das Du hätte ich sagen können, mit zwei Fingern zwischen dem zweiten und dritten Westenknopf und mit überschlagenen Beinen, kühl, napoleonmäßig: »Ich wüßte nicht, Herr Vater, daß und wann wir Brüderschaft getrunken.« Aber leider fiel mir dieser seine Satz erst eine Stunde später ein. Was mir gleich einfiel, war nur: »Prüfen Sie, Herr Vater.«

»Prüfen? Na also, was zum Beispiel ist ein fauler Kunde?«

Fauler Kunde? Ich erschrak. Im ganzen Buchführungsunterricht war kein fauler Kunde vorgekommen.

22 »Ich weiß nicht,«, stotterte ich, »wenn es aber etwa mit dem Konto terzo zusammenhängt, so –«

»Konto terzo? was soll denn das sein?«

Ha, er wußte nicht, was Konto terzo ist. Ich wußte nicht, was fauler Kunde ist. Wir waren quitt. König und Kanzler konnten sich die Hände reichen.

»Konto terzo ist«, sagte ich leutselig, »Konto terzo ist die buch- und zinsgerechte Abrechnung in dreierlei Landeswährung für ein gemeinsames Unternehmen zwischen drei gleichberechtigten Konsorten.«

»So so, na ja, schön, und faule Kunden sind solche, mit denen mein Kontokorrent M–P Gott sei Dank nichts zu tun hat, weil wir ihnen rechtzeitig das faule Handwerk legen mit dem Mahnverfahren. Das kennst du doch?«

»Es geht«, sagte ich etwas unsicher.

»Schön«, prüfte er weiter, »was für eine Farbe kommt zuerst?«

»Farbe?«

»Natürlich, so was lehren sie in keiner Handelsschule. Also, zuerst kommt eine Mahnung auf einem blauen Formular, weil blau am wenigsten beleidigt. Dann kommt ein grünes Formular, weil noch Hoffnung ist. Die dritte Mahnung aber ist natürlich rot. Jetzt kommt der Text. Wie lautet der in blau?«

»Sie schulden das und das. Wir bitten zu bezahlen.«

»Nee, Verehrter. Die Glacéhandschuhe wären doch zu grob. Bei Durchsicht unserer Bücher finden wir auf Ihrem werten Konto noch ein Pöstchen soundso offen, das Ihrer gefälligen Aufmerksamkeit entgangen sein dürfte. Wir bitten Sie höflichst uns mitzuteilen, ob Sie hiermit einiggehen und zeichnen hochachtungsvollst. In grün fällt bei hochachtungsvollst und auch sonst das st weg. In rot sogar das hoch. Achtungsvoll ist einer unten durch. Sein Saldo kommt ins Schwarze Buch, das kennst du doch?«

»Wenn es etwa mit dem Konto terzo zusammenhängt –«

»Nee, faule Kunden sind im Schwarzen Buch. Das führt der rote Reuttermann dort drüben. Mit dem Gesindel gibt sich M–P nicht ab. Jetzt noch eine Frage: Was ist Bonität?«

23 »Bonität ist in der Steuerlehre die ertragstechnische Erfassung landwirtschaftlicher Grundstücke –«

»Landwirtschaftlich? Hast du dich in der Tür geirrt. Bei Kramer & Friemann machen sie nicht in Mist, sondern in Kolonialwaren. Bonität ist die Zahlungsfähigkeit der Kunden. Was die Prüfung deiner Wissensbonität betrifft –«

»Warum prüfen Sie mich nicht in Konto terzo und –«

»Weil wir das nicht brauchen. Und weil du's auch nicht brauchst. Was du brauchst, ist eine praktische breite Grundlage in der Handhabung des einfachen kaufmännischen Handwerkszeugs. Und jetzt hat sich's ausgeprüft. Nun wird geschafft. Trag mal die Postanweisungen in die Liste ein.«

So kam es, daß der König weiter heimlich blieb. Daß er auf Weisung seines Kanzlers Postanweisungen sauber in Listen einzutragen hatte, tagelang.

Natürlich war der König seinem Kanzler gram: »Warte nur, wenn ich einmal mein eigner Kanzler bin . . .«

Der Weg dorthin war weit. Er führte über dornig Land der Unterordnung. Oede Strecken kopierter Briefe waren durchzumessen: »Noch sauberer, Müller, wie willst du einmal deinem Lehrling im Kopieren auf die Finger schauen, wenn du's selbst nicht recht gelernt hast?« Berge von Briefumschlägen waren zu beschreiben: »Keine Schnörkel, Müller. Ein Brief ist ein Besuch, sein Umschlag das Besuchsgewand. Möchtest du an deinen Hosen Schnörkel haben?« Die Mahnschreiben, blaue, grüne, rote, konnte man alsbald im Traum herunterhauen: »Genauer, Müller, bitte. Hinterm Ort das Komma nicht vergessen. Ohne Punkt ist das der elf September, nicht der elfte. Nach der Jahrzahl kommt ein Punkt, Verehrter. Kleinigkeiten, sagst du? Ein Freund von mir ist Brauereidirektor. Er schrieb einen gutbezahlten Posten aus. Hundertdreißig Angebote liefen ein. Nach der Datumüberschrift gesiebt – ha, da fehlt ein Komma, he, und da ein Punkt, hui, und dort ein zweiter – blieben dreizehn tadellose. Wer im Kleinen schludrig ist, kommt trotz Genie unter die Räder. Zweite Wahl der dreizehn nach dem Inhalt, blieben zwei. Die ließ er einzeln kommen. Zu beiden sagte er, auf den andern sei die Wahl gefallen. Nach dem Gesicht, das darauf einer machte, traf er seine letzte Wahl. Laß dein 24 Napoleongesicht zu Hause, Müller. Vorerst bleibst du noch am Punkt und Komma hängen, nicht am Antlitz eines Dschingis Khan.«

Ei, Dschingis Khan? Mein Kanzler war gebildet? Sogar in Weltgeschichte? Ich werd's noch eine Weile mit ihm versuchen müssen.

»Müller, seit einer Woche kopierst du tadellos, militärisch sind die Postanweisungen addiert, kein Tipselchen fehlt an den Briefen – dafür sollst du heute auch deinen ersten Uebertrag ins Kontokorrent machen.«

Er schaute feierlich aus. Seine Augenbraunen standen hochgebogen. Wie segnend fuhr die Hand über den roten Saffianrücken des Kontokorrents, dann über die Goldbuchstaben M–P auf dem schweren Deckel. So muß ein Priester segnen, der zwei Ehehände ineinanderlegt. Ja, so war es: Ich sollte mit dem Buch verlobt werden.

Dann schlug er's auf. Davon ging ein Lufthauch übers Pult. Es wehte mich an: »Junge, sieh mich recht an. Ich bin ein andres Buch, als die du bisher lasest. Ich bin kein Indianerbuch mit billigen Präriegeschichten. Ich bin kein Schulbuch, das ein jeder kaufen kann und wieder fortwirft. Ich bin ein Geschick. Ich bin von einer Firma ein lebendig Stück. Von Kramer & Friemann bin ich eine Rippe. Ich bin mehr als im Debet eine Zuckerrechnung und im Credit eine Kassazahlung. Ich bin auch das, was zwischen Soll und Haben steht. Zwischen Soll und Haben steht die Arbeit, stehen Hoffnungen und Tränen, steht der Hunger, die Enttäuschung, der Erfolg, und schlagen Menschenherzen durch ein Leben voller Mühen. Noch mehr, Junge, bin ich: ein gestrenges Sieb. Kaufmann spielen gilt nicht, Kaufmann leben gilt. Der Kaufmann ist kein Larifari. In den Adern deines Volkes befrachtet er mit jedem Atemzug die tausend Schiffe, die zum Herzen ziehen. Befrachte mit und segle, mühe dich und steuere recht, sonst fällst du durch mein Sieb. Und mach den ersten Eintrag wie den letzten: treu. Und jetzt –«

»Schreib'!« sagte der alte Buchhalter, »schreib' deinen ersten Eintrag, Müller: Hermann Pfister Soll Oktober 23. An Kaffee und Waren. Verfall 3 Monate . . . Mark 955.35 – hast du – keinen Schnörkel – gut so – 25 alle P-Einträge im Soll und Haben sollen Sie von jetzt ab machen, Müller . . .«

Ha, Sie! Und die alten Hände hatte er mir auf die Schulter gelegt und tief ins Aug' geschaut: »Weiß freilich nicht recht, ob Sie bei der Gilde bleiben werden. An Ihnen zittert etwas, will mir scheinen, das sieht nicht wie Sitzfleisch aus. Gleichviel, Durchgang oder Endziel – Blut das eine wie das andere, Blut, Junge, aber keine Wassersuppe!«

Ha, er war doch mehr als ein dürrer alter Federhalter, mehr als gebildet, er war ein Mensch. Ich werd' es wieder eine Weil' mit ihm versuchen müssen.

Nur schade, daß er gar nichts aus sich machte. So bescheiden saß er auf dem Hochstuhl. So klein und still ging er übern Flur, daß die Kunden ihn für einen Boten hielten. Den Seßler aber hielten sie für unsern Prinzipal. Der Seßler war freilich nur ein Stadtreisender. Einer von einem Dutzend. Aber wie der auftrat: Was kost't die Welt samt den Planeten? Krawatte hurraxdax, Ueberzieher Donnerwetter, Stiefel huidibui. Einmal sah ihm der Herr Kramer nach und schüttelte den Kopf. Ich dachte damals, er beneidet ihn. Denn er sah ernst, fast finster drein. Und mit dem Prokuristen hat er sich beredet. Vielleicht darüber, wo der Seßler die Krawatten herbeziehe, dachte ich. Denn Herr Kramer machte eine Handbewegung: Bis zum Halse, Herr Mathis.

Daß ich als jüngster Lehrling Luft war für den Göttermenschen Seßler, nahm ich hin. Immerhin, Beziehung hatte ich zu ihm. Die Kontenauszüge seiner Kunden durfte ich ihm überreichen. Bisher stumm. Nur einmal hatte ich versucht, ihm geistig nahzukommen. Auf der Brücke übers Konto terzo selbstverständlich.

»Kleiner Quatschkopp«, sagte er. Aber es war keine Beleidigung. Denn erstens war's der göttergleiche Seßler. Und zweitens kraute er mir dabei wohlwollend das Nackenhaar und setzte »Donnerwetter, schau mal, netter Käfer!« zu, wobei er auf den Hof hinunterblickte, über den graziös das Kocherl der Familie Kramer wippte.

»Junge, Junge«, sagte er, »du warst noch nie verliebt, was?«

Ha, hier war der Angelhaken, seine Achtung zu erködern.

26 »Verliebt, Herr Seßler?« log ich, »Gott, dann und wann natürlich.«

»Ei, ei, mit wem?«

Ich setzte die Miene eines Menschen auf, der sich beim besten Willen nicht so Knall und Fall an alle seine Lieben erinnern kann. Aber da waren seine Siegeraugen über den Kontoauszug Hermann Pfister hingeglitten. »Saldo 1956,55«, las er stirnrunzelnd, »davon verfallen 1318,22. Und 'n Mahnungs-M hat er auch dazu gemacht, der olle Vater!«

»Das habe ich gemacht, Herr Seßler«, sagte ich stolz, »weil der Mann am nächsten Ersten blau gemahnt wird.«

»Dummes Zeug, der Mann ist prima prima.«

»Herr Vater hat ihn in der Bonität um eins herabgesetzt.«

»Der Vater ist 'n Döskopp. Der stößt mit seiner Mahnerei die besten Kunden vor den Bauch. Der Mann wird nicht gemahnt, verstanden?«

»Aber wenn am Ersten der Posten noch immer offen steht, Herr Seßler –«

»Er steht nicht mehr offen«, unterbrach er mich ärgerlich.

»Soll mich freuen«, sagte ich mit Würde, »wenn ich bis dahin die Bezahlung eingetragen habe.«

Er verwandelte sich. »Wie«, sagte er achtungsvoll, »wie, Herr Müller, Sie machen schon Einträge im Kontokorrent?«

»Natürlich, alle Kunden mit P habe ich unter mir, sowohl die Belastungen aus dem Verkaufsbuch als die Gutschriften aus der Kasse.«

»Donnerwetter, Herr Müller, Sie steigen rasch. Ich seh' Sie schon als Prokurist.«

»So rasch geht das nicht, Herr Seßler«, wehrte ich bescheiden.

»Na, werde mich jederzeit für Sie einsetzen. Verlassen Sie sich drauf. Intelligente junge Leute werden immer seltener heutzutage. Habe die Ehre, Herr Müller, habe die Ehre – übrigens, sagen Sie mal, darf ich Ihnen mal so eine ähnliche Krawatte wie ich –«

»Ich fürchte«, stotterte ich beglückt, »ich werde sie nicht bezah–«

27 »Bezahlen? Aber bester Herr Müller: verehren, meine ich. Hab' da eine wunderbare Quelle. Kosten mich so gut wie nichts . . .«

Strahlend ging ich durch die Woche. Nur eine Sorge drückte mich: Wenn die Krawatte kam, wie würde ich mich revanchieren?

»Fritz, für dich ein Doppelbrief«, empfing mich abends Mutter. Es schälte sich daraus die Seßlersche Krawatte und ein Brief: »Lieber junger Freund. Es ist mir ein Vergnügen . . .« Mutter schüttelte den Kopf, genau wie ihn Herr Kramer neulich schüttelte. Aber sagen tat sie nichts. Ich desto mehr. »Mein Freund, der Herr Seßler . . . Herr Seßler, mein Freund . . .«, riß meine Rede nicht mehr ab. Bei Onkel Frank, dem Maler, den ich Sonntag vormittags im Atelier besuchen durfte, erschien ich erstmals mit der göttlich Getipfelten.

»Aha«, lachte Onkel Frank, beim Pinseln seitwärts schauend, »hat dir wohl der Seßler aufgehängt.«

»Wie, du kennst ihn, Onkel?«

»Freilich, freilich«, pinselte er weiter, »fideles Huhn, urfideles Huhn.«

Dann traf ich ihn in der Straßenbahn. Er begrüßte mich mit weitem Hutschwung. »Dank? nee nee, ich bitte Sie, mein lieber Freund. Revanche. Aber ist ja nicht der Mühe wert – das heißt, wenn Sie einem andern einen kleinen Gefallen tun wollen –?«

Ich nickte glühend eifrig.

»Sehen Sie, da ist das Konto Pfister. 1318 überfällig, glaub' ich. Der Mann ist gut. Der Mann ist mehr als gut. Aber na, es gibt da kleine Stockungen, wie Sie selbst wohl wissen werden –«

Ich nickte in Gedanken meiner Zwanzigmarkvergütung zu, die ich monatlich von Kramer & Friemann bezog.

»– und wenn dann eine Tochter ausgesteuert, eine alte Mutter unterstützt wird, ein Sohn beim Militär ist und ein anderer für Amerika gerüstet werden soll – 'n bißchen viel, nicht wahr – na, der Mann kommt drüber weg – nur braucht er Zeit – wenn ihr ihn mit Mahnereien drangsaliert, 28 schmeißt so ein Mensch die Flinte ins Korn – macht womöglich auf sich selbst bumbum –«

»Um Gotteswillen!«

»Sie könnten ihn erretten.«

»Ich?«

»Mit drei Federstrichen im – im Haben, Sie verstehen?«

»N–nein.«

»Hm, sind doch sonst so hell: Knapp vor der Mahnung dreizehnhundert Märker als bezahlt ins Kredit eingetragen – verstehnse jetzt?«

»Freilich, wenn er die bezahlt –«

»L. L., langsame Leitung heute – na, ein andermal – was ich noch sagen wollte, lieber Freund: Ihr Onkel Frank erzählt mir, daß Sie den Markenfimmel haben – wie steht es mit der Schwarzen-Einser-Bayern?«

»Hab' ich.«

»Und mit dem Fehldruck »Dfutsches Reich«?«

»Hab' ich.«

»Und mit der blauen Mauritius?«

»Oh, die wenn ich hätte!«

»Können Sie haben, wenn – wenn Sie 'n bißchen nachdenken wollten, wie man diesem Konto Pfister ein wenig über die Mahnzeit hinüberhelfen könnte – ich spring' hier ab – wenn Sie morgen Abend 'n paar Minuten über den Geschäftsschluß bleiben, bring' ich sie mit.«

»Die blaue Mauritius?«

»Natürlich, wo ich sie doch doppelt habe, lieber Freund.«

Doppelt, die blaue Mauritius doppelt! war doch ein Tausendkerl, dieser Seßler. Und das sagte er so ebenhin. Wußte er denn nicht, daß die blaue Mauritius der Markenträume höchster war? Sind nicht Straßenschlachten ihretwegen schon geschlagen worden?

Ich suchte Onkel Frank auf: »Hast du nicht auch die blaue Mauritius?«

»Gehabt, mein Lieber. Wenn ich sie noch hätte, sähest du was anderes als Leberkäs auf diesem Teller, edler Neffe.«

»Sie ist seitdem noch seltener geworden, nicht wahr?«

»Blödsinnig selten. So selten, daß es Leute geben soll, die ihren besten Freund um sie verraten. Na, es gibt auch 29 Freunde, die zu zwölft noch keine blaue Mauritius wert sind.«

»Onkel Frank, morgen Abend hab' ich vielleicht schon eine«, prahlte ich.

»Also doch 'n Kaufmann«, lachte er, »haben sich jetzt Kramer & Friemann anstatt Heringe den Markenhandel zugelegt?«

»Geheimnis, Onkel. Du sollst sie aber sehen, wenn ich sie ergattert habe.«

»Schön, nur laß dich nicht betupfen«, sagte er, und tupfte mir Kremserweiß auf die Stirne.

»Onkel«, sagte ich mißbilligend, »du nimmst doch gar nichts ernst.«

»Hm«, sagte er und malte weiter.

»Nicht einmal eine blaue Mauritius.«

»Hm, sagst du. Und was sagt Onkel Adam?«

»Du brächtest's nie zu was vor lauter Viechereien, sagt er.«

»Gott sei Dank. Und Tante Schossefine?«

»Sagt, du seist verrückt.«

»Soll recht haben, die beleidigte Leberwurscht – komm mit, mein Sohn.«

Damit hängte er sein Waldhorn ab, holte ein kleines Leiterwägelchen vom Keller, nahm sein Fahrrad aus dem Schuppen, hing es an den Wagen, setzte sich in diesen mit angezogenen Knien, hob das Waldhorn hoch und deklamierte: »Junge, wenn du deinen Onkel lieb hast, sollst du ihn beerben.«

»Machen wir«, sagte ich lustig angesteckt.

»Ist aber eine Bedingung dabei.«

»Erfüllen wir.«

»Du setzt dich auf das Rad und ziehst mich, derweil ich blase, durch drei Straßen.«

»Aber Onkel –«

»Erben oder ziehen, ziehen oder erben? Zieh – in meiner Vorstadt blamierst du deine Firma nicht. Hopp, aufgestiegen, los! – trara trara . . .«

Die Leute haben baß geschaut wie ich da losgestrampelt bin, im Schlepptau den verrückten Maler, der zur Gaudi aller Vorstadtjungen einen Landler nach dem andern blies. 30 Aber nach der zweiten Straße fiel mir ein: »Ich seh' Sie schon als Prokuristen!« He, war das der Weg dazu? Rasch stieg ich ab. »Trara, halt, geliebter Neffe, noch die dritte Straße, oder ich enterbe dich!«

»Onkel, du bist doch verrückt!«

»Alte Sache, lieber Feigling, ich setze dich aufs Pflichtteil.«

»Ist mir gleich, wenn ich nur morgen meine blaue Mauritius –«

»Siehst du, du bist auch verrückt. Mauritius verrückt oder traraverrückt macht keinen Unterschied. Verrückt ist jeder. Ueberhaupt wer nicht ein Stück verrückt ist dann und wann, der ist – verrückt – gehab dich wohl, vieledler Markendepp und Neffe . . .«

Das war am Vorletzten des Monats. Uebermorgen wurden mir die Mahnungen diktiert. Dazwischen war Mauritius fällig.

Es schlug sieben im Kontor. Den aufatmenden Siebenklang vergißt keiner, der sich in Kontoren plagte: Geh nach Haus, hast deine Sache gut gemacht.

Der Volontär Sturmbrenner am andern Ende traf schon gegen sechs die ersten Rückzugsvorbereitungen: Er zog ein neues Löschblatt für den nächsten Tag auf seinen Drücker. Eine Viertelstunde später schob er einen dicken Packen Unerledigtes ins Einsalzfach: »Hähä, man sollte es nicht glauben, wie vieles sich von selbst erledigt, wenn man's liegen läßt.« Um halbersieben reckte er die Arme knackend: »Herrgott, hab' ich mich geplagt.« Von sechsdreiviertel ab folgten sich die Dinge rasend: Federauswischen, Bücherzuklappen, Schubladen absperren. Fünf vor sieben ein mißbilligender Vergleichsblick zwischen Wand- und Taschenuhr: »Das Kontorgetüm geht wieder nach. Ich habe Sternwartzeit. Na, bis man sich im Gang die Hände wäscht . . .« Aber er wusch sich niemals, sondern rannte draußen wie besessen über die Treppe in das Extrazimmer seines feudalen Klubs »Kopierpresse«, wo er Schlag sieben Uhr erschien und kritisch seine Uhr verglich: »Na, meine Zwiebel geht mal wieder nach – ah, Kollege, wieder Mensch, entronnen dem Proletenpack – setzen Sie am nächsten Sonntag auf die Kora? – Marie, 31 mein Hochofen, soll schon längst an meinem Platze schäumen – verdammte Schweinerei das, lieber Herr Kollege . . .«

Um dieselbe Zeit pflegte Vater auf den leeren Sturmbrennerplatz hinüberzuschielen: »Kommen tun sie wie die Barone, diese Neuen, und gehen wie die Maurer.«

Er selbst ging fünf nach sieben. Seit sicher dreißig Jahren. Wenn man eine alte Junggesellenbude hat, ist es nicht so eilig. »Nun, Herr Müller? Wollen doch im M–P nicht übernachten?«

Ich tat rasend eifrig: »Noch einige Memorialeinträge, Herr Vater. Morgen ist ja Mahntag.«

»Mahntag? hm.« Wie er dazu lächelte, sah er beinah' blöde aus. Ich sah ihm nach und dachte überlegen: Ist halt auch schon alt, das Schießpulver erfindet der nicht mehr.

Es war leer im großen Saal. Die Uhr tickte. Ich tat weiter eifrig. Aber die Uhr durchschaute mich, durchtickte mich: »Gib dir keine Mühe, junger Mann, ich weiß, was kommt.« Ich pfiff. Die Feder knirschte. Ich sah nicht auf. Ich spürte in dem leeren Saal die Schatten der Gestalten, die hier den Tag gewerkelt hatten, ehrlich, treulich, tüchtig. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich warf die Feder hin. Ich ging von einem leeren Platz zum andern. So verschieden war die Ordnung. Je nachdem die Tintenfässer standen, hätte man sagen können: »Hier sitzt der faule Sturmbrenner. Da ist des zappeligen Dessauers Reich. Dort herrscht die Zuverlässigkeit des alten Endres.«

Tick tack – schnurr – halbacht. Leises Scharren an der Türe. Ei, der Seßler scharrt sonst nicht, der stürmt herein. Ei, das ist ja –

Das schmucke runde Kocherl der Familie Kramer kugelt sich herein. Sie ist gar nicht schüchtern. »Sie sind also der Herr Müller? Ja ja, mein Bräutigam hat mir erzählt. Jawohl, Herr Seßler kann Sie auch gut leiden. Ich soll Ihnen sagen, daß er etwas später kommt. Er ist ja schauderhaft gehetzt, der arme Mensch.«

Ich höre stumm. Das glitzerige Fräulein rückt mir näher. Es schiebt sich zwischen mich und M–P. Es hat mich abgeschnitten. Ein warmes Händchen liegt mir auf der Schulter. Ein warmer Atem weht mich an und meine siebzehn 32 Jahre: »Nicht wahr, Herr Müller, wenn Sie meinem Bräutigam mal irgendwie gefällig sein können, es soll nicht umsonst sein, lieber Schneck.«

Sie hat mir einen Kuß gegeben, mir und meinen siebzehn Jahren. Ganz heiß ist mir. Ich muß gezittert haben. Das Knäuel in der Kehle will nicht hoch. Es pocht und hämmert, stürmt und singt. Tausend Jugenddinge mit dem zarten Flaum auf hellen Stirnen fangen an zu sinken. Sogar die blaue Mauritius taucht unter in dunkelrotem Blut. Ich greife mit einem Arm ins Leere. Nein, ins Leere nicht. Den festen kühlen Lederrücken M–P spüre ich mit einem Rucke in den Fingerspitzen. Langsam ebbt das Blut zurück. Ich bekomme keinen zweiten Kuß von ihr. Etwas ärgerlich sieht sie aus. Aber jetzt lächelt sie wieder: »Und daß ich bei Herrn Kramer in Dienst bin, wissen Sie. Ich kann da mehr als kochen, junger Mann. Man hat manchen Einfluß. Sie wären nicht der erste, dem ich nachgeholfen hab' im Avangsmang. Und auch sonst . . .«

Wieder war sie dicht an mir. Wieder schnitt sie mich von M–P ab. Wieder wehte es mich heiß an: »Na ja, wenn Sie erst ein paar Jahre älter sind, mein lieber Schneck . . .« Wieder hatte ich einen Kuß weg. Wieder fing's im Blut zu singen und zu sieden an. Wieder griff ich zitternd ans Pult. Nichts mehr dazwischen. Sie war draußen. Hastig ging ich auf und ab im Saal. Ich konnte mich nicht fassen. Ein kleiner Spiegel hing da. Glühend schaute ein Gesicht heraus. Auf den Gang zum Brunnen ging ich, wusch mich. Aus dem Spiegel glühte es noch immer. Das kam von innen. Das mußte auch von innen überwunden werden. Kühl und sachlich. Was war gleich kühl und sachlich? Ei, das Konto terzo. Will doch mal die Regeln wiederholen, laut und deutlich: »Zunächst ermittelt man den Saldo in der fremden Währung. Rechnet diesen um zum Abschlußkurs. Stellt den Saldo in der einheimischen Währung fest. Vergleicht mit dem umgerechneten Saldo der fremden Währung, woraus –«

»Heda, Mensch, Sie üben wohl 'ne Rolle für das Hoftheater! Uff, bin ich gelaufen. Dachte schon, Sie seien fort. Hab' dem alten Pfister seinen Sohn zur Bahn gebracht. Amerika, Sie wissen ja. Die guten Leute können sich nicht 33 helfen. Na ja, man tut ja, was man kann. Hat dem Alten massig Geld gekostet. Nu nu, er bringt es wieder rein. Braucht nur Zeit, nichts weiter. Aha, da haben Sie das Konto aufgeschlagen. Donnerwetter, haben eine famose Schrift, Herr Müller. Da ist Zug drin. Müssen übrigens mal dem Vater beizubringen suchen, daß er ein neues M–P anschafft. Das da ist ja viel zu klein. Sage Ihnen, bei der Weltfirma, wo ich lernte, war 'n Hauptbuch, wenn man da die Blätter umgewendet hat, ging 'n Sturmwind durchs Kontor, haha. Ist noch gar nichts. In Amerika soll's Hauptbücher geben, wo man vom Soll ins Haben wie 'n Cowboy reiten muß. Haha, stellen Sie sich einmal den alten Vater vor zu Pferd, den Lasso schwingend, daß er seine Buchhaltungsböcke einfängt, die er Tag für Tag hineinschmiert –«

»Herr Vater hat meines Wissens noch niemals eine falsche Buchung –«

»Nehmen ihn in Schutz, den alten Döskopp, das ist brav von Ihnen, lieber Freund. Er ist aber doch zu kleinlich. Hat keinen rechten Schmiß. Herrgott, in der Firma, wo ich früher war, da war 'n großer Zug. Waggonweise bezogen wir den Streusand aus der Sahara. Einmal ließ ich einen Wagen ausladen. Auf einmal springt 'n Löwe 'raus. Den hatten sie aus Versehen in der Wüste eingeschaufelt. Na ja, wir ihm nach. Hat sich in unsern Lagerhäusern verkrochen. Das ganze Personal mit Flinten ausgerüstet, jagte einen ganzen Tag vergebens – so groß waren unsere Lagerhäuser, hahaha.«

Ich lachte mit. Das letzte Stück vom heißen Blutbann vorhin lachte ich mir weg. Das Lachen ist mit siebzehn Jahren doch noch stärker als »mein lieber Schneck«.

Seßler wurde immer aufgeräumter. »Nein, lassen Sie das Konto Pfister nur mal aufschlagen. Wahrhaftig, 1318,22 seit drei Wochen überfällig. Und morgen wollt ihr ihn kalthundeschnauzig mahnen? Wissen Sie, was für einen solchen Alten eine Mahnung sein kann? 'n Herzschlag, schrumm, der Tod.«

»Aber Herr Seßler –«, sagte ich ängstlich.

»Sein kann. Sicher braucht's noch nicht zu sein. Sicher aber wäre, daß Sie das alles ordnen könnten –«

»Aber ich –«

34 »Jawohl, Sie, so jung Sie sind. Uebrigens, da fällt mir eine dolle Geschichte ein von einem kleinen Lehrling. Es war damals, als ich jenes Riesenhauptbuch führen mußte. Sie wissen doch, das jenen Sturmwind machte im Kontor, wenn es geblättert wurde? »Junge«, sag ich zu dem Knirps, »daß du mir nicht 'ran gehst an mein Hauptbuch, 's gibt 'n Unglück sonst, verstehste«. Natürlich geht er in der Mittagszeit doch 'ran. Ich, im Zorn, krieg' ihn im Genick zu packen und schmeiß ihn 'rein, auf Folio 268 347, glaub' ich, klapp das Hauptbuch zu und vergess' das Folio. Was aus ihm wurde? Je nun, erst bei der nächsten Inventur hat man einen roten Fleck gefunden auf Folio 268 347, das war alles, hahaha.«

Wieder lachte ich von Herzen. Nein, war dieser Seßler ein hinreißender Mensch. So wenn ich hätte reden können!

»So, jetzt nehmen Sie mal Ihre Feder, junger Freund. Der rote Fleck ist nämlich nicht zum Lachen. Stellen Sie sich vor, der alte Pfister täte sich was an infolge eurer blöden Mahnung. Stellen Sie sich vor, Sie müßten immer einen roten Fleck auf diesem Konto sehen, den Sie vermeiden hätten können. Na, nu tragen Sie mal ein. Nee, im Haben, nicht im Soll, Verehrter: Oktober 30. Per Zahlung – haben Sie?«

»Ja«, sagte ich mechanisch, traumbefangen die eingetauchte Feder überm Haben haltend.

»So lügen Sie doch nich', Verehrter. Keinen Strich noch haben Sie gemacht. Na ja, da schenkt man seine herrlichsten Krawatten her, läßt einen protegieren –«

»Herr Seßler, ich – ich –«

»'n Hasenfuß sind Se. Ihrem Onkel werd' ich's sagen, was er für einen jämmerlichen Angstmeier zum Neffen hat. Als ob das auch was wäre, was Sie machen sollen. Tragen Sie das Pöstchen heute ein. Verhindern so die miserable Mahnung morgen. Stornieren übermorgen wieder diesen Posten auf der andern Seite.«

»Geht das?« schnaufte ich.

»Warum denn nicht. Haben Sie von einem Storno nie gehört –«

»Jawohl«, schnurrte ich mechanisch, »Storno ist die 35 Wiederaufhebung eines falsch eingetragenen Postens durch Einsetzen auf die Gegenseite –«

»Na sehnse, übermorgen ist die öde Buchhalterei wieder stramm im Lot. Und bis im nächsten Vierteljahr die neue Mahnung käme, ist der Dreck ja längst bezahlt. Was noch nicht mal alles ist, Verehrter.«

»Was noch?« begann ich, wieder schnaufend.

»'ne prächtige Familie Pfister haben Sie übern Graben gebracht, jawoll, das haben Sie – also Oktober 30. Per Zahlung – haben Sie? Schön: Jetzt 1318.22. Na, man fix, schön, jetzt noch Kassafolio 48 – ich habe gestern nachgesehen in der Kassa unten – 's stimmt gerade mit 48 – haben Sie –«

»Herr Seßler, es ist doch – ist doch gar nicht in der Kassa.«

»Sehr richtig, junger Mann. Drum machen wir es übermorgen wieder 'raus, verehrter Hasenfuß. Herrgott –«

Er griff in die Westentasche. Er fingerte ein kleines blaues Viereck heraus. Ein gezacktes Viereck. Er schmiß es nachlässig auf das Konto Pfister.

»Herrgott, die versprochene Mauritius hätt' ich fast vergessen. Stecken se se ein.«

Ich steckte sie nicht ein. Ich verschlang sie mit den Augen. Herrlich leuchtete der Schatz mich an. Riesengroß wuchs er übers Konto. Jämmerlich klein nahm sich ein Kassenzeichen aus.

»Kassafolio 48«, diktierte Seßler zwingend.

»K.-F. 48«, schrieb ich folgsam. Wieder fing das Blut zu singen an. Drohend.

»So, jetzt woll'n wir aber gehen – Menschenskind, so stecken Sie doch die Mauritius ein – aha, acht Uhr – dort kommt der Hausverwalter Vogel schon, um alles zuzusperren – warten Sie, lassen Sie sich helfen, Ihren alten Schinken M–P in den Bücherschrank zu sperren – ja ja, verehrter Vogel, bis um acht hat er nachgearbeitet – ist ein fleißiger junger Mann, der Müller – kommen Sie – kommen Sie . . .«

Auf der Straße wurde er plötzlich einsilbig. Kaum daß er 36 auf mich achtete. Nur als er abbog, sagte er: »Die Mauritius zeigen Sie nicht her, die Leute sind so neidisch.«

Nicht sehen lassen? Zu dumm, was hat sie dann für einen Wert? Gleich nach dem Abendessen flog ich zu Onkel Frank hinaus. Er war nicht da. Seine Hausfrau hieß mich warten.

Da saß ich still in seinem Atelier. Es war mir nicht behaglich. Ich hatte reden wollen, immer reden, nicht allein sein. Ich schaute Onkels Bilder an. Lauter Gesichter waren es. »Ich male nur Gesichter«, pflegte er zu sagen, »und von diesen nur eine Gruppe.« – »Welche Gruppe?« – »Das werdet ihr schon selbst erkennen mit der Zeit.« Aber wie sie auch verglichen, sie erkannten's nicht. »Es ist nicht der Mühe wert«, sagten sie, »er hat ja keinen Namen und verkauft hat er so gut wie nichts.«

Da waren Bettler, Spieler, Tänzerinnen, Leute mit Zylindern, würdige Matronen, Lehrer, Gutsbesitzer, Viehhändler, alle Schichten der Bevölkerung. Sie hingen oder standen an den Wänden und schauten mich an. Ich hatte Zeit genug, ihnen die Blicke zurückzugeben. So verschieden wie die waren! Wie konnte Onkel Frank von einer Gruppe reden. Gemeinsam war da nicht ein Zug. Oder doch? Hm, um die Augen lag bei allen etwas merkwürdig Gespanntes. Was war das nur? Vielleicht brachte ich's heraus, wenn ich's nachahmte. Ich schaute in einen Spiegel. Ha, ich brauchte mich nicht anzustrengen, ich selber hatte diesen Zug. Und über meiner Schulter, hinter meinem Rücken, was für ein lebendiges Selbstbildnis von Onkel Frank, hu, es bewegte sich –

»Bub, schau mir mal ins Gesicht.«

»O Onkel Frank, ich hab' dich gar nicht kommen –«

»Ins Gesicht sollst du mir schauen, Bub, geradeaus!«

»Ja, Onkel, denk' dir, was ich in der Westentasche habe – die Mauritius.«

Er hörte gar nicht zu. Seine Kohle strichelte auf einem Stück Papier. Seine Lippen murmelten kaum hörbar: »Wieder einer . . . . wieder einer . . . .«

»Was hast du, Onkel?« sagte ich ängstlich.

»Wieder einer . . . wieder einer . . .«, murmelte er und strichelte an meinem Kopfe weiter.

Mir wurde schwül. Ich saß mit angepreßten Händen auf 37 dem Stuhle. War das der vergnügte Onkel Frank von gestern? Der zu Schelmenstreichen aufgelegte? War er in der Tat verrückt geworden. Oder war ich selber –

»Schluß. Da, Bub, schau dich an.« Er hielt mir die Skizze hin. »Kennst du dich noch, he, Bub?«

»Aber freilich, Onkel.«

»Den Zug da auch, he?« Er wies auf einen angespannten Zug ums Auge.

»Ich weiß nicht, Onkel«, sagte ich unsicher, »alle deine Bilder haben diesen merkwürdigen –«

»Stimmt. Du hast ihn nicht gehabt. Bis heute. Jetzt hast ihn auch. Bub, Bub, was ist mit dir, seit gestern abend?«

»Was soll sein – die blaue Mauritius hab' ich, das ist alles – schau doch, Onkel, schau!«

Eifrig fingerte ich die Marke aus der Westentasche. Er sah sie an. Er hielt sie an die Lampe. Er nickte traurig: »Wie du . . . wie du.«

»Wie ich?« versuchte ich zu lachen, »ich bin doch keine Marke.«

»Aber falsch.«

»Falsch?« zuckte ich zusammen.

»Ja, unehrlich, gefälscht, wie deine Mauritius!«

»Um Gotteswillen, Onkel, meine Mauritius sollte –«

»Ha, seine Mauritius! Nach sich selber frägt er nicht, haha!«

Bekümmert sah mich sein Gesicht an, auf dem der Schalk sonst wohnte. Da erkannte ich zum ersten Male, daß sein Schalk ein Mantel war. Daß ein furchtbar ernster Mensch darunter saß. Ein Mensch, der, unbekümmert um Erfolg und Ehrgeiz, fieberhaft an einem Werke, einem großen Werke Strich um Strich ansetzte. Ein Mensch, der –

»Setz dich her zu mir. Durch welchen Schwindel hast du diesen blauen Schwindel dir ergattert?«

»Oh Onkel, du glaubst wirklich, daß die Marke –«

»Ich glaube nichts, ich weiß. Erzähle.«

Da brach es in mir aus. Da fühlte ich, wie ich mich selber angelogen. Da heulte ich, bevor ich noch erzählen konnte. Er 38 ließ mich ausweinen. Er fuhr mir sacht übern Scheitel: »Und nun erzähl', damit wir's wieder ins Geleise bringen.«

Da erzählte ich. Stück für Stück. Nichts ließ ich aus. Auch nicht die beiden Küsse. Auch Kassafolio 48 nicht. Mit der Mauritius schloß ich knirschend: »Eine gefälschte Mauritius! Der Schuft, der!«

»Und du?«

»Ich – ich traute ihm, weil – weil ich auch wußte, daß – er mit dir verkehrte, Onkel.«

»Mit mir verkehren viele Schufte. Ich brauche sie. Zu meinen Bildern brauch' ich sie. Ich male alle Art von Schuftigkeit im Leben. Das ist meine Aufgabe. Auch euer Familientag hat mir Modell gestanden. Dich hab' ich ausgelassen, weil du nicht brauchbar warst. Ich hätte nicht gedacht, daß du mir sobald Modell –«

»Aber Onkel«, wehrte ich mich, »du übertreibst. Den Posten buche ich übermorgen doch zurück und –«

»Uebermorgen?«

»Also morgen Abend.«

»Morgen?«

»Aber ich kann doch heute nicht mehr –«

»Nein, heute kannst du schwindeln. Alles zu seiner Zeit, nicht wahr?«

Wieder stieg es elend in mir auf. Ein bitterer Schluck – der Knäuel war heraus: »Was soll ich tun, Onkel Frank?« sagte ich still.

»Was du tun sollst, weißt du längst: Seit einer halben Stunde ist der Zug ums Auge fort. Laß mich recht behalten.«

Freundlich hat er mich zur Tür geleitet. Einen Blick warf ich in die Bilderrunde rückwärts. Aus den Rahmen sah's enttäuscht auf mich. Ich straffte mich: Nein, keiner von euch will ich bleiben.

Dann ging ich in die Nacht, nach Hause. Mutter war noch auf. Sie sah mich prüfend an. Ihre Mienen wurden heller: »Du kamst mir heute Abend so verändert vor. Aber ich täuschte mich. Du bist der alte. Ich freue mich. Gute Nacht.«

»Mutter, ich muß morgen sehr früh ins Geschäft. Erschrick nicht, wenn du morgen aufstehst, und ich bin schon fort.«

39 »Dann nimm wenigstens dein Frühstück mit. Ich richte es dir her. Nein, wie ich mich freue.«

»Worüber, Mutter?«

»Daß du mein alter Fritz bist. Komm.« Sie gab mir einen Kuß. Das war der dritte heute Abend. Auch von diesem sang's im Blute, als ich wach in meinem Bette lag. Nur streckenweise kam der Schlaf. Erquickend war er nicht. Blaue Mauritien und Kassafolien flochten sich durch die Träume.

Um vier Uhr war ich aus den Federn. Um halbfünf Uhr glänzte mich das Firmenschild im späten Monde an. Ein kleiner Flecken war im Messing. Ich rieb mit dem Taschentuch. Der Flecken schwand.

Das Tor war zu. Ich wußte eine lose Planke und stand im Hof. Ha, da klapperte ein Fenster in der Morgenluft. Vogel, sei bedankt, daß du ein wenig lässig warst. Mauervorsprung, Dachrinne, Finsternis – ich stand im großen Saal. Licht war nicht nötig. Der Mond schien auf die Pulte. Tu dich auf, du Bücherschrank . . .

M–P rutschte willig auf das Pult. M–P schlug fast von selbst das rechte Konto auf. Die Blätter wölbten sich entgegen. So wie sich Küsse wölben. Diesmal war's der vierte. Der war der beste. Die Feder flog im Soll: Okt. 30. An Storno . . . 1318.22. Das Kontokorrent klappte zusammen. Ich tat's ihm nach. Bleischwer kam die Müdigkeit nach aller Aufregung. Ich schlich ins Warenlager. Hinter einem großen Farinfaß schlief ich ein. Tief und traumlos diesmal . . .

Ich erwachte, weil mir der Farindeckel auf den Kopf fiel. Sturmbrenner glotzte mich an: »Aeh, wollte nur mal kosten – äh, Farin fürs Leben gern – unter uns natürlich, nicht wahr, Herr Kollege – übrigens, der Vater sucht Sie droben, glaub' ich – noch 'nen Augenblick, Kollege: Mit dem Seßler soll's 'ne eklige Geschichte geben – hat einkassierte Gelder unterschlagen oder so was – sollten den Farin doch auch mal kosten, Herr Kollege –«

Ich flog hinauf. Der zappelige Dessauer kam mir entgegen: »Herr Vater ist im Privatkontor von Herrn Kramer. Der Seßler ist auch drin. Sie sollen eilen.«

Bleich stand ich vor Herrn Kramer. M–P war vor ihm aufgeschlagen. Hermann Pfister las ich. Herr Kramer nickte 40 mir ernst zu. Desgleichen tat Herr Vater. Dann wandte sich Herr Kramer an etwas Zusammengesunkenes auf einem Stuhle in der Ecke: »Herr Seßler, das ist das dritte Konto, wo Sie einkassierte Gelder unterschlagen haben. Und damit nicht genug. Sie versuchten auch, noch andere brave Menschen mit hineinzuziehen. Mit welchen Mitteln, will ich gar nicht erst untersuchen. Nur gut, daß der Betreffende die Angel noch im Beißen merkte und sie ausspie, wie ich sehe. Auch ich speie aus, Herr Seßler. Vor Ihnen. Sie sind entlassen.«

Aus der Ecke wimmerte es: »Und – und Sie wollen – wollen nicht dem Staatsanwalt, Herr Kramer –?

»Ausgespien sagte ich. Das bedeutet, daß ich auch durch einen Dritten Ihren Namen nicht in meinen Mund nehmen will.«

Dankwinselnd krümelte sich ein Mensch, der gestern göttlich war, zur Türe.

»Ihnen danke ich nochmals, Herr Vater, daß Sie durch die insgeheimen Mahnungen vor dem Termin die Unterschlagung aufgedeckt. Sie sind mehr als ein Buchhalter. Sie sind ein Menschenkenner. Sie, Herr Müller, bleiben noch einen Augenblick.«

Ich stand allein vor ihm. Er sah mich lange an. Dann auf einen kleinen Spruch über seinem Schreibtisch: Recht und treu. Ich wollte etwas stottern.

»Nichts erzählen«, sagte er ruhig, »ich kann mir alles denken. Ich bin kein Moralist. Von mir selber weiß ich, daß die Treue mit einem geboren wird. Aber die Rechtschaffenheit muß man sich erkämpfen. Die nichterkämpfte ist nichts wert. Ihr erster Kampf ist gut gegangen, Müller, wenn auch knapp vorbei. Ich freue mich darüber. Eins noch für die Zukunft: Sie haben Glück gehabt. Nicht immer bleibt zum Storno Zeit. Noch besser wird es sein, von Anfang an so zu buchen, daß kein Storno nötig wird. Es ist gut, Herr Müller – nun, Ihre Hand?«

Sie hatte halb gelähmt in meiner Westentasche gesteckt. Als ich sie herauszog und die seine drückte – und dankbar, ach so dankbar – blieb was kleben.

»Was ist denn das?«

»Eine – eine – eine blaue Mauritius – aber – aber eine falsche.«

41 Er betrachtete sie. »Ja«, sagte er lächelnd, »und auch sonst defekt: die Zähne sind ihr ausgebrochen – hoffentlich für immer, Müller?«

Ich getraute mich nicht, ihm in sein gütiges Gesicht zu blicken. Ich sah dafür den Spruch an. »Recht und treu«, flammte es strenge überm Schreibtisch. »Ja, Herr Kramer«, gelobte ich.

 


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